Geldgeschichten: Eine halbe Billion – und alle Sünden sind vergessen?

Eine Wirtschaftskolumne von Daniel Stähr

Wie hoch ist die moralische Schuld reicher Staaten gegenüber den armen, wenn es um die Auswirkungen der Klimakrise geht? Eine Frage, auf die es eigentlich keine genaue Antwort geben kann – wie soll man all die komplexen Zusammenhänge, die in den letzten 150 Jahren zur Klimakatastrophe geführt haben, auf eine konkrete Antwort bringen? Und kann man eine wie auch immer geartete moralische Schuld des Westens einzig und allein auf die Auswirkungen der Klimakatastrophe beziehen? Die Ökonomin Esther Duflo findet, dass das geht und hat nicht nur eine Antwort, sondern direkt eine konkrete Zahl festgelegt: Jährlich 500 Milliarden US-Dollar, also eine halbe Billion, schulden reiche den armen Nationen. Diese Summe und ihre Berechnungen hat die Französin, die 2019 mit dem sogenannten Ökonomie-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, in einem vielbeachten Vortrag im Rahmen des G20-Gruppen-Meetings Mitte April Politiker*innen der führenden Industrienationen dargelegt. Das Irritierende an diesem Konzept ist, dass die Wirtschaftswissenschaftlerin Duflo explizit eine moralphilosophische Begründung für diese jährliche Zahlung anführt. So stellte sie in einem Interview mit der Financial Times klar: „[Diese halbe Billion] nenne ich also die moralische Schuld. Das ist nicht das, was es kosten würde, sich anzupassen; das ist nicht das, was es kosten würde, die Folgen zu mildern. Das ist es, was wir [den Armen] schulden.“ Aus einem ethischen Argument über Schuld wird eine konkrete ökonomische Analyse abgeleitet, um den Wert dieser Schuld zu quantifizieren: Wie passt das zusammen? Diese ungelenke Verbindung zweier völlig unterschiedlicher Wissenschaftssphären kann am Ende dazu führen, dass Duflos Vorschlag dem Kampf für mehr Klimagerechtigkeit eher schadet als nützt.

Aber bevor ich erkläre, wieso man diese Perspektive einnehmen kann, steht eine andere Frage im Raum: Wie kommt die Wirtschaftswissenschaftlerin auf diese konkrete Zahl? Duflo fokussiert sich dabei auf die höhere Sterblichkeit, die durch die Klimakatastrophe verursacht wird. Insgesamt mehr Tage mit Temperaturen über 35° Celsius im Vergleich zu Nationen aus dem Globalen Norden, Ernteausfälle und die Tatsache, dass sich arme Menschen wesentlich schlechter vor extremer Hitze schützen können, all das wird die Sterblichkeitsrate insbesondere in den ärmeren Regionen der Welt in Zukunft enorm erhöhen. Bis zu sechs Millionen zusätzliche Todesopfer pro Jahr bis 2100 werden dadurch erwartet; vermehrt auftretende Naturkatastrophen noch gar nicht mitgerechnet.

Der Wert eines statistischen Lebens

Um dieser erhöhten Sterblichkeit einen Preis zuzuweisen, bezieht sich Duflo auf eine Arbeit des Climate Impact Lab. Die Forschenden dort nutzen drei Berechnungen, mit deren Hilfe sie auf eine konkrete Zahl kommen. Sie nehmen zum einen die geschätzte Auswirkung einer Tonne CO2 auf die globale Erwärmung, multiplizieren diese mit der Auswirkung höherer Temperaturen auf die Sterblichkeit und multiplizieren das wiederum mit dem Geldwert eines statistischen Lebens. Insbesondere dieser letzte Wert kann für viele Nicht-Ökonom*innen bizarr erscheinen. Der „Value of Statistical Life“ ist eine Methode, die benutzt wird, um den Preis des menschlichen Lebens zu quantifizieren. Der Maßstab, um diesen Wert zu ermitteln, ergibt sich aus der Frage, wie viel Gesellschaften bereit wären, für Maßnahmen zu zahlen, um Todesopfer zu verhindern. Am Ende dieser Berechnungen steht eine Zahl: 37 US-Dollar pro Tonne CO2.

Multipliziert man diese Summe mit den 14 Milliarden Tonnen CO2, die die reichen Staaten der Welt (worunter für Duflo ausschließlich die europäischen Länder und die USA fallen) emittieren, kommt man auf die besagte Summe von einer halben Billion US-Dollar. So hoch sei die Schuld des Westens gegenüber dem Rest der Welt. Finanziert werden könne diese Summe durch zwei einfache Maßnahmen, so die Ökonomin. Zum einen schlägt Duflo vor, dass die globale Steuer auf Unternehmensgewinne, auf die sich 140 Staaten verständigt haben und die aktuell 15 Prozent beträgt, auf 18 Prozent erhöht werden solle. Daraus ließen sich 200 Milliarden US-Dollar an Mehreinnahmen generieren. Und zweitens schlägt sie, dem Ökonom Gabriel Zucman folgend, vor, dass die Vermögen der 3.000 reichsten Milliardäre der Welt mit 2 Prozent pro Jahr besteuert werden. Daraus ließen sich die restlichen 300 Milliarden US-Dollar gewinnen.

Dieses Konzept Duflos ist, bei allem guten Willen, der hinter der Idee stecken mag, ein Symptom der Unfähigkeit der Wirtschaftswissenschaften, angemessen und umsichtig auf die Probleme der Welt zu reagieren. Zugutehalten muss man ihr ihren Pragmatismus: Sie schlägt keinen radikalen Systemwechsel vor. Die vorgeschlagenen 2 Prozent Steuer auf die Vermögen von Überreichen werden weder etwas grundsätzlich an der globalen Vermögensverteilung ändern, noch an dem teilweise demokratiegefährdenden Status, den sich Millardär*innen durch ihren Einfluss auf Regierungen erworben haben, rütteln. Es ist ein Vorschlag, der so zurückhaltend ist, dass es nicht unmöglich scheint, dafür eine globale Mehrheit zu finden. Und das ist Duflo bewusst: „[Ich möchte nicht, dass] die Leute denken könnten, ich sei eine gefährliche Extremistin. Dieser Vorschlag ist überhaupt nicht extremistisch, sondern außerordentlich vernünftig.“

Eine Geldstrafe als Preis

Man könnte nun argumentieren, dass so eine pragmatische Lösung für etwas mehr Gerechtigkeit auf der Welt wünschenswert sei. Ich glaube aber, dass sie mehr schaden als nützen würde. Das Offensichtliche zuerst: Sich lediglich auf die Sterblichkeit zu konzentrieren, greift erstaunlich kurz. Duflo verteidigt diese Entscheidung zwar damit, dass der Tod die einzige Folge der Klimakatastrophe sei, die man nicht abstreiten könne, und sie deswegen keine Angriffsfläche dafür bietet, sie nicht zu kompensieren. Wer denjenigen, die sich vehement gegen mehr Klimagerechtigkeit sträuben, allerdings so weit entgegenkommt, dass der Verlust von ökologischer Vielfalt, der Heimat und generell einer geringeren Lebensqualität von Menschen vor allem in armen Ländern ignoriert wird, kann für sich kein moralisches Argument reklamieren.

Das größere Problem hängt aber an dem Konzept der moralischen Schuld an sich – es suggeriert Wiedergutmachung. Indem wir einen Preis auf das durch den reichen Westen verursachte Leid in den ärmsten Ländern der Welt kleben, wirkt es so, als könnte man sich von dieser Schuld einfach freikaufen. Es spielt dabei keine Rolle, ob Duflo das mit ihrem Vorschlag wirklich so meint oder nicht. Die Wirkung, die so eine konkrete Zahl in Verbindung mit der Idee einer moralischen Schuld hat, kann fatal sein. Getreu dem Motto: Wir haben unsere Schulden beglichen, für alles andere tragen wir keine Verantwortung mehr.

Dieses menschliche Verhalten ist ausgerechnet in der Verhaltensökonomik empirisch sehr robust belegt. In einer berühmten Studie von Uri Gneezy und Aldo Rustichini mit dem Titel „A Fine is a Price“ (zu Deutsch „Eine Geldstrafe ist ein Preis“) wurde das Verhalten von Eltern in einer Kindertagesstätte untersucht. Nachdem die Kita eine Geldstrafe für die Eltern einführte, die ihre Kinder zu spät abholten, stieg nicht etwa die Zahl der Eltern, die pünktlich kamen. Stattdessen stieg die Zahl derjenigen, die ihre Kinder länger als erlaubt dort ließen und die Geldstrafe bereitwillig in Kauf nahmen. Die Strafe wurde als Preis interpretiert. Aus einer ethischen Überlegung – rechtzeitig in der Kita zu sein, ist das richtige Verhalten, weil es die Erzieher*innen entlastet – wurde eine ökonomische. Für viele Eltern spielten die negativen Folgen für die Angestellten nun eine deutlich geringere Rolle; die Geldstrafe hatte den exakt gegenteiligen Effekt als erhofft. In Duflos Fall sind diese psychologischen Auswirkungen umso immenser, wenn diese Schuld einzig und allein auf die Auswirkungen der Klimakatastrophe angewendet wird.

Der lange Schatten der Schuld

Wie unmöglich es ist, das insbesondere durch die europäische Industrialisierung und Kolonialzeit verursachte Leid zu beziffern, sehen wir aktuell in Haiti. Seit der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse im Jahr 2021 gibt es in dem Karibikstaat de facto keine funktionierende Regierung mehr. Inzwischen haben kriminelle Gangs große Teile der Hauptstadt Port-au-Prince und des Umlands unter Kontrolle. Laut dem OCHA (Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten) benötigen über fünf Millionen Haitianer*innen humanitäre Hilfe – fast jede*r Zweite. Und die Situation des Landes heute hängt untrennbar mit seiner Vergangenheit als kolonialisiertes Gebiet zusammen.

Nachdem die dortigen Sklav*innen sich als erste erfolgreich befreien konnten und 1804 einen unabhängigen Staat ausriefen, war es die französische Regierung, die die junge Nation zu Entschädigungszahlung an die enteigneten Sklavenhalter*innen zwang. Nicht die Sklav*innen wurden entschädigt, sondern diejenigen, die nun keine Sklaven mehr hatten. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts musste Haiti Reparationen an Frankreich zahlen. Eine unvorstellbare Ungerechtigkeit, von der sich das Land bis heute nicht erholt hat. Dass die Dominikanische Republik, die sich mit Haiti die Insel Hispaniola teilt, relativ wohlhabend ist, während Haiti das ärmste Land der westlichen Hemisphäre ist, liegt zu einem nicht unwesentlichen Teil an den unterschiedlichen Formen der Kolonialherrschaft und den Reparationen.

Diese Schäden in Geldeinheiten auszudrücken, ist fast unmöglich und in den meisten Fällen auch überhaupt nicht sinnvoll, wie eine New-York-Times-Recherche zeigt. Betrachtet man nur den Betrag, den Haiti an Frankreich überwiesen hat, bleibt eine Summe von 560 Millionen US-Dollar. Nimmt man allerdings die indirekten Effekte hinzu, also was die Menschen in Haiti mit diesem Geld an Entwicklungsprojekten und Innovationen hätten umsetzen können, wäre es im eigenen Land geblieben, so liegen die Schätzungen über Haitis historischen Verlust zwischen 21 und 115 Milliarden US-Dollar.

Die Hybris der Wirtschaftswissenschaften

Nun bezieht Duflo ihr Konzept der moralischen Schuld lediglich auf den Klimawandel. Aber ist es wirklich sinnvoll, einen Begriff wie Moral zu verwenden und dann die Folgen der europäischen Kolonialgeschichte auszublenden? Insbesondere da sie bis heute anhalten, wie eine ebenfalls in den vergangenen Wochen veröffentlichte Studie zeigt. Gastón Nievas und Alice Sodano zeigen darin, dass die internationalen Finanzmärkte so strukturiert sind, dass es jedes Jahr ein Vermögenstransfer von den armen hin zu den reichen Ländern gibt. So verlieren die 80 Prozent der ärmsten Länder der Welt jedes Jahr 2 bis 3 Prozent ihres BIPs an die reichsten 20 Prozent der Welt. In anderen Worten: Auch heute gibt es sehr gut belegte quasi-koloniale Strukturen, die bestehende ökonomische Ungleichheiten und Machtstrukturen festigen.

Folgt man Duflos Vorschlag, wirkt es aber so, als könnten wir uns relativ günstig von unserer Schuld freikaufen. Hier stößt die Wirtschaftswissenschaft ganz eindeutig an ihre Grenze, nicht zuletzt weil die Disziplin überhaupt kein Konzept von Gerechtigkeit besitzt. Ökonom*innen können mit ihren Werkzeugen nur sehr begrenzte Aussagen darüber treffen, inwiefern eine Situation besser (im Sinne von gerechter) ist als eine andere – von moralisch oder unmoralisch gar nicht zu sprechen. Dass eine Ökonomin wie Duflo ihren Vorschlag also aus einem explizit moralphilosophischen Argument heraus vorbringt, wirkt da mindestens bizarr und ist am Ende ein weiteres Beispiel für die Hybris vieler Ökonom*innen.

Aber nicht nur die Fixierung des moralischen Aspektes ist problematisch, sondern auch die enge Vorstellung Duflos von ökonomischen Schäden. Die Zerstörung der eigenen Heimat, das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, der Verlust von ganzen Kulturen, all das lässt sich nicht in konkreten Zahlen ausdrücken, wie der Preis von 37 US-Dollar pro Tonne CO2 suggeriert. Was es uns als Menschheit wert ist, für den Erhalt dieser Dinge zu kämpfen, das ist eine tatsächlich moralische Frage, bei der Ökonom*innen nur wenig Sinnvolles beizutragen haben.

Der richtige Platz am Tisch

Daraus folgt aber nicht, dass Ökonom*innen sich in Zukunft aus der Debatte um die Folgen der Klimakatastrophe heraushalten sollten, im Gegenteil. Sie können eine wichtige Funktion in diesem öffentlichen Gespräch einnehmen, wenn sie ihren Platz kennen. So können auch Duflos Berechnungen wertvoll sein, wenn sie als eine Art Mindestreparation der reichen Staaten an die ärmeren verstanden werden und damit Teil eines globalen Aushandlungsprozess um mehr Klimagerechtigkeit werden.

Die Wirtschaftswissenschaften sind wie wenige andere Disziplinen in der Lage, aus einer unvorstellbar großen, für sich allein genommen unverständlichen Datenmenge sinnvolle Informationen zu generieren. So hat ein Team des Potsdam Institute for Climate Impact Research (PIK) kürzlich in einer Studie gezeigt, dass die Schäden der ungebremsten Klimakatastrophe, die Kosten für eine Reduzierung des Temperaturanstiegs auf 2 Grad um das sechsfache übersteigen. Und auch wenn solche Schätzungen vorsichtig als ebendas, als Schätzungen, interpretiert werden sollten, liefern sie in der politischen Debatte extrem wichtige Argumente für einen radikalen und nachhaltigen Klimaschutz. Nur werden diese „harten Fakten“ alleine nicht ausreichen, um wirkliche Veränderungen anzustoßen. Schon gar nicht dann, wenn sie den Eindruck erwecken, wir könnten uns damit von unseren Sünden der Vergangenheit freikaufen.

In der Wirtschaftskolumne „Geldgeschichten“ ordnet der Ökonom Daniel Stähr aktuelle Phänomene aus den Bereichen Wirtschaft, Finanzpolitik und Ökonomie ein

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