Dies ist der achte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7)
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7.04.2020
Nabard, Bonn
Mein erster Tag in “Freiheit”. Meine erste Woche als gesunder Mensch. Ich gehe nach Wochen wieder einkaufen und sehe die Menschen sich plötzlich anders verhalten. Als würde eine unsichtbare Hand der Angst über sie alle liegen von der ich mich irgendwie befreit fühle. Sofern das Virus den Regeln der Immunologie, Physiologie und Biochemie folgt, was es tut, haben diejenigen die daran erkrankt waren und nun gesund sind, eine Immunität entwickelt. Bis zu dem Zeitpunkt wo es mutiert und sich anpasst.
Aber jetzt werde ich in die Stadt fahren, zwei Termine wahrnehmen. Im Rewe einkaufen. Veganes Eis hat mir meine Schwester empfohlen. Morgen darf ich wieder ins Krankenhaus, lernen, praktizieren, helfen. Die Ärzte freuen sich das ich gesund wiederkomme. Ich freue mich dass sie alle gesund geblieben sind.
Marie Isabel, Dunfermline
Ich unterhalte mich mit einem befreundeten Autor über das Wesen des Erinnerns. Darüber, dass wir uns wundern, wie wenig wir oftmals erinnern, von einem Raum, einer Begegnung, einer Reise, auch weil sich Manches im Leben erst viel später als bedeutsam erweist. Dass es Momente gibt, in denen unerwartet und überwältigend lebhaft Erinnerungen in uns auftauchen, von denen wir gar nicht mehr wussten, dass wir sie haben. Dass eben diese schweigenden, zurückhaltenden Erinnerungen dennoch in uns fortarbeiten, uns vielleicht leiten, vielleicht aber auch Unsinn treiben.
Wie werden wir die jetzige Zeit erinnern, in ein paar Monaten, Jahren, Jahrzehnten? Als Zeit der Angst? Der Entblößung von Lücken und Lügen im System Kapitalismus? Der zunehmenden häuslichen und staatlichen Gewalt? Der Großzügigkeit und unerwarteten Hilfsbereitschaft? Der Hilflosigkeit? Der unbändigen Kreativität? Des Muts? Der erzwungenen, genossenen, verhassten Intimität? Des Verzichts? Des Erstarkens nationaler Egoismen und Reflexe? Der Polarisierung? Der Solidarität? Als Zeit, in der wir ernsthaft darüber diskutieren, ob es erlaubt ist, allein im Park auf einer Bank zu sitzen und ein Buch zu lesen (schon immer ein subversiver Akt). Und wie werden verschiedene Altersgruppen sich erinnern? Kinder, die jetzt gern mit Altersgenoss:innen spielen würden, die Fremden noch weiter aus dem Weg gehen müssen als sonst, und die andererseits erleben dürfen, wie das ist, wenn Mutter und Vater oder Mutter und Mutter oder Vater und Vater oder nur Mutter und nur Vater den ganzen Tag unter der Woche daheim sind, vielleicht noch weniger entspannt und müder, dafür aber, zumindest, anwesend.
Zukünftige Erinnerung spielte auch in der Rede der englischen Königin eine Rolle, die dieses Wochenende ausgestrahlt wurde. Je länger ich ihr zuhörte, umso weiter rückten ihre Worte in die Vergangenheit zurück: “I hope that in the years to come, everyone will be able to take pride in how they responded to this challenge. And those who come after us will say the Britons of this generation were as strong as any, that the attributes of self-discipline, of quiet, good-humoured resolve, and of fellow feeling still characterise this country. The pride in who we are is not part of our past. It defines our present and our future.” [Cut zu Bildern von Menschen, die vor ihren Häusern auf der Straße und in Supermärkten applaudieren und zu Bildern von Kinderzeichnungen mit Regenbögen, die in den letzten Wochen überall im Land an den Fenstern aufgetaucht sind.] Und die Stimme der Königin kommentiert: “The moments when the United Kingdom has come together to applaud its care and essential workers will be remembered as an expression of our national spirit. And its symbol will be the rainbows drawn by children.”
Die Rhetorik des Nationalen und des Stolzes ist bekannt, und ich finde sie ermüdend. Von den evozierten Tugenden – besonders dem ‘fellow feeling’ – hätte ich mir nicht nur als Einwanderin in dieses Land viel mehr gewünscht während der Brexit-Debatten der letzten, zermürbenden Jahre. Werden die Gräben, die während dieser Zeit aufgerissen sind, durch die Pandemie kleiner werden? Ehrlich gesagt, ich bezweifle es, aber ich lasse mich gern positiv überraschen. Am Ende berühren mich die Worte der Königin dann doch noch, wenn hinter dem jahrzehntelang trainierten Gesichtsausdruck der royalen Rolle die Mutter, Großmutter, Urgroßmutter aufscheint: “We will be with our friends again; we will be with our families again; we will meet again.“
Fabian, München
Etwas „Tolles“ an der Situation ist die Nicht-Verfügbarkeit eines Fail-Safes – zu viele Variablen, möchte man’s auf ein Bonmot runterbrechen; und natürlich, es ist gleich schön wie die Feststellung banal scheint, dass die, soweit von hier aus sichtbar, funktional ausdifferenzierten, man verzeihe den Luhmann-Kalauer, Gesellschaften „der“ Welt die Kontingenz (neu) direkt proportional mit der Neuheit aller möglichen Details, umständehalber, bewältigen. Nichts besonderes, aber schön zu beobachten, wie sich die aus der Historie gezogenen Theorie-Ansätze und ihre im beobachtenden Bewusstsein soweit festgesetzten Fragmente real in Szene gesetzt sich zu bestätigen scheinen, unter, versteht sich, dem Vorbehalt der immer beschränkten Reichweite des sinnbildlichen Auges und dem Fallstrick eines gewissen Zynismus, wenn man, so weit entfernt, darüber hinwegsieht, dass die Kontingenzbewältigung mit realen Kosten (von Menschenleben, ökonomischen Werten, im weitesten Sinne, Existenzen, oder was immer man mit dem geringen Abstand, der zur Verfügung steht, dafür hält) einher, mindestens, geht, während sich reale Gewinne aus der Krise, wenn überhaupt, noch gar nicht abschätzen lassen, und ohnehin noch, mit merklicher Breitenwirkung, kaum jemand bis niemand über Bedingungen nachzudenken scheint, die über die Wechselwirklichkeiten der Sicherung menschlichen Lebens mit „dem“ empirischen Gespenst „der“ Wirtschaft hinausgingen. Schade eigentlich, oder bloß zu früh, um da mehr zu sehen, als die aus der Zukunft der Krise herüberwehenden Symptome eines, mit Mark Fisher, kapitalistischen Realismus ohne Alternative – von den verschwurbelten bis schlicht und einfach „zu“ reduktiven Utopien aus einer längst vergangenen Zeit vor drei Wochen ganz zu schweigen, die da und dort aufploppten, um inzwischen aber wieder völlig das Feld den möglichst kurzsichtigen Forderungen der üblichen wirtschaftsliberalen Mahner überlassen zu haben.
Janine, Flensburg
Seit Wochen gehen wir so selten vor die Tür wie möglich. Man sieht es auch am Inhalt des Wäschekorbs. Ausschließlich Zuhause- und Schlafklamotten. Baumwolle, Fleece. Kindische Farben. Muster wie Pünktchen, Streifen, Sterne, Häschen. Der befüllte Wäscheständer schließlich sieht aus wie ein Symbolbild für „Waschtag in der Clownsschule“.
Slata, München
Jetzt irgendwie runterfahren, sich beruhigen, nur keinen Druck. Die Diss muss nicht diesen Monat schon beendet werden, der nächste Lyrikband muss nicht bis Ende der Quarantänezeit geschrieben sein, keine Lesungen, Gott bewahre, ein übersichtliches Leben also abseits grandioser Pläne. Entzugserscheinungen werden sichtbar, zitternde Hände, pulsierende Augen, es fehlt die tägliche Dosis Erfolgsdenken und Konkurrenz. Ich versuche mich an den Kürbispflänzchen zu orientieren, an den Sonnenblumenkeimlingen auf dem Balkon, sie wachsen langsam, Geduld, Geduld nur, Aufmerksamkeit und Zuversicht, gar nicht im moralischen Sinn, als praktische Sentenz oder Spiritualität, nein, ich meine es völlig sachlich, ich will am Ende dieser Zeit dazu kommen, mich, nur an sich, ohne alles, was ich machen sollte, könnte, mich nicht weniger wertvoll als diese Keimlinge auf dem Balkon zu schätzen.
8.04.2020
Sarah, München
Es gibt Dinge, die lassen uns nicht los. Ich meine nicht Traumata. Ich meine Passionen, Obsessionen, Faszinosa. Dinge, Ereignisse, die uns an irgendeinem Moment in der Kindheit packen und ab diesem Moment können wir nicht mehr von ihnen lassen. Für mich sind das Pflanzen und Insekten. Und nun trägt mich diese Passion durch dieses merkwürdige Corona-Frühjahr. In allen möglichen Näpfen und Töpfchen keimt und wächst es. Ich taste mich vor von den sicheren, vertrauten Projekten, der altvertrauten Tomatenzucht von einem halben Dutzend Pflanzen zu verwegenen Experimenten. Wassermelonen und mexikanische Minigurken (von denen ich noch nicht einmal weiß wie sie aussehen und schmecken werden), die nun in der Wärme von Plastikhüllen das Licht der Welt erblicken bestaune ich. Und ich bin mir nicht sicher, wer hier wen mehr päppelt. Jeden Morgen gibt es ein neues Blatt zu bestaunen, hat sich eine weitere Ranke gebildet. Die Zeit geht voran, sie bleibt nicht stehen. Die Pflanzen sind ein gewachsenes Kalendarium. Sie werden Früchte tragen. Vielleicht nicht genießbar. Wassermelonen in Deutschland sind eine wirklich merkwürdige Idee und wahrscheinlich geht es schief. Aber das macht nichts. Nein, es scheint mir geradezu unwahrscheinlich, dass dieser äußere Stillstand eine schmackhafte, süße Wassermelone hervorbringen kann. Aber Wachstum. Ranken. Blätter. Stille Bewegung. Trotzdem.
Jan, Hannover
Die Stadt um mich herum fühlt sich an wie ein Anzug, der zu weit geworden ist. Wie ein verlassener Badeort im Winter, in dem nur noch die mürrischen Einheimischen durch eine Kulisse schleichen, die für die Belustigung aufgekratzter, längst abgereister Besuchermassen ausgelegt ist. Geschlossene Geschäfte und Cafés warten hinter dunklen Schaufensterscheiben auf neue Gäste, neues Leben im Sommer. «Locktown», schrieb Oli Grimm (@freikampf) heute morgen auf Twitter. Mir schwirrt oft die Melodie von «Everyday Is Like Sunday» durch den Kopf, wenn ich durch das Viertel laufe, «the seaside town that they forgot to bomb». Auch wenn ich Morrissey nicht mehr hören mag.
Die Stimmung in der Stadt ist eigentümlich und ich möchte sie mit meiner Kamera einfangen, aber es gelingt mir nicht. Es fällt mir schwer, die Abwesenheit von etwas festzuhalten, und manchmal, zu selten ist mir das früher geglückt. Jetzt aber schieße ich Bilder von vollendeter Banalität und Langeweile, die ich später am Rechner wieder lösche. «Everyday is silent and grey», Pixel Edition.
Ich lebe in keinem Badeort, nicht an der See. Früher versuchte ich mir manchmal mit geschlossenen Augen vorzustellen, das Rauschen des Verkehrs auf dem nahen Kreisel wäre das Meer oder ein Hafen, vergebens. Doch selbst der Kreisel ist jetzt still geworden, auch das sonst so beständige Hupen und Bremsenquietschen der aufgeregten Autos (Deutsche können keine Kreisel) ist nahezu verstummt. Ich sitze auf dem Balkon und genieße die Sonne, die ihr warmes Licht großzügig über den beinahe leeren Parkplatz des Callcenters ausgießt. Aus der Ferne weht die abgehackte Stimme des Mannes herüber, der mit einem Megaphon die Kundenschlange vor dem wiedereröffneten Baumarkt durch einen improvisierten Kordon aus Europaletten, Malerböcken und Flatterband dirigiert. Wie in einem Flashmob mit Sicherheitsabstand versammeln sich die Bohr- und Bastelfreudigen vor der mächtigen orangefarbenen Heimwerkerkathedrale, als wollten sie ein Statement abgeben: Wenn nicht mehr geschraubt und gedübelt wird in diesem Land, hat das Virus schon gewonnen.
Locktown.
— Raubtier den Atem – Herr Grimm (@freikampf) April 8, 2020
Sandra, Berlin
Ich habe eine sehr sehr schlechte Serie von Anfang bis Ende gesehen (Unorthodox).
Ich habe Eis gegessen (Affogato, Vanilleeis in Espresso).
Ich habe versucht zu arbeiten (Wirklich?).
Ich habe wirklich versucht zu arbeiten.
Ich hatte einen Lachkrampf und zwei Wadenkrämpfe.
Ich habe ein bisschen geweint.
Ich habe im Supermarkt analog-Pac-Woman gespielt.
Ich habe Nachrichten geschaut gehört gegessen gestreamt geträumt.
Ich habe von DIY-Mundschutz-Tutorials gealbträumt.
Es ist Frühling, und mir ist nach Winterschlaf.
Und was ich im Übrigen noch sagen will:
Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten. Ich will einen Garten.
[da capo al fine]
Janine, Flensburg
Am späten Abend erst zum Hundestrand, dann zur Schusterkate gelaufen, dem einzigen unbewachten Grenzübergang zwischen Deutschland und Dänemark seit Wiedereinführung der Einreisekontrollen 2016. Doch auch hier kommt man nun nicht mehr rüber, die Brücke ist über ihre gesamte Länge im Zickzack mit rot-weißem Band abgesperrt.
Auf der anderen Seite sieht man schemenhafte Gestalten, dänische Polizei, die sich mutmaßlich langweilt, ab und zu blitzt der bläuliche Screen eines Smartphones auf. Hinter ihnen, unsichtbar in der Dunkelheit, führt der im letzten Jahr fertiggestellte Wildschweinzaun aus dem Kollunder Wald hinaus und etwa zwanzig Meter in die Ostsee hinein. Der Zaun soll ein Bollwerk gegen die Afrikanische Schweinepest sein, Anfang Februar gab es noch einen Protestmarsch von Bürger*innen diesseits und jenseits der Grenze, in den Zaun wurden Plastikrosen gesteckt, aber darüber spricht gerade niemand mehr.
Am Strand sitzt eine Gruppe Jugendlicher und trinkt Alkohol. Sie machen mich wütend, weil sie mindestens zu fünft sind und natürlich null Komma null Abstand zueinander halten, gleichzeitig tun sie mir leid, weil sie wahrscheinlich ihre Gründe haben, kurz vor Einbruch der Nacht noch hier zu sein. Schätze, zuhause ist es beschissen und war es auch schon vor Corona.
Marie Isabel, Dunfermline
Ich möchte Zug fahren. Ich laufe zum Bahnhof und nehme die erste Verbindung, die kommt. Richtung Edinburgh. Es sitzt kaum jemand im Wagen. Eine Frau, die wippenden Kopfes Musik hört. Ein älterer Mann in dunkelgrauer Jacke. Draußen ist es dunkel. Schon spät. Als der Zug die Querung des Firth of Forth erreicht, schweben wir einen Moment lang über dem Wasser. Ein weiter Raum öffnet sich. Lichter an beiden Ufern senden Lebenszeichen. Da ist noch jemand wach. Menschen in kleinen oder größeren Häusern. Mit und ohne Garten. Alle gemeinsam allein. Ich schließe die Augen. Höre dem Räderschienenrattern zu. Es ist jetzt kälter als mittags, da die Sonne weiß und warm aus blauem Himmel schien, so als sei Sommer und wir hätten alle frei, so als könnte ich einfach zum Bahnhof laufen und Zug fahren, weit in dieses schöne Land hinein, und aus der Nacht in den Morgen, der doch unweigerlich auf das Heute folgen muss, und auf den ich jedesmal hoffe, wenn es dunkel ist, und ich die Augen schließe.
Svenja, Köln
Corona ist seit dreimal Müll runter bringen. Seit 23 mal wischen. Seit 48 mal Zähne putzen (nach dem Duschen muss man immer auch Zähne putzen). Corona ist seit 13 Dosen Kidneybohnen, seit sechs Brokkoliköpfen, seit 4 Paketen guten Humus aus dem türkischen Supermarkt und 3 Paketen schlechten Humus aus dem REWE. Seit Corona habe ich 13,47 Stunden Hörbuch gehören, 57 gedruckte Seiten gelesen und 147 digitale, aber manche habe ich auch überflogen. Ich habe sechs Fenster geputzt, 13 Serienfolgen gesehen, zweimal die Wäsche zum Waschsalon getragen und eine neue Zahnbürste gekauft. Ich habe zwei Arzttermine abgesagt und einen wahrgenommen. Ich saß 37,2 Stunden vor Zoom und habe 24 Stunden lang Skype benutzt, ich habe 14 Menschen angerufen und drei Anrufe nicht beantwortet, 2 Nachrichten nicht gelesen, aber 6245 Zeichen in SMS geschrieben und es ist immer noch Corona.
Ich habe über drei Autorinnen gelesen und mir ihre Namen aufgeschrieben. Meine Ordner haben jetzt auch welche: Archiv 2009–2011, 2011–2015, 2017–heute. Ich habe drei T-Shirts aussortiert und einen Brief beantwortet, zwei geschrieben, eine Postkarte bekommen und den Pfand weggebracht. Ich habe versucht meine Augenbrauen wachsen zu lassen. Ich wollte auch etwas Wildes im Gesicht, etwas, das die Ausnahme markiert, aber auch ein bisschen auf mein Potential als Nachdenkerin verweist. Am Anfang habe ich mir vorgenommen, einen strengen Plan zu haben, gut aufzupassen, jeden Tag etwas mit dem Körper zu machen, dass ich ihn nicht vergesse in der Stille. Ich habe eine Absage bekommen und hätte noch einen zweiten Brief geschrieben, aber dann ließ ich ihn liegen bis es wieder hell war und dann kam er mir albern vor.
Seit Corona habe ich 171 Stunden geschlafen und fünf Bilder von meinem Gesicht gemacht, aber sie haben mir alle nicht gefallen. Auf meinem Gesicht sind 48 neue Sommersprossen, die mag ich aber. Seit Corona hatte es 179,1 Stunden Sonne, kein Eis und keinen Schnee, aber 12 Tage mit Niederschlag. Ich war fünf Mal in Begleitung spazieren und den Rest alleine. Es hat mir gut gefallen, wenn ich unterwegs Fische oder Vögel oder Hunde gesehen habe. Einmal stand ich sehr lange vor einem geschlossenen Kosmetiksalon und betrachtete die zurückgelassenen Fische im Aquarium. Sie kamen mir außerordentlich schön und bunt vor, vielleicht gehört sich das so für Kosmetiksalonfische. Sie machten mürrische Gesichter, vielleicht weil sie wussten, dass sie jetzt lange niemand mehr betrachten würde und dann gab ich mir besonders viel Mühe.
Vor zwei Wochen kam ein Paket für einen Nachbarn. Ich hatte es angenommen und auf ihn gewartet. Als er nie kam, stellte ich es in den Flur und jetzt steht es seit zehn Tagen auf der Fensterbank. Manchmal drehe ich es um, sodass man die Anschrift richtig lesen kann, aber jemand im Haus dreht es immer zurück. Ich habe seit 39 Tagen niemanden mehr geküsst, aber das ist nicht die Schuld von Corona.
9.04.2020
Tilman, Hamburg
Am Dienstag war ich zu einem Termin beim Landgericht Hamburg. Im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit kann jede*r Richter*in selbst entscheiden, ob verhandelt wird oder nicht.
Das ganze Landgericht ist ausgestorben. An der Tür – klassischerweise müsste man Pforte sagen – hängt ein Zettel, dass man wegen Corona und doch bitte nur, wer unbedingt muss usw. Ich schlendere also durch ausgestorbene Gänge und warte vor dem Sitzungssaal. Es findet nur ein Termin statt an diesem Tag, in diesem Raum. Der Fall an sich ist unspektakulär und aufgrund der Vorgeschichte gehe ich davon aus, dass der Gegner nicht erscheint.
Ein junger Richter kommt vorbei grüßt nett, wir stellen fest, dass wir gleich gemeinsam verhandeln und der Gegner wohl nicht erscheint. So ist es dann auch. Der Termin ist daher entsprechend kurz, es sind nur wir beide. Es ergeht Versäumnisurteil. Warum er denn heute verhandelt, möchte ich vom Richter wissen, denn eigentlich lief der Prozess bisher über den Tisch einer Kollegin, die auch den Termin angesetzt hat. Die Kollegin ist in Quarantäne, sagt er, Kontakt mit einem Coronapatienten. Ich schlendere durch das leere Landgericht nach draußen und gehe mit R. Spaghettieis essen und Knackfolie knacken.
Matthias, Jena
Vorgestern hatte ich den zweiten Tag in Folge leichte Atemschwierigkeiten und Schmerzen in der Brust. Natürlich habe auch ich von den atypischen Covid-Verläufen gehört, bei denen außer unklaren Schmerzen keine Symptome auftauchten, und mir entsprechend Sorgen gemacht. Ich bin kurz vor 12 zum Hausarzt; um 16 Uhr hatte ich mehrere ausführliche Arztgespräche, EKG, Thoraxröntgen und Lungenfunktionsprüfung hinter mir und auf Verdacht auch schon einen Asthmainhalator bekommen. Wenn die Radiologiepraxis nicht am anderen Ende der Stadt gewesen wäre, wäre es schneller gegangen. Es wurde nichts diagnostiziert außer einer leichten Überblähung der oberen Lunge; ich solle wiederkommen, falls es schlimmer wird oder anfallartig auftritt. Ich befürchte, es ist irgendwie psychosomatisch. Vielleicht ein Selbstverstärkungsphänomen, weil man aktuell mehr auf seine Atemwege achtet? Mir ist es alles recht peinlich, aber zuhause bleiben mit Brustschmerzen wollte ich in Zeiten einer Lungenseuche nun auch nicht.
Heute, Gründonnerstag, Ostereinkäufe. Das Konsumverhalten ändert sich – ich habe zum ersten Mal überhaupt relevante Mengen auf dem Wochenmarkt eingekauft. Alles war zu bekommen. Es nötigt mir Bewunderung ab, wie gut offenbar sehr vieles weiterhin funktioniert, Gesundheitssystem, Lebensmittelversorgung, Nahverkehr.
Und natürlich alles mit Maske, die Pflicht gilt in Jena seit Montag quasi in allen öffentlichen geschlossenen Räumen, die man noch betreten darf. Eine ganz neue Erfahrung ist es, über Stunden hinweg den eigenen Atem zurückgeworfen zu bekommen. So rieche ich also, wenn ich Kaffee getrunken habe? Auch das ist mir peinlich.
Was ich beruhigend und hoffnungsvoll finde, ist, dass an allen großen und kleinen Baustellen der Stadt weitergebaut wird. Teils sogar mehr, schneller und früher als vor der Pandemie, da man die Zwangspause ausnutzt. Wenn der Ausnahmezustand wieder vorbei ist, hat Winzerla eine neu angelegte Kinderrutsche und renovierte Wasserläufe und Jena ein neues Bootshaus – und wer weiß, was noch alles fertig wird. Es weiß ja niemand, wie lange es alles dauert, aber dass weitergebaut wird, ist ein überall sichtbares Zeichen dafür, dass an eine Zukunft geglaubt wird, in der es wieder eine nicht-elektronische Öffentlichkeit gibt, und das ist keine Selbstverständlichkeit mehr.
Sarah, München
Ein erster Einkauf mit Maske. Eine selbstgenähte, bei ebay gekauft. Die Gummibänder sind zu eng. Sie schneiden in die empfindliche Haut hinter den Ohren, zuerst nur ein Ziepen, steigert es sich in wenigen Minuten in einen Schmerz, der es mir schwer macht, mich zu konzentrieren. Und plötzlich steigt eine Wut in mir hoch, die mich völlig überrumpelt. Ich sehe mich die Maske herunterreißen und mich schreiend auf die beigefarbenen Fliesen des Supermarktes schmeißen. SO EINE VERFICKTE DRECKSSCHEISSE! Möchte ich auf einmal schreien. Jetzt. Hier. Ganz plötzlich. Ich bezahle, obwohl ich höchstens die Hälfte der Dinge zusammengesucht habe, die ich kaufen wollte, stürze zu meinem Auto, schmeisse den Einkauf in den Kofferraum und steige ein. Das Gummi zerreißt, als ich mir die Maske herunterzerre. Ich haue auf das Lenkrad, das kurz und erschrocken aufhupt. “SCHEISSE!” schreie ich endlich wirklich. Und nochmal “VERDAMMTE SCHEISSE!”. Es ist nicht ganz so befreiend, wie ich es mir im Supermarkt vorgestellt habe. Aber es hilft ein wenig. Dann starre ich für ein paar Minuten aus der Windschutzscheibe auf die noch kahle Parkplatzbepflanzung. In München kommt das Frühjahr immer später als im Rest von Deutschland. Ohne die Blätter ist der braune Rindenmulch besonders Trist. Die Maske. Sie hat sich am Schaltknüppel verfangen. Das Gummiband lässt sich ganz leicht wieder zusammenknoten, was ich auch gleich tue. Schuldbewusst. Warum diese Wut? Warum habe ich das vorher nicht gemerkt? Ich lege die Maske in meine Tasche, vorsichtig gefaltet, was eigentlich gar nicht meine Art ist. Meine Taschen ist immer ein Sammelsurium aus Zetteln, Müll und Fundstücken, wie Steinchen oder verlorenen Knöpfen. Ich positioniere die Maske noch einmal sorgfältig, als legte ich sie in ihr Bettchen, bis zum nächsten Mal. Verdammte Scheiße.
Shida
Liebes Tagebuch, endlich vertraue ich es dir an, denn ich habe herausgefunden, dass es alle machen: Ich hatte Besuch. Ehrlich gesagt schon ganze vier Mal. Ich schwöre, wir saßen nur draußen (nur möglich weil immer noch Exil auf dem Land dank fetter Privilegien), wir hielten Abstand, wir hatten zwischendurch sogar Mundschutz an, wir haben uns wirklich Mühe gegeben. Erst konnte ich deswegen nicht schlafen, dann fand ich es schön, dann lud ich neue Menschen ein (die verabschiedeten sich allerdings mit den Worten „Es war sehr doof“, vermutlich, weil es wiederum ihr erstes Mal war).
Ich bin so verflucht regelkonform, wenn Merkel sagt „Bitte soziale Distanz wahren“, dann bin ich die erste Person, die zwei Minuten später alle Verabredungen absagt. Ich habe nicht gewusst, dass es so viele Menschen gibt, die gar nicht nur mit ihrer allernächsten Isolationsgruppe abhängen, sondern zwischendurch andere Leute treffen. Aber alle auf dem Land machen das! Wenn man einmal anfängt, sich zu outen, geben alle es zu! Sie treffen sich heimlich! Pah! Erwähnenswert finde ich das übrigens nur, weil es so unglaublich schön zu durchschauen ist, wie sich alle dabei an irgendwelchen Entschuldigungen und Erklärungen festklammern und wie ich selbst vorne mit dabei bin. Wie wir in der Sonne sitzen, Kuchen essen und uns aufzählen, dass wir wirklich gesund sein müssen, denn wir sehen ja wirklich niemanden und gehen nur einmal die Woche einkaufen und waschen uns dauernd die Hände undsoweiter. Das sind tolle, beruhigende Gespräche, in denen wir uns gegenseitig die Absolution geben, perfekte Ausnahmen füreinander zu sein. Unangenehm wird es, wenn wir dann feststellen, dass wir die Grenzen doch irgendwie alle vollkommen unterschiedlich setzen. Ich am äußersten Rand (fasse Tassen für Gäste nur mit Tüchern an, rühre sie dann nicht mehr an, ziehe von mir berührte Kannen und Messer wieder aus dem Verkehr), die anderen am anderen äußersten Rand (die Kinder wird man ja wohl noch abknutschen dürfen! Nur noch einmal, nur noch mal kurz, Kinder husten doch sowieso immer!). Äh, Leute, so geht das eigentlich nicht, ihr müsst das doch alle so wie ich machen, denke ich hinterher und weiß auch, dass alle das gerade denken. Alle denken gerade, sie machen es genau richtig und wenn man einmal anfängt, aufzuzählen, was man gelesen hat und deswegen ganz genau weiß, dass man es ganz richtig macht, dann entspinnt sich das dreißig Millionste, langweiligste Gespräch unter Hobby-Virulog:innen, die vor einem Monat nicht mal wussten, was Virulog:innen sind. Ich halte mich auch stur an meine eigenen Erkenntnisse. Zum Beispiel daran, dass es DER Virus ist und nicht DAS Virus. Vor drei Wochen hat mich jemand zum ersten Mal darauf hingewiesen, dass ich das falsch mache. Schockierend, was man in einunddreißig Jahren auf der Welt immer noch nicht gewusst hat. Ich weigere mich trotzdem, mich zu korrigieren. An irgendwas muss man doch stur festhalten dürfen, bitte. Lasst mir den Virus.
Fabian, München
Grade ist es schwer, einen Gedanken zu fassen, oder nicht in Bedeutungsschwere abzugleiten, die, als befände man sich gewissermaßen an einem Scheidepunkt, gewissermaßen mehr Zeit einnimmt, im Alltag, oder was der immerhin nur halbe Arbeitstag davon übrig lässt.
Abgesehen davon, dass ein Teil dieser Tage jetzt im Homeoffice verbracht werden, hat sich daran nichts geändert, im Grunde, dass sich die Tage, die Nachtzeiten, schlafenderweise, nicht mitgezählt, in zwei Teile reißen, deren Einheit die Arbeit enthalten, die ich gerne mache, und einen meistens diffusen Rest. Das heißt, um nicht zu sagen, der Ausnahmezustand habe sich normalisiert, dass seine alles außer gewöhnlichen Elemente sich soweit in das Denken darüber integriert haben, dass das Nachdenken über die Außergewöhnlichkeit der Umstände und Maßnahmen sich an der Außergewöhnlichkeit der Maßnahmen und Umstände nicht mehr über die Perspektive hinaus stören, an der sie schließlich enden, gerade weil alle Aussagen, die darüber gemacht werden, noch so vage sind, notgedrungen.