von Sandra Beck
Alison Jackson ist berühmt geworden für Foto-Arbeiten, in denen sie intime, allzu menschliche Momente der Royal Family mit Doppelgänger*innen in der Ästhetik von Paparazzi-Aufnahmen inszeniert. Dabei spielt sie – wenig subtil – mit dem dokumentarischen Gestus der Fotografie. Ihre Aufnahmen erfüllen Bild-Wünsche, die man einem voyeuristischen Publikum unterstellt: die Queen auf dem Klo zu sehen, Diana mit ausgestrecktem Mittelfinger, Kate und Meghan im cat fight. Diese Form simulierter Authentizität baut auf eine Sehnsucht, den Bildern Glauben zu schenken, wenn man sich schon zum grenzüberschreitenden Blick des gierigen Sehen-Wollens erniedrigt hat.
Im Zeitalter von deepfakes muten diese fotografischen Arbeiten unrettbar anachronistisch an. Mittlerweile lassen sich ersehnte Bilder und Videos auf der Basis echten Datenmaterials mit wenigen Clicks generieren. Nur ein Beispiel aus dem schon wieder historisch gewordenen US-amerikanischen Wahlkampf ist die über KI-Manipulation ins Bild gesetzte Wahlempfehlung Taylor Swifts für Donald Trump. In den neuen medientechnologischen Möglichkeiten, alles Bild werden zu lassen, was man sehen will, überlagern sich der unschuldig-überbordende Spaß am ästhetischen Stilbruch mit dem Balenciaga-Papst und gezielte politische Desinformation und Fantasien von sexueller und rassistischer Gewalt, etwa in deepfake-Pornographie. Chandell Gosse und Jacquelyn Burkell betonen entsprechend in Politics and porn: how news media characterizes problems presented by deepfakes:
„Deepfakes is a new technology, first used for a familiar purpose: to objectify and demean women. Misogyny is not, however, ‚built in‘ to the technology; instead, the decision to use the technology to create sexual deepfakes rests with the users and reflects the misogynistic culture within which the technology is deployed.“
In diesem pointierten Verweis auf die Nutzerabhängigkeit erscheint technologiebasierter Missbrauch als jüngste Episode in der alten Geschichte patriarchaler Gewalt. Bezeichnenderweise ist es gerade die Kriminalliteratur, in der sich – vom ‚Mord im Abteil‘ über den drohenden Nuklearschlag bis zum Untergang der Menschheit durch die Machtergreifung der KI – diese Geschichte des medientechnologischen Fortschritts als Geschichte der Gewalt verfolgen lässt.
Das Genre verspricht, den angsterregenden (medien-)technologischen Vorsprung der Bösen im Verlauf der Erzählung aufzuholen. Diese Parität zwischen Devianz und Detektion wird üblicherweise in der Aufklärungsgeschichte sukzessive hergestellt. Charakteristisch für den Krimi als Spannungsgenre ist natürlich, dass dies kunstvoll verzögert und erst auf den letzten Seiten eingelöst wird, getreu der Prämisse: „Die Telefone gingen nicht. Gingen nie. Außer es war nicht dringend“ (Pieke Biermann: Herzrasen, 1993). Mitunter beobachten sie aber auch nur die Unterwelt des Verbrechens und verfolgen, wie sich hier durch technologischen Fortschritt gegenüber der Konkurrenz individuell neue Handlungsspielräume für ‚kleine Devianzen‘ eröffnen, schließlich kann man im Netz oder via Telegram nicht nur Auftragsmörder*innen bestellen, sondern im Zusammenspiel von Darknet und Drohne auch ein florierendes Drogengeschäft betreiben. „Die Sache hat nur einen Haken – die gesamte Londoner Unterwelt fühlt sich von ihrem Geschäftsmodell bedroht und will ‚die Lieferantin‘ tot sehen“ (Zoë Beck: Die Lieferantin, 2017).
***
Das Genre erkundet in seinen Verbrechensgeschichten konsequent, wie sich im schlimmstmöglichen Gebrauch die technologischen Innovationen zielstrebig in tödliche Gewaltzusammenhänge übersetzen lassen. Klappentext um Klappentext erscheinen aktualisierte Szenarien der Angst, die alle zwischenmenschlichen Beziehungen als potenziell tödliche vorstellen: „Jeder beobachtet jeden, Bomben explodieren, Menschen sterben“ (Merle Kröger: Die Experten, 2021). Vorzugsweise veranschaulicht das Genre die katastrophischen Potenziale des Fortschritts dabei an gequälten weiblichen Körpern. Heben Frauenfiguren den Telefonhörer ab, öffnen sie ihre Ohren für den Psychoterror pathologischer Stalker (Helen Zahavi: Dirty Weekend, 1991) und die ausgefeilten Zerstückelungsfantasien der Serienkiller (Maria Gronau: Weiberwirtschaft, 1995), sie exponieren sich als ohnmächtige Ohrenzeuginnen grausamer Verbrechen (Sebastian Fitzek: Der Heimweg, 2020), sofern ihre Schmerzensschreie nicht ohnehin bereits männlichen Angehörigen live übertragen werden (Juan Damone: Ciao Papá, 2007).
Melodramatisch ins Leere klingelnde Telefone – in der Gegenwartsliteratur modernisiert zum einsam brummelnden Handy, das gerne auch das Zweithandy für das zweite Leben ist – sind im Genre als Zeichen des Todes ebenso geläufig wie als Alarmzeichen der je aktuellsten Scheußlichkeit, die den gerne verkatert-zerrauften Ermittler von einem Albtraum zum nächsten beordert. Auch das lässt sich mühelos ins „Ping“ der nächsten Hiobsbotschaft auf dem Mobiltelefon übersetzen. Nicht zufällig beginnt Alex Lépics Fortschreibung von Simenons Maigret-Universum rund um Commissaire Lacroix mit dem Satz: „Maigret, Telefon für Sie.“ (Lacroix und die Toten vom Pont Neuf, 2019) Manchmal führt das über den Festnetzanschluss zugeschaltete Böse auch zu grotesk-amüsanten Logikfehlern, etwa wenn in Ellison Coopers Todeskäfig (2018) ein entführtes, im Käfig festgehaltenes Mädchen selbst die Polizei anruft. Weitaus häufiger generiert es brutale Überraschungseffekte und die genreentscheidende Leiche:
„Das Festnetz-Telefon klingelt, als sie am Fenster steht und ihren Enkelkindern zum Abschied winkt. Agneta hebt den Hörer ab. „Geiger“, sagt jemand und legt auf. Agneta weiß, was das bedeutet. Sie geht zu dem Versteck, entnimmt eine Waffe mit Schalldämpfer und tritt an ihren Mann heran, der im Wohnzimmer sitzt und Musik hört. Sie setzt den Lauf an seine Schläfe – und drückt ab.“ (Gustav Skördeman: Geiger, 2010)
Auf der anderen Seite nimmt der mikroskopische Blick der Ermittlerfigur seit Anbeginn des kriminalliterarischen Erzählens die medialen Technifizierungen von Sehen und Erkennen als Kulturtechniken der Wahrheitsfindung in Besitz. Programmatisch konturiert sich in Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Universum das detektivische als ein ‚bewaffnetes‘ Auge, das mit der mitleidlosen Objektivität einer technischen Apparatur die verbrecherischen Rätsel entschlüsselt. Mit den technologischen Entwicklungen hat sich auch dieser medial technifizierte Blick verändert: In den Untersuchungsrichter-Erzählungen der 1850er und 1860er Jahren muss das Auge des Ermittler trocken bleiben, um den auf class und gender geeichten Blick nicht zu trüben und im Verhör die Körperzeichen von Un/Schuld im Rauschen mehrdeutiger Sinnesdaten zu erkennen:
„Wirkliche, echte Thränen kommen nur aus dem Herzen. Keine Verstellung, keine Heuchelei kann sie aus den Augen pressen. Vielleicht tausend Mal habe ich als Inquirent die gewaltsamsten und immer vergeblichen Anstrengungen der Verstellung wahrnehmen müssen.
‚Kann dieses Herz wirklich einer gemeinen Diebin angehören?“ mußte ich mich wieder unwillkürlich fragen. „Und doch, wie kalt, wie spöttisch für gewöhnlich und in solcher Lage!‘
Ich setzte mein Verhör fort.“ (Jodocus D.H. Temme: Rosa Heisterberg, 1858)
Die forensischen Kriminalromane der Gegenwart haben es dagegen mit metaphorisch anders ‚sprechenden Körpern‘ zu tun. So zeigt sich im ersten Band der Kay-Scarpetta-Reihe Postmortem (1990) das Schlüsselzeichen eines Serienmörders – unvollständige Fingerabdrücke, die eine unbekannte Substanz auf den Leichen konserviert – erst in der „stroboskopischen Beleuchtung“ eines Laserstrahls, der „Zentimeter für Zentimeter des aufgequollenen Fleisches“ ausleuchtet, den toten Körper fragmentiert, ausweidet, zerschneidet: „Alles schien ohne Zusammenhang zu sein. Der Laser erhellte eine Ecke einer Lippe, einen Fleck von punktförmigen Blutungen auf den Wagenknochen oder einen Nasenflügel, isolierte jedes Merkmal.“ (Patricia Cornwell: Postmortem 2013) Man kann diese Texte lesen als Allmachtsphantasien im Angesicht blutüberströmter Leichen, in denen die technisierte und rationale Aufklärungsarbeit der minutiös protokollierten Obduktion die enthemmte Lust an qualvoller Zerstückelung spiegelt.
Drohte Mitte des 19. Jahrhunderts noch Erkenntnis von Tränen überschwemmt und im Gefühl allgemeiner Grässlichkeit unterzugehen, schneiden die forensischen Ermittler*innen des ausgehenden 20. Jahrhunderts erkenntnisgewiss den Täter*innen hinterher. Sie sind ein Beispiel aus der Reihe neuer Held*innen, die mit (medien-)technologischer Expertise in den Kontrolllücken des Fortschritts aufräumen – sich aber dann auch damit herumschlagen müssen, dass die schon lange praktizierten illegalen Ermittlungsmethoden im eben nicht rechtsfreien digitalen Raum auf einmal auffallen. Im Commissario-Brunetti-Universum muss man freilich bis zum 25. Band warten, bis jemand Signorina Elletra Zorzi auf die Datenschliche kommt (Donna Leon: Ewige Jugend, 2016). Mittlerweile liest man auch nicht mehr Tränen aus, sondern digitale Datenströme, denn „in diesen Zeiten von Fake News und Datenmanipulationen in großem Stil“ werden diese „schwarze[n] Künste mehr denn je“ benötigt (Val McDermid: Der Knochengarten, 2020). Nicht die Körper der Opfer, sondern die Codierungen und technischen Geräte bewahren die Handschrift der Täter*innen. Manchmal muss man dann eben die Drohnen ‚obduzieren‘, denn „ab einem bestimmten Punkt [kann man] eingrenzen, wer in der Lage ist, eine solche Technologie zu entwickeln.“ (Zoë Beck: Die Lieferantin, 2017)
***
In der Balance zwischen der Imagination der angstbesetzten Störpotentiale technischer Innovationen, das in immer neuen Varianten am weiblichen Körper durchgespielt wird, und der euphorischen Feier des immer neu technifizierten detektivischen Blickes auf die mörderische Katastrophe begleitet das Genre die Fortschrittserzählung des technischen Zeitalters kulturkritisch und affirmativ. So produziert etwa die technische Innovation des 19. Jahrhunderts, die Eisenbahn, umgehend vielfältige Imaginationen vom ‚Mord im Abteil‘, genrekonform in einer von Ian Carter in Railways and Culture in Britain (2009) pointierten Erzähllogik:
„[R]ailway crime fiction assures readers that unreason – robbery, fraud, murder – will not disrupt the modern world’s smooth progress […]. Briefly disrupted by mayhem on the line or on the train, social life returns to its usual, boring round, normal service is resumed, strictly to timetable.“
Nach den Kriminalliteraturen der Gegenwart droht uns freilich nicht mehr die eine Leiche im Abteil, sondern eher schon ein Hochgeschwindigkeitszug voller Auftragskiller, die nonchalant über den Unterschied zwischen krimineller Wirklichkeit und kriminalliterarischer Fiktion plaudern: „‚Viele schreiben mit ihrem Blut den Namen des Täters irgendwohin.‘ – ‚Im Krimi vielleicht, im wahren Leben nicht.‘“ (Kōtarō Isaka: Bullet Train, 2010) Als weit realistischer erweist sich in der Diagnose des Genres, dass uns und unseren Gesellschaften die technologischen Abhängigkeiten zum Verhängnis werden. Agierten die Ermittler in den Mordgeschichten auf der Eisenbahn selbstverständlich als Repräsentanten des staatlichen Machtapparats und verfügten souverän über die ihnen zu Gebote stehenden Kommunikations-, Verkehrs- und Überwachungsnetze, erkunden die Kriminalliteraturen des 21. Jahrhunderts die Abhängigkeit moderner Individuen und Gesellschaften von Großtechnologien – sei es im modernisierten Setting des cozy crime, sei es in apokalyptischen Settings globalen Untergangs oder in der dystopischen Imagination einer totalen Überwachungsdiktatur der biopolitisch Wohlmeinenden.
***
Eine der Königinnen der ersten Spielart ist Ruth Ware, die ihre Krimis topographisch vom Netz nimmt – auf einer Insel im Indischen Ozean (One Perfect Couple, 2024), im Chalet in den französischen Alpen (One by One, 2020), im zur Falle werdenden High-Tech-Home (The Turn of the Key, 2019), auf einem Kreuzfahrtschiff (The Woman in Cabin 10, 2016) oder in einem einsam gelegenen Glass House in den Wäldern Northumberlands (In A Dark, Dark Wood, 2015). Diese Krimis erinnern in Form und Inhalt an die goldenen Zeiten Agatha Christies, auch wenn die Meisterdetektiv*innen fehlen. Lesen lassen sie sich als gar nicht mal so heimelige Kommentare auf kulturkritische Konzepte von ‚Auszeit‘ und ‚Achtsamkeit‘. An die Stelle meditativer Versenkung in die Gegenwart tritt im Singsang des bekannten Abzählreims ein Countdown der noch Lebenden: „Now we are ten. / Now we are nine. / Now we are eight. / The words chant inside my head, a kind of gruesome countdown, edging closer to zero, one by one“ (Ruth Ware: One by One, 2020).
Mit dem Ausfall der Kommunikationstechnologien brechen also keinesfalls paradiesische Zeiten an, denn ohne Verbindung zur Außenwelt ist man den maßgefertigten Optimierungsstrategien einer dem Microdosing verfallenen Fanatikerin (Liana Moriarty: Nine Perfect Strangers, 2018) ebenso hilflos ausgeliefert wie den komplizierten psychischen Dynamiken einer eigentlich zum Teambuilding einbestellten Wandertruppe (Jane Harper: Force of Nature, 2018). Und Serienmörder warten beim Digital Detox sowieso (Arno Strobel: Offline, 2019). Immerhin kann eines der nach der Zerfleischung blind, stumm und taub überlebenden Opfer noch für eine kurze Zeit blinzeln:
„Das war binärer Code, mit dem jeder Programmierer etwas anfangen konnte, und es war geradezu genial. Jeder Buchstabe, jede Zahl und jedes Sonderzeichen kann mit einem achtstelligen Code aus Nullen und Einsen, sogenannten Bits, dargestellt werden. Acht Bits ergeben ein Byte und somit ein für einen Computer darstellbares Zeichen. Die Einsen und Nullen bedeuten dabei für die Maschine nichts anderes als Strom fließt und Strom fließt nicht. Und Anna nutzte dieses System, um mit ihr zu kommunizieren.“ (Arno Strobel: Offline, 2019)
Mit dieser Erklärung, die trotz aller angestaubten Betulichkeit das Vorstellungsvermögen der Leser*innen strapaziert, stellt sich der Text einem grundlegenden Problem: Wie auch für ein nicht tech-affines Publikum, das sich vielleicht erst vor kurzem dem online-Banking anvertraut hat, nachvollziehbar und spannend von diesen komplexen Zusammenhängen einer globalisierten Welt im digitalen Zeitalter erzählen? Eine Variante besteht darin, nicht gar zu genau zu erzählen, wie die ikonische Lisbeth Salander aus Stig Larssons Millenium-Trilogie (2005–2007) ihr Handwerk als Hackerin betreibt, sondern vielmehr, was sie auf diesen illegalen Wegen an Informationen aufgestöbert hat. So bleibt auch mehr Zeit die tatsächliche erzählerische Expertise auszuspielen und von der Lisbeth angetanen exzessiven Gewalt zu erzählen.
Oder man spielt die Angreifbarkeit der Superstrukturen digital vernetzter Gesellschaften durch und beobachtet den globalen Zusammenbruch nach einem Angriff von Cyber-Terroristen: „Nur eine halbe Stunde hatte ausgereicht, um die gesamte Intensivstation in eine Leichenhalle zu verwandeln.“ (Wolf Harlander: Systemfehler, 2021) Für die Imagination eines Katastrophenszenarios im Denkformat der größten anzunehmenden Störung getreu der Prämisse: „Das Internet ist die Achillesferse moderner Gesellschaften“, reicht das dann beunruhigende Wissen um die allumfassende Netz-Abhängigkeit. Das ist fast wohltuend, denkt man an die unzähligen Varianten, in denen das Internet als Ort bestialischer Qualen vorgestellt wird: Dort kann man über Todesarten entführter Personen abstimmen (Chris Carter: One by One, 2013), als Serienmörder auf Datingportalen gepflegt durch das Angebot neuer Opfer browsen (Sara Blædel: Tödliches Schweigen, 2007) und Clips der besten Morde hochladen (Jeff Lindsay: Dexter by Design, 2009) oder die Qualen des aktuellen Opfers live streamen (Joseph Finder: Buried Secrets, 2011).
Marc Elsbergs ZERO – Sie wissen, was du tust (2014) dagegen präsentiert für seinen Roman rund um „Big Datas Tchernobyl“ mit der Journalistin Cynthia Bonsant als zentraler Figur eine 40-Jährige, die sich mit akribisch geschilderter Skepsis von jedweden neumodischen gadgets fernhält – „Entschieden stellt sie ihre abgewetzte Dose mit Stiften vor den neuen Bildschirm. Daneben legt sie den Notizblock“ – und daher aufmerksam lauschen muss, als online-Aktivist ZERO via Video den aktuellen Stand der Dinge rekapituliert: „Die Datenoligarchen dieser Welt hingegen bezahlst du auch noch dafür, dass sie dich ausspionieren. Das ist die hohe Kunst der Überwachung! […] Sie kennen dich genauer als jeder Geheimdienst. Sie kennen dich sogar besser, als du dich selber kennst! […] Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Datenkraken zerschlagen werden müssen.“ (Marc Elsberg: ZERO, 2014)
In diesem Fokus auf Effekte und Konsequenzen lässt sich geschickt die Frage ausblenden, wie das nun alles genau funktioniert – und wie es zerstört werden könnte. Man mag dies als leisen Nachhall des Anarchist Cookbook lesen, dem noch John le Carrés Author’s Note im Dank für technologisches Wissen und für die Hilfe bei seiner Geheimhaltung verpflichtet scheint: „Lt. Col. John Gaff, G.M., acquainted me with the banal horrors of homemade bombs and made sure I was not inadvertently providing a recipe for their manufacture“ (The Little Drummer Girl, 1983). Gerade die technik-dystopischen Thriller, die vom nur allzu guten Funktionieren der Informations- und Bio-Technologien in einem Zeitalter der prädikativen Algorithmen erzählen, optieren oft für ein offenes Ende: die Flucht ihrer gegen totalitäre Systeme kämpfenden Hauptfiguren.
Sie entwerfen Welten, vorgestellt als gegenwartskritische Zeitdiagnose oder schreckenerregende Zukunftsvision, in denen die permanente Überwachung des öffentlichen Raums längst nicht mehr Skandalon, sondern akzeptierter und legal unhintergehbarer Alltag ist: „Wer das Haus verlässt, erklärt sich automatisch bereit, videoüberwacht zu werden“ (Zoë Beck: Paradise City, 2020). Das Silicon Valley, personalisiert in einer Aktualisierung des mad scientist zum tendenziell größenwahnsinnigen exzeptionellen Tech-Genie, hat seine Versprechen von Sicherheit und Transparenz endgültig durchgesetzt und maximal kapitalisiert; der Kampf um die eigenen Daten ist verloren.
Das Genre umkreist dabei besonders skeptisch das Thema der prädikativen Algorithmen, die Vorstellung einer sich selbst perfektionierend verwaltenden Welt, in der ein „allwissender Fahndungscomputer […] Verbrechen bemerkt, bevor sie begangen werden“ (Tom Hillenbrand: Drohnenland, 2014). Imaginiert wird damit auch eine Welt, in der menschliche Erkenntnis und Rätsellösungskompetenz ebenso überflüssig geworden ist wie kriminalliterarisches Erzählen sinnlos. Wenn KI die Macht übernimmt, muss das ja nicht zwingend „a lethal program, designed by a twisted genuis“ (Daniel Suarez: Daemon, 2009) sein, um den Untergang der Menschheit zu bedeuten. Für das Genre ist es schon ausreichend, wenn die Überwachungsapparatur global vernetzter und automatisch ausgewerteter Datenströme nicht mehr auf einen menschlichen Verstand angewiesen ist. Die detektivischen Spuren- und Lektüre-Expert*innen drohen überflüssig zu werden: „Wozu Zeugen vernehmen, wenn all ihre Bewegungen und Gespräche bereits auf einer Festplatte archiviert sind? Warum Tatorte begehen, wenn fliegende Polizeidrohnen schon alles abfotografiert haben?“ (Tom Hillenbrand: Drohnenland, 2014)
***
Nun, die offenen Enden deuten es bereits an: Es wird selbstverständlich kriminalliterarisch weitererzählt werden. Indem sich kriminalliterarische Fiktionen in der Revitalisierung des cozy crime vom Netz nehmen oder in die Gewaltgeschichten vergangener Jahrhunderte zurückkehren (Andreas Pflüger: Wie Sterben geht, 2023), gegenüber deren Wiedergängern sich die moderne Waffentechnologie als hilflos erweist (Percival Everett: The Trees, 2021), im domestic noir die Abgründe der menschlichen Psyche und heteronormativer Beziehungen im looked room des eigenen Zuhauses ausleuchten (Paula Hawkins: Girl on the Train, 2015) oder im Öko-Thriller die Zerstörungskapazitäten der Technologien gegen das Katastrophenpotenzial der Natur vertauschen (Frank Schätzing: Der Schwarm, 2004): Kriminalliteratur findet auch in technologie-fernen Bereichen ausreichend Erzählmaterial. In der Konsequenz ergibt sich eine erkenntnistheoretische Schwerpunktverlagerung. Dem frühen 20. Jahrhundert galt eine fotografische Abbildung des Tatvorgangs noch als neue Königin unter den Beweisen:
„Aber das Bild verriet noch mehr / In dem offenen Fenster standen zwei Gestalten, eine war nur mit dem Rücken zu erkennen, die zweite aber – ein Mann mit langem Barte – hielt in erhobener Hand ein blankes Beil, das drohend über der ersten Gestalt schwebte und auf diese in gleicher Sekunde niedersausen mußte. / […] So war der Photographenapparat Zeuge einer Mordtat gewesen, die sonst niemand gesehen haben mochte. Und der Apparat hatte die Tat festgehalten, so daß er besser Zeugnis geben konnte wie eines Menschen Worte.“ (Theo von Blankensee: Ein seltsamer Zeuge, 1919)
Ebenso wie Doug Mills‘ Aufnahme von der Flugbahn jener Kugel, die Donald Trump am 13. Juli 2024 auf einer Wahlkampfveranstaltung in Pennsylvania wenig später am Ohr verletzen wird, ist dies für kriminalliterarisches Erzählen die perfekte Fotografie, die den Moment vor der Tat konserviert. Heute wie damals braucht es freilich Ermittler*innen, die zu dieser einzigen Momentaufnahme die dazugehörige Geschichte erzählen. Und heute wie damals gemahnt das Genre an die überschaubare Aussagekraft der Abbilder, die in ihrem dokumentarischen Wert die Frage nach dem Grund gerade einmal stellen: „When three students are brutally murdered in a Nigerian university town, their killings – and their killers – are caught on social media. The world knows who murdered them; what no one knows is why“ (Femi Kayode: Lightseekers, 2021).
Wofür die viral gegangenen Tode symbolisch stehen und welche komplexe Geschichte in ihnen kulminiert, bedarf einer Ermittlung, die den medial generierten Rahmen sukzessive abträgt, zunächst einmal freilich die Authentizität der Bilder klären muss. Denn nach gefälschten Banknoten und Kunstobjekten, gefälschten Testamenten und Aufenthaltsgenehmigungen, gefälschten Tagebüchern und Markenprodukten zirkulieren im Krimi-Universum digital generierte fake-Identitäten, insbesondere aber manipulierte Bild- und Videoaufnahmen.
Dass Ashley Kalagian Blunts Dark Mode (2023) mit dem unmissverständlichen Untertitel Once you’re online, there’s nowhere to hide um ein gefälschtes Sex-Tape der weiblichen Hauptfigur kreist und nebenbei – der deutsche Titel Die Dahlien-Morde macht es verkaufsförderlich deutlich – einen der berühmtesten cold cases weiterschreibt oder in dem für Januar 2025 angekündigten Thriller Deep Fake von Cleo Konrad ein mit KI gefälschtes erotisches Video der Lehrerin Mira als Ausgangspunkt des plots fungiert, zeigt einmal mehr, wie gerne das Genre als Medien- und Technikarchiv den technologischen Fortschritt über die Qualen weiblicher Figuren verhandelt. Sollte also demnächst die KI auch das Krimischreiben übernehmen, wird zumindest diese Kontinuitätslinie nicht abbrechen, schließlich bedient man sich für ihr Training an den existierenden Bibliotheken – ohne zu bezahlen versteht sich.
Foto von Towfiqu barbhuiya auf Unsplash