von Marie Isabel Matthews-Schlinzig
„Earth is our only time machine.“
Dana Levin
Es gibt viele Arten, in der Zeit zu reisen: Atmen Sie ein und aus und Schwupps – sind Sie ein wenig weiter in die Zukunft gerückt. Das Internet bietet ebenfalls Möglichkeiten, besonders schön: die ‘Erdkugel aus alter Zeit’. Diese zeigt Ihnen u.a. an, wie sie vor, sagen wir, 470 Millionen Jahren aussah, als sich die ersten Korallenriffe formten. Manche Zeitreise vollziehen Sie unfreiwillig: als Mutter etwa während der jüngsten Pandemie, die einen teils in die 50er Jahre zurückzuversetzen schien.
Sehr bequem lässt sich dagegen im Geiste zeitreisen: in der Erinnerung (häufig eher unzuverlässig), Geschichtsbüchern (manchmal fraglich, jedenfalls lückenhaft) oder der Fiktion (kann Spaß machen oder unangenehm sein, Stichwort: Zurück in die Zukunft).
Wer lieber tatsächlich die Koffer packen und eine echte Zeitmaschine (allerdings nur in Richtung Vergangenheit) besteigen will, dem sei das Handbuch für Zeitreisende: Von den Dinosauriern bis zum Fall der Mauer (Rowohlt, 2020) von Kathrin Passig und Aleks Scholz empfohlen. Auf 333 Seiten findet sich hier so einiges, was Sie als Zeitreise-Neuling wissen sollten: Tipps für Reiseziele (Teil I), (Warn-)Hinweise für ambitionierte Weltverbesserer (Teil II) und zuletzt praktische Handreichungen betreffs Hygiene, Krankheiten, Zahlungsmitteln, etc. (Teil III).
Wie erkundet man Parallelwelten?
Wie das Nachwort (das Sie eigentlich zuerst lesen sollten) erklärt, liegt dem Buch eine ebenso pfiffige wie amüsante Fiktion zugrunde: Dass Zeitreisen *wirklich* durchführbar sind und sich die dafür notwendige Infrastruktur – bis hin zu zeitreisemedizinischen Zentren – bereits entwickelt hat; deren genaue Beschaffenheit bleibt zum Leidwesen der Rezensentin leider im Dunkeln. Abgesehen davon bewegen sich Passig und Scholz jedoch bestens wissenschaftlich gerüstet auf dem Boden der Tatsachen. Ja selbst die Vorstellung, dass uns Zeitreisen möglich sein könnte, scheint nicht so weit hergeholt, wie Sie vielleicht zunächst denken mögen: Sie müssen nur davon ausgehen, dass die „Vielwelten-Theorie der Quantenmechanik […] korrekt“ (S. 329) ist. Will heißen, dass es neben unserer viele Parallelwelten gibt, die Zeitreisende problemlos erkunden können, ohne unsere Welt dadurch in ein Chaos fortwährender, rückwirkend gültiger Veränderungen zu stürzen.
Wohin würden Sie reisen? Ins mittelalterliche Granada zur Zeit der Nasriden vielleicht, das Hieronymus Münzer Ende des 15. Jahrhunderts derart begeistert, dass er es als „Paradies“ bezeichnet (S. 46)? Oder in die DDR, um sich einer der langen Schlangen vor Kaufhallen anzuschließen, ohne zu wissen, was es da heute Besonderes zu kaufen gibt und ob davon noch etwas übrig sein wird, wenn Sie dran sind? Oder vielleicht zu dem Zeitpunkt vor mehr als vier Milliarden Jahren, als die Erde noch ein „glühender Ball aus Magma [ist], umgeben von einem Wirbel aus Steinen aller erdenklichen Größen“ (S. 168) und die Geburt des Mondes vor der Tür steht?
Dies sind nur einige der „113 Ideen“ für Zeitreiseziele, die das Handbuch schildert und zwar so anschaulich, dass Sie sich bereits vor Ort wähnen werden, ohne einen Fuß vor Ihre Haustür gesetzt zu haben. Entgegen dem sicher verkaufsfördernden Untertitel reicht es dabei über die Zeit der Dinosaurier hinaus. Etwas unklar bleibt, nach welchem Prinzip die Vorschläge ausgewählt wurden. Herausgekommen ist jedoch eine bestechende Mischung aus Sammelsurium und Wunderkammer, die zum Entdecken und Verweilen einlädt. Es empfiehlt sich, das Handbuch mit aufgeschlagenem Internet (bzw. Lexikon und Weltatlas) zu lesen. Denn immer wieder werden Sie auf etwas stoßen, worüber Sie gern mehr erfahren möchten – wie etwa Maria Cunitz, die nicht nur eine außerordentlich gute Astronomin des 17. Jahrhunderts war, sondern, laut Pastor Johann Caspar Eberti, darüber hinaus sieben Sprachen beherrschte sowie musisches Talent besaß.
Weltverbesserung? Keine leichte Sache.
In einladendem Plauderton führen uns Passig und Scholz von einer Zeit in die andere und von einem Ort an den nächsten. Das geschieht weder chronologisch noch linear und mit viel Mut zur Lücke ebenso wie zur thematisch-geographischen Breite. Weltgeschichte wird so als vielfältig und komplex erkennbar und unser Wissen über diese als in mehr als einer Hinsicht unvollständig. In großen Schritten lehrt das Handbuch damit auch den Nutzen einer wirklich langen historischen Sicht, vor deren Hintergrund sich manch zeitgenössisches Problem relativiert. Sie anzunehmen ist für Leser:innen gleichzeitig befreiend und bedenkenswert.
Entsprechend werden Gegebenheiten der Vergangenheit immer wieder zum Brennglas der Gegenwart: Etwa, wenn der Text die Fähigkeit unserer Spezies zu Weit- und Einsicht ernüchternd realistisch betrachtet: „Menschen sind nicht besonders gut darin, über Zeiträume von Jahrzehnten oder Jahrhunderten zu planen. Selbst wenn Sie in paar Leute davon überzeugen können, dass bald Hunger, Krieg, Elend, Vertreibung und Unterdrückung drohen, werden die wenigsten lieber freiwillig fünfzig Jahre vorher in die Fremde ziehen. Wer es dennoch ausprobieren möchte, kann seine Überredungskünste schon einmal in der Gegenwart an Leuten testen, die in Überschwemmungsgebieten oder in der Nähe von Vulkanen wohnen“ (S. 48).
Nicht zuletzt deshalb ist es, wie v.a. der zweite Teil des Handbuchs zeigt, durchaus schwierig, die Welt im großen Rahmen zu verändern. Das gilt rückwirkend wie jetzt: Nicht nur der Zufall spielt eine erhebliche Rolle: Erfindungen, wie zum Beispiel die des Penicillins, ebenso wie andere Entwicklungen, beruhen auf einem komplexen Zusammentreffen zahlreicher Umstände. Fehlt auch nur einer von diesen, nützen die besten Vorsätze und der am besten informierte, hilfewilligste Zeitreisende nichts. Außerdem werden „Neuerungen,“ liest man bei Passig und Scholz, häufig „bald wieder verboten, zum Beispiel das Fahrrad […], der Kaffee, die Farbe Indigo, das Spinnrad und das LSD. […] Auch das Papier hat es in Deutschland anfangs schwer, weil es aus unchristlichen Ländern stammt“ (S. 195).
Obendrein ziehen auf den ersten Blick fortschrittliche Neuerungen teils verheerende Konsequenzen nach sich: So steigt etwa in der Geschichte des Gummis im 19. Jahrhundert die Nachfrage nach Kautschuk so rasant, dass es im Amazonasgebiet „zu großflächiger Zwangsarbeit“ kommt; in „manchen Gegenden kommen neunzig Prozent der Einwohner ums Leben“ (S. 206). Nicht ohne Grund raten die Autorin und der Autor daher dazu, sich auf „kleinere Reparaturen“ zu konzentrieren. Auf diese Weise berührt das Handbuch immer wieder allgemeine und für unsere Gegenwart unmittelbar relevante Probleme. Gleichzeitig erinnert es an die Verantwortung, die jedes Handeln mit sich bringt. Manchen Kommentar zu zeitgenössischen Diskurse mag der eine oder die andere als etwas bemüht oder zu belehrend empfinden. Den positiven Gesamteindruck dieser Bezüge schmälert dies nicht.
Anregungen zum Schluss.
Die praktischen Handreichungen im dritten und letzten Teil des Handbuchs schließlich sind, wie in Reiseführern häufig der Fall, tendenziell etwas trockener geraten – vielleicht weil hier Wissen teils eher systematisiert und weniger am konkreten historischen Beispiel präsentiert wird. Nichtsdestoweniger lässt sich auch hier vieles lernen: Wussten Sie etwa, dass südlich der Alpen „bis zur Einführung von Telegraphie und Eisenbahn […] größere Städte ihre eigene Zeit [haben], die vom Sonnenhöchststand und damit von der geographischen Lage abhängt“ (S. 272). Manche Ausführungen in diesem Abschnitt, v.a. zu Hygiene, wirken angesichts gegenwärtiger Pandemie-Zeiten fast prophetisch; etwa, wenn es heißt: „Am nützlichsten würden Sie sich bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten in der Vergangenheit machen, wenn es Ihnen gelänge, häufiges Händewaschen mit Seife durchzusetzen“ (S. 309).
Am Ende des Handbuchs versammeln Passig und Scholz, neben dem bereits erwähnten Nachwort, schließlich noch eine anregende Liste mit „Reiselektüre für Zeitreisende“. Sie macht Lust auf mehr. Was darin allerdings schmerzlich fehlt und der hier besprochene Text bewusst nicht liefert, ist ein ‚Handbuch für Zeitreisende in die Zukunft‘. Das sollte dringend noch geschrieben werden. Vielleicht werden Sie ja zu den Autor:innen gehören?
Photo by Zulfa Nazer