Wenn ein Autor neun Jahre nach seinem literarischen Debüt erst seinen zweiten Roman veröffentlicht, liegen zwei Reaktionen nahe. Man fragt sich vielleicht erstens, warum es so lange gedauert hat und man ruft sich zweitens noch einmal ins Gedächtnis, was es mit dem damaligen (ersten) Roman auf sich hatte. Die erste Frage lässt sich vermutlich leicht beantworten. Das Hildesheimer-Urgestein Thomas Klupp unterrichtet seit 2007 an dem Institut, an dem er selbst den Studiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studierte, und es ist somit naheliegend, dass er mehr damit beschäftigt ist, anderen das Schreiben beizubringen als selbst zu schreiben, warum auch nicht? Die zweite Frage, worum es denn im 2009 erschienen Paradiso noch einmal ging, ruft zunächst Erinnerungen an eine Roadnovel hervor: Alex Böhm will per Mitfahrgelegenheit zum Münchner Flughafen und landet schließlich nach vielen Irrwegen in seinem oberpfälzischen Heimatort Weiden und verschwindet beinahe holden-caulfield-mäßig im Roggenfeld. Soweit so gut. Wie wurde dieser Roman damals aufgenommen, fragt man sich als nächstes. Also noch einmal eine Rezension zu Thomas Klupps Erstling aus den Tiefen des Internets hervorgeholt. Dort heißt es:
„Klupp versteht sein Handwerk. „Paradiso“ enthält alles, was ein gebrochener Ich-Erzähler auf der Suche nach sich selbst braucht: Provinz, Pubertät, Pickel. Es geht um Frauen und Drogen, um Weltekel und um literarische Erfahrungen.“
Hier könnte man zum ersten Mal stutzen, denn auch in Klupps neuem Roman Wie ich fälschte, log und Gutes tat (Berlin Verlag, 2018) erzählt ein junger Ich-Erzähler, 16 Jahre alt, von seinen pubertären Problemen in der Provinz. Pubertäre, männliche Ich-Erzähler haben immer Probleme mit Frauen und Drogen in der Provinz. So eben auch Klupps neuer Protagonist Benedikt Jäger. Er ist wie gesagt 16 Jahre alt, spielt sehr gut Tennis, nimmt Drogen und hat seit Neuestem eine Freundin. Zumindest sind die beiden zusammen, was in diesem Fall heißt, sie will, dass alle denken, sie habe einen Freund, weswegen sie und Benedikt ständig sichtbar knutschen.
Fälschen und Vorspielen – Alles ist fake
Und damit sind wir auch schon bei dem Hauptthema des neuen Romans: das Fälschen und Vorspielen. Benedikt Jäger, den seine Freunde häufig Dschägga nennen, ist ein Meister des Lügens und Fälschens. Er fälscht nicht einfach nur Unterschriften seiner Eltern auf Klassenarbeiten, er fälscht sogar die Klassenarbeiten, nachdem er sie zurückbekommen hat, um seinen Eltern gute Noten präsentieren zu können und entwickelt sich dabei zum regelrechten Profi im Fälschen. Aber immer der Reihe nach. Benedikt Jäger lebt in – na, wo? – richtig, in Weiden in der Oberpfalz, er geht auf das Kepler-Gymnasium und spielt sehr erfolgreich Tennis. So erfolgreich, dass er und seine Mannschaftskameraden lokale Berühmtheiten werden und für eine Antidrogenkampagne auf Plakatwänden herhalten müssen. Das ist natürlich auch nur Fassade, da die Jungs selbstverständlich in der Provinz-Disse Butterhof saufen wie die Löcher, kiffen und gelegentlich auch ein bisschen Crystal Meth rauchen – bayrisch-tschechisches Grenzland eben. Peu à peu schält sich aus dem narrativen jugendlichen Gelaber von Benedikt heraus, worum es in dem Roman geht: Alle in Weiden, vom Protagonisten selbst, über den Besitzer der Dorfdisko, Crystalmäx (!), über die Mutter des Protagonisten, bis hin zum Kepler-Gymnasium, haben eine perfekt glänzende Fassade, hinter der es ganz anders aussieht: alles ist fake. Crystalmäx gibt sich als Wohltäter und kassiert Spenden für Wohnungen für Geflüchtete, während er Drogen schmuggelt und andere krumme Geschäfte tätigt. Benedikts Mutter bezahlt ihren Sohn dafür, dass er sie anruft, wenn Freundinnen da sind, damit sie dann weltgewandt so tun kann, als würden Bekannte aus Frankreich oder Italien anrufen und am Kepler-Gymnasium sollen die Schüler in den sogenannten MINT-Fächern nach oben korrigiert werden, damit die Schule in die Exzellenzinitiative hineinkommt – alles fake oder wie der Erzähler es selbst sagt, als er seine Stadt aus der Vogelperspektive sieht:
„Und die Ansicht darauf sah beschissen aus. Also nicht die Ansicht selbst. Die war okay. Sondern das, was darunter lag. Oder dahinter. Oder wo auch immer. Diese aus der Tiefe emporwuchernde Fälschung, dieses Trugbild, das mein Leben war.“ (17)
Benedikt Jäger ist ein Anti-Felix Krull. Zwar auch ein Blender, aber während Thomas Manns bekennender Hochstapler seine Mitmenschen durch eloquentes Reden, das die Leere hinter seinen Aussagen in blumigen und sprachgewandten Sätzen versteckt, hinters Licht führt, ist Klupps Protagonist eher ein Meister der Dokumentfälschung. Zwar auch unheimlich gut im Reden, aber längst nicht so stilsicher wie Krull, schnoddert Benedikt einfach drauflos. Die literarische Referenz für Klupps Blender ist auch der schillernde und schrille Jay Gatsby – vermutlich die Baz Luhrmann Version – , über den Benedikt einen Aufsatz in Englisch schreibt.
Überdeutliche Parallelen
Nachdem man dieses Thema als den Kern des neuen Romans von Thomas Klupp ausgemacht hat, kann man noch einmal zurückkehren zu Paradiso. Genauer gesagt, man kann sich überlegen, was neben Roadtrip das Thema dieses Romans war. In einer Rezension der Süddeutschen Zeitung hieß es damals:
„Alex Böhms Leben ist eine Kette von bewussten Täuschungen. Ob er seine Freundin per SMS in die Irre führt, seinen besten Kumpel hintergeht oder eine Frau in der Kneipe sitzen lässt, während er sich aus dem Klofenster davonstiehlt – Alex Böhm lügt und betrügt nicht nur, wie es ihm gefällt, sondern auch, weil es ihm gefällt.“
Der Protagonist von Klupps Debüt im Jahr 2009 log und betrog also gerne, sein Leben war „eine Kette von bewussten Täuschungen“ und ein bisschen Literaturreferenz ist auch mit drin. Es wird deutlich, worauf ich hinaus will? Die Parallelen zwischen den beiden Romanen treten sehr deutlich zutage. Man mag einwenden, dass Benedikt Jäger mehrmals betont wie ungern er fälscht und betrügt, aber er tut es immer wieder und sein wiederholtes Beteuern, er würde damit aufhören, glaubt man ihm wirklich nicht.
Viele Gemeinsamkeiten finden sich also zwischen Klupps beiden Romanen – ein paar zu viele kann man sagen. Aber lässt sich das gut lesen? Jein! Es liest sich so schnell wie das sprichwörtliche Messer durch warme Butter geht, durchaus unterhaltsam und am Ende kommt sogar ein bisschen Spannung auf, bei der man merkt, dass Klupp wirklich schreiben kann. Was aufstößt ist der gewollt jugendliche Ton des Erzählers. Da wird die Bag gezippt, da wird abgehasst, da gibt es den Ultraflash nach Crystal-Konsum, den man aber am Morgen mit Kieferfasching bezahlen muss – manchmal klingt der Erzähler als wäre er dem Alptraum der Jugendwort-des-Jahres-Liste entsprungen. Gleichzeitig taucht irgendwann das Wort fickrig auf, das mir sonst vorrangig in der Alternativliteratur der 70er Jahre unter die Augen gekommen ist. Was dann wiederum durchaus realistisch wirkt sind pseudpoetische Passagen wie diese:
„Silbriges Mondlicht fiel von jenseits des geborstenen Türrahmens in den Raum, den wir vorsichtigen Schrittes durchquerten, um in einen von Fenstern gesäumten Gang einzubiegen.“ (100)
So klingen – das weiß ich aus eigener schamvoller Erfahrung – 16jährige wirklich, wenn sie versuchen poetisch zu werden. Dass Klupp in Wahrheit aber keine Ahnung vom Leben der 16jährigen im Jahr 2018 hat, zeigt sich dann leider wiederum daran, dass Benedikt Jäger intensiv Facebook nutzt. War Facebook vielleicht vor 5-10 Jahren, als Klupps Protagonist gerade in der Grundschule war, noch ein wichtiger sozialer Faktor, so ist das soziale Netzwerk heute nicht nur eines von vielen, es ist auch bei den heute 16jährigen kaum noch in. Erst recht nicht, wie Klupp es beschreibt, als Gradmesser des eigenen Status in der peer-group – Benedikt freut sich über 56 neue Freundschaftsanfragen, nachdem er durch die Antidrogenkampagne berühmt wurde, während seine Kumpels deutlich weniger haben. Die Nutzung von Facebook wäre jetzt nicht das Problem, aber da Instagram, Snapchat und andere soziale Netzwerke gar nicht erwähnt werden, entsteht der Eindruck, dass Klupp einfach nicht weiß, was bei den Kids heut so abgeht. Ähnlich sieht es beispielsweise auch bei den Serien aus, Benedikt schaut Game of Thrones, Breaking Bad und Homeland – niemand schaut mehr Homeland!
Alles zusammengenommen: Das Thema und der Ort der Handlung, die nahezu identisch sind mit Paradiso, die gestelzt und falsch wirkende Jugendsprache, die offenbare Unkenntnis eines Anfang 40jährigen das Leben der heute 16jährigen betreffend, all das lässt Wie ich fälschte, log und Gutes tat unfertig erscheinen, nicht richtig durchgegart.
Gutes Thema, aber…
Dabei ist das Thema per se kein schlechtes und die perfekte Oberfläche einer angekratzten Welt ist auch schon wesentlich schlechter dargestellt worden als von Klupp, der es schafft das Thema Scheinwelt ohne aufdringliche Klischees darzustellen und dabei ein paar Seitenhiebe auf Pseudowohltätigkeit einbaut, die durchaus ihr Ziel treffen. Dass er sich dabei erstaunlich wenig an die Fake-Welt der sozialen Medien herangetraut hat, spricht vielleicht dafür, dass er weiß, wie schnell man dabei in die Klischeekritikfalle tappt, das führt aber leider dazu, dass man dem Roman die Umwelt seines Protagonisten nicht so wirklich abnimmt.
Was ist dieser Roman also geworden? Die Jugendsprache hat man schon besser bei Wolfgang Herrndorfs Tschick umgesetzt gesehen, die dürfte zwar inzwischen auch wieder überholt sein, aber damals war sie nah dran. Die Kritik an einer schönen Fassade, hinter der der Dreck lauert, zeigt sich auch bei Leif Randts Romanen und das unzuverlässige Erzählen eines lügenden Protagonisten findet sich auch ein bisschen bei Faserland. Thomas Klupp hat also einen modernen Schelmenroman über einen eigentlich gutherzigen, jungmännlichen Lügner geschrieben – wie auch schon 2009.
Wie ich fälschte, log und Gutes tat ist somit ein unspektakulärer, aber witziger, manchmal kluger Roman geworden, der sehr gegenwärtig sein will, daran aber leider scheitert und insgesamt wirkt als hätte der Autor besser noch etwas mehr Recherche und Feinarbeit investiert, aber dafür war dann vielleicht doch schon zu viel Zeit seit dem letzten Roman vergangen.
Die Jugendsprache bei Tschick könnte überdauern, weil Herrndorf absichtlich unauthentisch geschrieben hat. Da Jugendliche zu keiner Zeit so geredet haben, könnten sie jederzeit so geredet haben.