Schlagwort: Klimakatastrophe

Der Bürger am Ende der Welt – Zwei Bücher über unsere hartnäckige Normalität

von Leo Schwarz

„Danke, dass ihr unseren Selbstbetrug offen legt!“, sagte der Theaterregisseur Volker Lösch im April vor einer Menschenmenge in Berlin. Der selbsterklärte „Boomer“ sprach vor dem Brandenburger Tor auf einer Demo der Letzten Generation – jener Umweltgruppe, die es mit Straßenblockaden und beschmierten Kunstwerken immer wieder in die Nachrichten geschafft hat. Für sie hielt Lösch eine Dankesrede. Der Kampf der Letzten Generation sei ein „Kampf gegen die gesellschaftliche Verdrängung“ und den „Wahnsinn des Alltags“. Die Gruppe zeige, dass man nicht „an der destruktiven Normalität festhalten“ müsse.

Wie auch immer man Löschs Worte beurteilt: Das Gefühl, dass etwas Grundlegendes mit unserer Normalität im Argen liegt, beschleicht in letzter Zeit nicht nur ihn. Wie ist es eigentlich möglich, dass unser Alltag so hartnäckig bleibt wie er ist, trotz der drückenden Ahnung einer kommenden Katastrophe? Wieso scheinen die großen Krisen unserer Zeit in unserer Lebenswelt oft so weit weg und warum ist das Leiden vieler Menschen so selten in unserem Alltag präsent?  

Gefühlslagen und Vorstellungswelten

Zwei Bücher aus jüngerer Zeit suchen nach Antworten: Die Philosophin Henrike Kohpeiß denkt über Bürgerliche Kälte nach, der Soziologe Stephan Lessenich hält unsere Gegenwart für Nicht mehr normal. Es sind zwei grundverschiedene Bücher, bei Kohpeiß eine umfangreiche und komplexe Doktorarbeit – bei Lessenich ein thesenstarkes Sachbuch zur Lage der Welt. Und dennoch interessieren sich beide für eine ähnliche Problemlage: „Wie ist es möglich, dass wir die strukturellen Widersprüche unserer gesellschaftlichen Existenz wahrnehmen, in unserem Alltag aber doch durch die Bank so tun, als ob nichts wäre?“, fragt Stephan Lessenich. Und Henrike Kohpeiß staunt darüber, „wie erfolgreich die bürgerliche Gesellschaft ihr Überleben organisiert, obwohl ihre Überwindung politisch und kulturell geboten scheint“.

Für beide liegt die Antwort irgendwo in uns selbst, in unserer Subjektivität, unserem eigentümlichen Weltzugang. Für die Philosophin geht es hier um eine komplexe soziale Gefühlslage, die sie in Anlehnung an Theodor W. Adorno „bürgerliche Kälte“ nennt. Gemeint ist damit eine Art Technik oder Strategie, sich mit der Realität in Beziehung zu setzen und zugleich vor ihr zu schützen. In die bürgerliche Kälte können „die unmittelbaren Folgen vieler Katastrophen nicht vordringen.“ Lessenich wiederum interessiert sich für das „gesellschaftliche Imaginäre“ (nach Cornelius Castoriadis). Der Begriff beschreibt Bedeutungs- und Vorstellungswelten, die Gesellschaften selbst hervorbringen und die dann als selbstverständlich angesehen werden. Also kurz gesagt: was normal ist und was nicht.

Ganz normale Leute

Normal, das ist nach Lessenich in Deutschland seit der Nachkriegszeit die Idee von immer weiter steigendem Wohlstand, ständig erweiterter Konsumversprechen und (als Bedingung dafür) ewigen wirtschaftlichen Wachstums. Als ebenso normal gelte der Nationalstaat als eine natürliche Einheit mit klar geregelter Mitgliedschaft samt natürlicher Grenzen. Normal sind außerdem innerhalb dieser Grenzen dann vor allem normale (weiße) Menschen in normalen Lebensformen, also in normalen Arbeitsverhältnissen (unbefristet, Vollzeit) und normalen (heterosexuellen) Familien.

Nichts von dieser Vorstellungswelt entsprach jemals vollständig der sachlichen Wirklichkeit, aber Abweichungen und Nebenkosten hätte man, so der Soziologe, einigermaßen erfolgreich ausblenden können. Schließlich habe Deutschland tatsächlich irgendwie einen „Platz an der Sonne des globalhistorischen Geschehens“ eingenommen. Damit ist für Lessenich aber seit einiger Zeit Schluss. Die großen Krisen der letzten zwei Jahrzehnte und der Gegenwart setzten diese konstruierte Normalität immer mehr unter Druck. Die Finanzkrise rief in Erinnerung, dass die Steigerungs- und Verwertungsspiralen des Kapitalismus nicht unbedingt Wohlstand für alle bedeuten. Die „Flüchtlingskrise“ gemahnte daran, wie willkürlich und brutal die Zugehörigkeit zu nationalen Gemeinschaften geregelt ist. Die sich entfaltende ökologische Katastrophe entlarvt das ressourcengetriebene Wachstum als selbstmörderisch. Und im Streit um die Identitätspolitik bröckelt zuletzt auch die gesellschaftliche Dominanz weißer, heterosexueller Männlichkeit. Die verbreitete Vorstellungswelt von der Normalität – sie gerät ins Wanken. Und das bewirkt nach Lessenich eine zunehmende soziale Nervosität.

Ausmaß des Selbstbetrugs

Henrike Kohpeiß teilt viele Thesen mit dem Soziologen. Auch für sie lebt der westliche Bürger in seiner eigenen Vorstellungswelt, dessen Grenzen gewaltvolle Ausschlüsse mit sich bringen. Und auch für sie ist er Profiteur einer ungleichen Welt. Aber damit ist nach Kohpeiß noch nicht das volle Maß des Selbstbetrugs beschrieben. Der Bürger bringe das Kunststück fertig, sich trotz seiner Indifferenz für humanistisch, aufgeklärt und vernünftig zu halten. Daher müsse er sich in einer noch anspruchsvolleren Weise über sich selbst und seine Beziehung zur Welt täuschen.

Grundlegend für Kohpeiß Analyse ist ihre Annahme einer engen historischen Verbindung von bürgerlicher Subjektivität mit dem Kolonialismus sowie dem transatlantischen Sklavenhandel. Bürgerliche Gesellschaft und Kolonialismus seien „gleichursprüngliche Großprojekte“,  Sklaverei ein „irreduzibler Teil der westlichen Zivilisation“. Daraus folgt für sie, dass die europäische Bürgerlichkeit in ihrem gesamten Selbstverständnis auf dem Ausschluss von kolonisierten und versklavten Menschen beruht. Freiheit für die einen verweise auf radikale Unterwerfung für die anderen, die Vernunft verweise auf die Unvernunft, Eigentum und Bürgerrechte auf radikale Besitzlosigkeit und Entrechtung. Im Kern liege der europäischen Kultur eine „rassiale Differenz“ zugrunde, die auf Besitzergreifung, Herrschaft, Überlegenheit und Ausschluss basiere.

Hier liegt die faszinierende Provokation von Kohpeiß‘ Studie. Gerade in seinen edelsten Idealen –  Rechtsstaatlichkeit, persönliche Autonomie und, ja, auch Vernunft und Aufklärung  – ist der Bürger für Kohpeiß „hochverdächtig“. Ein sich selbst transparentes, sich selbst besitzendes, sich in Selbstkritik übendes Subjekt, dass seine Vernunft für eine universelle Währung hält, ist für Kohpeiß der Kern des Problems. Als „erkaltetes Wesen“ sei der Bürger ungnädig gegenüber allem, was nicht seinem eigenen Ideal entspricht.

Diesen sich selbst zur Krone der Schöpfung hochschwindelnden weißen Bürger kann man dann nach Kohpeiß auch nicht mit eigenen Waffen schlagen. Und das hat Konsequenzen für ihre philosophische Herangehensweise. Wenn die „Vernunft selbst zum Gegenstand“ des Verdachts wird, dann bleibt für Kohpeiß lediglich eine „dekonstruktive Begriffsarbeit“, die „nur auf den Zerfall der problematischen Anteile“ hoffen kann. So arbeitet sie bewusst ohne Definitionen und Ideengeschichte.

Wer ist der Bürger?

Das hat seinen Preis. Besonders, wenn sie die Begriffe mit ihren „historischen Bezügen stetig kippeln lässt“, zugleich aber historische Großthesen von schwindelerregender Allgemeinheit vertritt. Kann man bei der großen Vielfalt rassistischer Ausgrenzung wirklich behaupten, dass  „Antiblackness“ das Fundament ist, „auf dem alle stehen“? Oder wenn Kohpeiß schreibt, dass der Humanismus „als Ganzes faul“ ist, müsste sie dann nicht genauer bestimmen, was mit dem Begriff gemeint ist? Und dann ist da noch die Frage nach dem Bürger. Wie kann man Bürgerlichkeit „transhistorisch“ fassen und gleichzeitig auf ihrem Ursprung mit der neuzeitlichen Sklaverei und dem Kolonialismus bestehen? Bürger bedeutet eben vieles auf einmal – aber bildet der Begriff dann noch ein adressierbares Ganzes, dessen „Merkmale man in unterschiedlichen historischen Konstellationen“ auffinden kann?

Das Problem, wer eigentlich genau gemeint ist, beschäftigt auch Lessenich. Als Soziologe weiß er natürlich um die tiefe Ungleichheit auch innerhalb westlicher Gesellschaften. Aber für ihn ist es eben nicht nur das „berühmt-berüchtigte eine Prozent“ der Superreichen, das in die Verantwortung genommen werden muss. Auch „die oberen und mittleren Mittelschichten“, also die Gruppe „der zu erwartenden Leser- und Leserinnenschaft“ seines Buches (und wohl auch dieses Artikels), die mit ihren Aktiendepots und ihren Eigentumswohnungen nicht nur Spielball, sondern auch Spieler*innen des Kapitals sind. Und letztlich seien sogar „alle heute lebenden Bürger und Bürgerinnen der reichen Gesellschaften“ in ihren Lebensentwürfen an Erhalt und Steigerung eines materiellen Wohlstands orientiert, dessen ökologische und soziale Kosten unhaltbar sind. „Tief in unserem Inneren sind wir Wachstumssubjekte“, schließt Lessenich.

Vernunft, Verdrängung, Verantwortung

Also hat Kohpeiß doch Recht? Ist das bürgerliche Subjekt in seinem gesamten Selbstbild und damit auch die Vernunft der Aufklärung zu überwinden? Nach Lessenich müsste man eher von einer „irrationalen Rationalität“ sprechen, die unsere Wirklichkeit bestimmt. Damit wäre Vernunft aber immer noch ein Maßstab gesellschaftlicher Verhältnisse. Und ist es denn wirklich die Vernunft, die bei der Philosophin ins Visier gerät – oder doch eher ihre Verkehrung? Die erniedrigende Unfreiheit der Sklavin ist doch kein „gelebter Einwand gegen die Idee der Autonomie selbst“, wie Kohpeiß schreibt. Man müsste doch eher – in der genialen Formulierung der Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan – die „Aufklärung vor den Europäer*innen retten“.

Man hört schon den naheliegenden Einwand: Sind wir denn wirklich für alles verantwortlich? Muss man denn, wie Lessenich, auch noch den russischen Angriffskrieg zum Spiegel unserer Vermessenheit machen? Haben wir denn nicht genug eigene Sorgen? Wir müssen ja auch die Miete zahlen, die Kinder erziehen, Steuererklärungen machen und die tausend anderen Dinge der ewigen To-Do-Liste erledigen. Wer hat schon Zeit für das große Ganze. Und wer versteht schon die Weltgesellschaft?

Ganz falsch sind die Einwände nicht. Natürlich gibt es strukturelle Zwänge und volle Terminkalender und unübersichtliche Verhältnisse. Aber man braucht eben auch keine ökonomische Theorie, um zu wissen, wer die Smartphones baut und wer die T-Shirts näht. Man muss nichts von Menschenrechten wissen, um über den Umgang mit Geflüchteten zu urteilen. Und jenseits der zahllosen Ungerechtigkeiten unserer globalen Normalität ist inzwischen ein Ereignis auf den Plan getreten, an dem niemand mehr vorbeikommt. Mit größter menschenmöglicher Gewissheit rollt eine ökologische Katastrophe auf uns alle zu. Kein noch so privilegiertes Leben kann hoffen, davon unberührt zu bleiben.

Und dennoch wollen „die Leute“ es nicht hören. Nicht mit Vernunft, sondern vernünftelnd reagiert der Bürger auf das drohende Ende seiner Welt: mit falschem Realismus, falscher Ausgewogenheit und falscher Sorge um die „Akzeptanz in der Bevölkerung“. Hierin unterscheidet sich die gegenwärtige Situation vielleicht von allem, was früher schon als Ideologie kritisiert wurde. Die Fakten liegen auf dem Tisch und jeder kennt sie. Und es bedarf dann schon einer handfesten „Verdrängung“, wie Volker Lösch in seiner Rede sagte. Oder, wie der Soziologe Nils Kumkar in Bezug auf Alternative Fakten schreibt, um die „Verneinung“ einer geteilten gesellschaftlichen Wahrheit.

Man muss keine Historikerin sein, um sich auszumalen, was mit einer Demokratie passiert, wenn erst einmal die Ernten ausfallen und das Wasser knapp wird. Darum ist es nicht Geringschätzung der demokratischen Verfahren, sondern die höchste Sorge um deren Fortbestand, die Menschen aktuell in den zivilen Ungehorsam treibt. Auch hier beweist die Letzte Generation mehr Realismus als ihre konservativen Kritiker*innen. Die Gruppe fordert inzwischen einen Gesellschaftsrat, in dem eine repräsentative Zahl von Bürger*innen aus allen gesellschaftlichen Gruppen und unter fachlicher Beratung Vorschläge erarbeitet, wie Deutschland doch noch in kürzester Zeit klimaneutral werden kann. Vorschläge, die dann natürlich noch in letzter Instanz ein freies Parlament beschließen muss.

So problembeladen und unzulänglich solche Forderungen wirken, vielleicht gehen sie doch in die richtige Richtung. Denn angesichts unserer hartnäckigen bürgerlichen Normalität ist die Frage ja gerade: Wie überwinden wir eine verarmte Vorstellung von Politik, die nur als staatliche Dienstleistung begriffen wird und von der man möglichst wenig behelligt werden möchte? Wir brauchen dringend neue demokratische Formen, die den Menschen das Gefühl geben, selbst politisch wirksam zu sein – und damit verantwortlich nicht nur für den eigenen Vorgarten. Verantwortlich auch für die unsichtbaren Kosten des eigenen Lebens, im selben Boot mit den anderen, die nicht zufällig denselben Pass haben. Und nur in diesem Sinne, als unbedingte Zeitgenossen und Teile des Ganzen, wären wir dann doch (mit allen anderen) verantwortlich für alles.

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Motherfuckers. Misanthropie im Anthropozän

von Carlotta Voß

Die Wissenschaft hat uns wieder einmal die Uhrzeit gesagt: nicht mehr fünf vor zwölf, nicht mehr zwölf, sondern fünf nach zwölf haben wir nun. Fünf Minuten nach zwölf, das heißt: High Noon ist vorbei mit Blick auf das Handlungsfenster, in dem Erderwärmung von zerstörerischem Ausmaß für die Lebensbedingungen des Menschen und vieler Tier- und Pflanzenarten verhindert werden kann. Es ist so weit gekommen, weil „die Menschheit“ bislang nicht gehandelt hat – so lautet die politische und moralische Botschaft, die das allgegenwärtige Bild von der Mittagsstunde vermitteln soll. Und es ist so weit gekommen, obwohl diese Menschheit doch schon lange bekundet, handeln zu wollen, in völkerrechtlichen Verträgen, Absichtserklärungen und in der Definition von „gefährlicher“ Erderwärmung durch das 1,5-Grad-Ziel.

Fünf nach zwölf wirft als Gegenwartserzählung ein ausgesprochen schlechtes Licht auf „den Menschen“. Und je näher die Einschläge des anthropogenen – also des durch “den Menschen” verursachten –  Klimawandels kommen, desto offener werden Zweifel an der Vernunftfähigkeit und den moralischen Qualitäten angemeldet, die ihm in der Moderne zugeschrieben wurden. Vielleicht ist der Mensch eigentlich unvernünftig, uneinsichtig, gierig und egoistisch. Vielleicht ist er das größte und dümmste Raubtier der Erde, dem „hedonistischer Suizid“ – so der Schriftsteller Ilija Trojanow in der taz – vorbestimmt ist. Vielleicht hat die Polarökologin Nina Karnovsky recht, die uns, die Menschen, in einer Klimawandel-Sondersendung der Late Night Show Jimmy Kimmel live! als „motherfuckers“ bezeichnete. Vielleicht kann das Zeitalter, das wir stolz nach uns benennen, das „Anthropozän“, nur mit unserem selbstverschuldeten Untergang enden.

Der Philosoph Darrel Moellendorf bezeichnet in seinem neuen Buch diese Diskurentwicklung, in der ein negatives Menschenbild populär wird, als Gefahr des „Misanthropocene“ – ein Wortspiel, das „Misanthropie“ (Menschenfeindlichkeit) und „Anthropozän“ verbindet. Gefährlich ist dieses „Misanthropozän“ gemäß Moellendorf mit Blick auf die humanistischen Ideen, auf denen unser Wertegerüst, die Menschenrechte und die liberale Demokratie beruhen. Denn sollten wir kollektiv zu der Überzeugung kommen, dass wir als Menschen unfähig sind, gemeinsam an dem Ziel einer friedlichen und nachhaltigen Welt mit mehr Wohlstand für alle zu arbeiten – wie können wir uns dann noch ernsthaft und überzeugend auf humanistische Vorstellungen beziehen? Kurz gesagt: Wenn sich der Mensch als unvernünftig, uneinsichtig, gierig und egoistisch entpuppt, was sind dann noch Menschenrechte wert? Angesichts dieser bedrohlichen Perspektive sieht Moellendorf es als Aufgabe politischer Philosophie, „realistische Utopien“ zu formulieren, die Grundlage der Hoffnung auf eine nachhaltige und gerechte Zukunft sein und kollektives Handeln in diesem Sinne beflügeln können.

Auch im Klimaaktivismus und Klimajournalismus wird seit einiger Zeit, besorgt über lähmende Resignationserscheinungen in der Bevölkerung, auf Hoffnung gesetzt. Wie kann Wissenschaftskommunikation aussehen, die Hoffnung macht, ohne die Ernsthaftigkeit der Lage herunterzuspielen? Was dürfen, was können, (wie) sollen wir hoffen?, fragt man sich selbst und Psycholog*innen, Klimaforscher*innen, und Philosoph*innen. In vielen Medien endeten die Berichte über den neuen IPCC-Bericht mit den Worten des Vorsitzende des Weltklimarats, Hoesung Lee, der das im Bericht versammelte Wissen als “hoffnungsvolle Perspektive“ auswies: die Prognosen liegen auf dem Tisch, die Wirkungszusammenhänge wurden von uns, den Menschen, hinreichend verstanden, sodass kein Zweifel ist, was „wir“ tun müssen, um die Erderwärmung zu begrenzen. Jetzt müssen wir es nur noch tun.

Ein siebzig Jahre alter Vortrag des Philosophen Helmuth Plessner gibt indes zu denken, ob mit all den Hoffnungsforderungen und -beschwörungen nicht nur kurzfristig das Symptom einer misanthropischen Pathologie bekämpft wird, gegen die es vielmehr eine umfassende Immunisierung braucht – eine Impfkampagne gegen Verzweiflung des Menschen über den Menschen sozusagen. Lange bevor der Beweis der menschengemachten Erderwärmung zum Diskursgegenstand geworden ist, wird in diesem Vortrag (Titel: „Über Menschenverachtung“) Misanthropie als eine Gefahr beschrieben, die der Moderne als solcher innewohnt, und gegen die sich nur gewappnet werden kann, wenn man um die Bedingungen dieser Gefahr weiß. Eine Relektüre lohnt sich – schon deshalb, weil es Plessner in seinem Denken grundsätzlich um den „Menschen“ geht, der im „Anthropozän“ (wieder) zum Problem geworden ist.

Plessner entwickelt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grundzüge einer „Philosophischen Anthropologie“. Ihr Ziel ist es nicht, abschließend eine Summe von Eigenschaften des Menschen oder seine „Substanz“ zu bestimmen. Sondern zu fragen, wie über den Menschen in seiner Mehrdeutigkeit und Unergründlichkeit nachgedacht werden kann. Plessner sieht darin nicht nur eine philosophische Herausforderung, sondern auch eine moralisch-politische Aufgabe. Für ihn ist das Nachdenken über das Menschsein mit dem Begriff „Mensch“ die Voraussetzung dafür, dass Konzepte wie „Menschenwürde“, „Menschlichkeit“ oder „menschliche Verantwortung“ historisch entstehen konnten und wirksam geworden sind – und dass diese Konzepte hinterfragt werden können. Unter der Prämisse, dass sie politisch relevant bleiben sollten, geht es Plessner mit seiner Philosophischen Anthropologie auch darum, die humanistische Tradition wieder sinnvoll zu machen, deren natürliche Autorität spätestens Anfang des 20. Jahrhundert erschüttert ist.

Seinen vielen Kommentaren zum Zeitgeschehen liegt genau dieser Antrieb zugrunde, auch dem Vortrag „Über Menschenverachtung“. Plessner meint zu erkennen, dass in der (europäischen) Öffentlichkeit seiner Gegenwart, den 1950er Jahren, ein generalisierter Menschenhass als Ideologie um sich greift. Ausdrücklich geht es ihm nicht um Misanthropie als private Haltung. Sie ist für ihn ein möglicher und moralisch-politisch zunächst neutraler Ausdruck des Menschseins als „Mensch“.

Menschsein umfasst für Plessner das “Hier und Jetzt”, das ein körpergebundenes Leben auszeichnet, aber auch die Fähigkeit, dieses “Hier und Jetzt” zu reflektieren und sich auf ein anderes “Dort” hin zu entwerfen. Deshalb gehört zum Menschsein auch ein Verständnis von Zukunft. Auf der Ebene der Erfahrung beschreibt Plessner das so verstandene Menschsein als gleichzeitige Erfahrung von Macht und Ohnmacht: Der Macht, sich selbst zu entwerfen, und der Ohnmacht, im Entwurf und seiner Verwirklichung begrenzt zu sein. 

Folgen wir Plessner, dann äußert sich die Macht des modernen Menschen darin, dass er sich als „Mensch“ begreift, also als ein mächtiges Wesen mit Sonderstellung auf der Erde. Dieser Selbstentwurf hat viele wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Errungenschaften möglich gemacht. Aber auch die Erfahrung, dass der „Mensch“ beständig hinter seiner Idee von sich selbst, hinter seinen selbst gesetzten Idealen, zurückbleibt. Plessner nennt das die Erfahrung des „was der Mensch könnte, wenn er wollte“. Und er behauptet, dass sie erst Verbitterung und dann Hass auslöst. Dieser Hass kann sich gegen sich selbst oder einen konkreten Anderen richten – aber auch gegen den Menschen als solches bzw. gegen die Menschheit. Einer solche „Verschiebung des Hasses in die Sphäre des Allgemeinen“, der ideologisierten Misanthropie also, schreibt Plessner einen großen Vorteil zu: Sie macht es dem einzelnen Menschen nämlich möglich, dem konkreten Anderen im sozialen Miteinander (wieder) herzlich zu begegnen. Sofern der Andere ein Exemplar der Menschheit ist und diese Menschheit eben schlecht, kann der Andere schließlich nicht persönlich für seine Unzulänglichkeit verantwortlich gemacht werden. 

Es ist der Preis dieser Bewältigungsstrategie, dass moralischer oder politischer Fortschritt der „Menschheit“ nicht mehr gedacht werden kann, denn die „Menschheit“ ist vom Misanthropen bereits über ihre Schlechtigkeit definiert worden. Während Plessner darin kein Problem zu sehen scheint, sofern die Misanthropie eine Sache der privaten Überzeugungen bleibt, setzt hier seine Kritik an der Misanthropie als Ideologie an: Wenn das grundsätzliche Schlecht-Sein „der Menschheit“ zur Prämisse politischen Handelns wird, ist – so sorgt sich Plessner – auch die Menschenwürde in Gefahr, denn „so wie der Mensch sich sieht, wird er“.

Das Gegenmittel, das Plessner für diese Gefahr im Sinn hat, ist nicht etwa ein positives Menschenbild, in dem der Mensch mit seiner Macht und Vernünftigkeit identifiziert ist. Es besteht auch nicht in realistischen Utopien. Sondern darin, sich bei Objektivierungen des Menschseins immer wieder darauf zu besinnen, dass das Menschsein etwas auszeichnet, das jede Objektivierung in Frage stellt: ein Rest an Unverfügbarkeit sozusagen, eine absolute Unergründlichkeit, ein ewiges Geheimnis. 

In seinem Vortrag über Menschenverachtung führt Plessner diese Haltung des unaufhörlichen Fragens-nach-dem-Menschsein vor, indem er fragt, ob die Misanthropie-als-Ideologie nur eine mögliche, nämlich eine westlich-moderne Objektivierung des Menschen ist. Seine Antwort darauf ist positiv. Er erklärt die ideologische Misanthropie aus spezifisch modernen Lebenserfahrungen und Perspektiven auf das Menschsein. Zwei Charakteristika der Moderne sind für ihn in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Erstens, “Glaubenslosigkeit”. Gemeint ist damit, dass in der Moderne zwar der jüdisch-christliche Gedanke fortlebt, Menschsein bedeute, sündhafter Mensch zu sein. Nur ist dieser Gedanke entkernt um die Vorstellung, als Geschöpf Gottes Vergebung und Erlösung erfahren zu können. Übrig bleibt daher die Annahme: Der Mensch ist schlecht, und also eine pessimistische Grundstimmung. Zweitens zeichnet sich die Moderne für Plessner durch Strukturen aus, die es erschweren, anderen Menschen in ihrer ganzen Individualität und Unergründlichkeit zu begegnen – und die umgekehrt begünstigen, dass man andere und sich selbst nur als Exemplare der „Menschheit“ versteht. Konkret meint er: Die in der Moderne so häufig beklagte Anonymisierung des Zusammenlebens, Bürokratisierung, Verwissenschaftlichung des Nachdenkens über das Menschsein, und Beschleunigung.

2023 scheint Plessners Darstellung der Moderne nichts an Aktualität verloren zu haben. Nicht nur, aber auch, weil sich im Anthropozän als neuester moderner Welterzählung manches von dem zeigt, was Plessner beschreibt. Ganz im Sinne seiner Diagnose von der „Verwissenschaftlichung“ wird der Mensch hier radikal als „anthropos“ angesprochen, als Spezies. In der Konsequenz sind nicht nur die Spuren des Individuums verwischt, sondern auch – wie Stimmen aus dem globalen Süden oder der postkolonialen Forschung schon lange kritisch anmerken – die historischen Machtverhältnisse. Sie strukturieren unser Miteinander als Menschen und manifestieren sich auch darin, dass der übergroße Teil der erderwärmenden Treibhausgasemissionen mit dem Lebensstil und der kolonialen Geschichte der Länder im globalen Norden zusammenhängt.

Das Anthropozän ist auch „bürokratisch“ in dem Sinne, dass in ihm die Welt des Menschen mit dem Erdsystem identifiziert wird und dieses Erdsystem gemanagt und verwaltet werden soll. Auch „Glaubenslosigkeit“ drückt sich im Anthropozän aus, das die apokalyptische Idee eines Endes der Menschheit beinhaltet. Allerdings ist dieses Ende nicht im Sinne der christlichen Theologie von Gott bestimmt und bedeutet auch nicht den Einbruch von Gerechtigkeit, sondern es ist unwillentlich von der Menschheit herbeigeführt und realisiert Ungerechtigkeit. Schließlich ist die Verantwortung für dieses Ende temporal und räumlich, zwischen den Generationen und entlang der Nord-Süd-Achse, ungleich verteilt.

Vielleicht – das gibt Plessner zu denken auf – ist unsere anthropozäne Gegenwart also ein Nährboden für ideologische Misanthropie. Vielleicht droht diese Gegenwart immer und unabhängig von Erfolgen in der Klimapolitik ins Misanthropozän zu kippen. Realistische Utopien können als Gegengift dann weit besser wirken, wenn sie begleitet werden durch eine gesellschaftliche Reflexion und Verhandlung dieses Nährbodens.

Was Plessner angeht, so wünscht er ausdrücklich nicht, dass eine solche Verhandlung in die Ablehnung der Moderne mündet, in die kollektive Rückkehr zu Gottesglauben, vorstädtischen Gemeinschaften und vorindustriellem Gesellschaftstempo (das übrigens aus ökologischer Perspektive so nachhaltig wäre!). In der Moderne sieht er schließlich nicht nur die Gefahr zur Ideologisierung der Misanthrophie, sondern zugleich auch die Bedingung eines Handelns im Bewusstsein der Unverfügbarkeit und der radikalen Freiheit des Menschen.

Folgen wir Plessner, dann liegt der Zweck einer gesellschaftlichen Reflexion der (anthropozänen) Moderne darin, dass Menschen gemeinsam lernen können, mit der Ambivalenz der Moderne umzugehen, das heißt: eine Urteilskraft zu entwickeln, die es erlaubt, der Versuchung der Misanthropie zu widerstehen und Freiheit zu wählen. Sie wäre die Vorbedingung für realistische Utopien im Anthropozän oder einfacher gesagt: für Hoffnung, die “wir” haben können. “Wir” nicht als Exemplare der Spezies Anthropos, sondern als Personen, die miteinander darüber nachdenken, was es heißen kann, Mensch zu sein. 

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Taliban, Reichsbürger, Nazis – Die Kritik an Klimaaktivist*innen hat sich radikalisiert

von Simon Sahner

Die Radikalisierung im Kampf um die Abwendung der Klimakatastrophe war lange befürchtet worden. Jetzt ist sie da. Im Streit um die aktuelle Aktion der sogenannten „Letzten Generation“ ist sie unübersehbar. Radikalisiert haben sich allerdings weniger die Aktivist*innen, sondern vielmehr ihre Kritiker*innen – jedenfalls auf einer verbalen Ebene.

Am vergangenen Wochenende hatten einige Vertreter*innen der „Letzen Generation“ das Denkmal „Grundgesetz 49“ an der Berliner Spreepromenade mit einer Flüssigkeit beschmiert, die sie selbst in Anführungszeichen als „Erdöl“ bezeichneten. Später stellte sich heraus, dass es sich um Tapetenleim und schwarze Dispersionsfarbe gehandelt hatte. Längst ist das Denkmal wieder sauber. Die unzureichende Klimapolitik, so die Aussage der Aktion, beschädigt unsere Grundrechte. Die Aktivist*innen inszenierten, was sie den Politiker*innen vorwerfen: Klimapolitik geht nicht weit genug und zerstört das, was unseren Staat und unser System zusammenhält. Das Grundgesetz verschwindet hinter den Wirtschaftsinteressen der Politik – dargestellt durch das „Erdöl“, das den Grundgesetzestext auf dem Denkmal unlesbar werden lässt. Das Grundgesetz per se war nie in Gefahr und sollte nicht zerstört werden, auch nicht symbolisch. Ein Akt, der in seiner Aussage relativ klar scheint – so klar, dass es beinahe überflüssig ist, ihn hier zu erläutern.

Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob einige Politiker*innen und Journalist*innen nicht Willens oder nicht in der Lage waren, diese Ebenen und die Aussage der Aktion zu erkennen. Sie demonstrierten jedenfalls vor allem eines: Eine rhetorische Radikalisierung. Frank Müller-Rosentritt, Bundestagsabgeordneter der FDP, warf den Aktivist*innen vor „gegen den Staat und gegen die freiheitlich, demokratische Grundordnung“ zu stehen und beschimpfte sie als „Abschaum“. Kristin Lütke, ebenfalls FDP, behauptete, die Verfassung sei mit Füßen getreten worden. Alexander Throm von der CDU äußerte, die „Letzte Generation“ habe ihre „Missachtung gegenüber unserem Grundgesetz deutlich gemacht.“ Noch einen Schritt weiter trieb es der SPD-Abgeordnete Michael Roth, der der „Letzten Generation“ vorwarf „ähnlich wie die Taliban“ Kunst zu zerstören. Der Journalist Nikolaus Blome wiederum befürchtete, als nächstes würden Bücher verbrannt und verglich die Klimaschützer*innen mit der Reichsbürger-Bewegung.

Drastische Vergleiche und Diffamierung

Man muss sich darüber wundern, dass anscheinend keine dieser Personen, deren Aufgabe es unter anderem ist, das alltägliche Theater des politisch-gesellschaftlichen Diskurses zu verstehen, die Aussage der Aktion erkannt hat, oder besser: erkennen wollte. Viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie entweder bereits so voller Wut auf die Aktivist*innen sind, dass ihre Tweets und Äußerungen Kurzschlussreaktionen darstellen, oder dass sie selbst die gebotene Bühne für eine Inszenierung ihrerseits nutzen wollten. Die Vergleiche, die sie bemühten, könnten jedenfalls drastischer nicht sein. Mit den Bücher verbrennenden und Menschen vernichtenden Nationalsozialisten, den kulturzerstörenden und mordenden Taliban und den staatsfeindlichen Reichsbürgern stehen hier die Aktionen in einer Reihe mit Menschheitsverbrechen und rechtsrevolutionären Umsturzversuchen. 

Dass die Menschen hinter dem Protest gleichzeitig noch in menschenfeindlicher Überspitzung als „Abschaum“ bezeichnet werden, überdreht die verbale Eskalationsspirale vollständig. Die Masse an solchen verbalen Entgleisungen aus einem Umfeld, das einen Teil der Gewalten des Staates repräsentiert, ist erschreckend. Vor allem, weil sie als die Legitimierung einer Entwicklung erscheinen, die teilweise nicht mehr bei verbalen Attacken bleibt. Längst sind Klimaschützer*innen immer wieder das Ziel körperlicher Übergriffe und Gewalt. Mit wutentbrannten Gesichtern ziehen Autofahrer*innen Aktivist*innen von der Straße, treten nach ihnen oder fahren direkt auf sie zu, wobei Demonstrant*innen teilweise auch schon angefahren wurden. Auch die Schmerzgriffe, die die Polizei teilweise anwendet oder androht, reihen sich hier ein.

Die Aussagen der Politiker*innen und Journalist*innen befeuern damit eine Stimmung, die offenbar in Teilen der Bevölkerung herrscht und die gefährliche Ausmaße annimmt. Dabei sind die Vergleiche mit Nazis, Taliban und Reichsbürgern nicht nur haarsträubend, sie zeigen auch, wie die Klimaaktivist*innen bis in die höchsten Kreise des Staates und der Gesellschaft gesehen werden: Als Staatsfeinde und Terrorist*innen. Bisher war es meistens allerdings die RAF, zu der eine Linie gezogen wurde. Dass die „Letzte Generation“ mit der RAF nichts gemein hat, hat vor nicht allzu langer Zeit Bernd Ulrich in der ZEIT überzeugend erläutert. 

Auf dem Boden der demokratischen Grundordnung

Das gilt auch für alle anderen terroristischen Gruppen. Die Ziele der Aktivist*innen sind gerade nicht der Staat und unsere Grundrechte. Im Gegenteil, die Aktion vom Wochenende zeigt in ihrer Symbolik sehr deutlich, dass ihnen das Grundgesetz am Herzen liegt und sie es durch die Politik beschmutzt sehen. Während Reichsbürger und ehemals die RAF den Staat und seine demokratische Grundordnung zerstören wollen, will die „Letzte Generation“ genau das beschützen. Ihre Forderungen an die Politik stehen so zentral auf der Grundlage eines demokratischen Systems und fußen auf Respekt vor Politik und Demokratie, dass der Vorwurf der Staatsfeindlichkeit absurd erscheint.

Die Einführung eines Tempolimits von 100 km/h, ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket und einen Gesellschaftsrat, „der Maßnahmen erarbeitet, wie Deutschland bis 2030 emissionsfrei wird“ – das ist alles. Durch die Erläuterungen dieser Forderungen zieht sich durchgehend der Respekt für demokratisch gewählte Politiker*innen als zentrale Wirkungsträger*innen für die Umsetzung dieser Forderungen. Die demonstrative Bereitschaft zur Diskussion, die auf der offiziellen Website der Bewegung beschrieben wird, ist beeindruckend und zeugt von einem grundsätzlichen Interesse an Debatten, das man auf Seiten ihrer Gegner*innen kaum findet. Explizit ist da die Rede davon, dass die Teilnehmenden an dem geforderten Klimarat „per Los gefunden“ werden sollen. „Veganer:innen und Autofans“ sollen gemeinsam zu Lösungen kommen.

Diskutieren statt Diffamieren

Die Forderungen kann man im Kern diskutieren und ob ein universelles Monatsticket jetzt 9€ oder vielleicht auch 19€ kosten könnte und auch ob das Tempolimit am Ende doch bei 120km/h liegt, wäre Verhandlungsmasse. Von einem Angriff auf Staat und Ordnung ist aber nirgendwo etwas zu sehen. Und das wissen auch diejenigen, die der „Letzten Generation“ genau das vorwerfen. Entscheidend ist vielmehr, dass die scharfe Verurteilung der Aktionen und die Parallelisierung mit Terror und Staatsfeindlichkeit vor allem zwei Effekte hat. Der eine ist das Schüren einer grundsätzlichen Wut in Teilen der Bevölkerung, die sich – nicht zu Unrecht – von der „Letzten Generation“ gestört fühlt. 

Viel sinnvoller und der Funktion von Politik angemessener wäre es, Brücken zwischen aufgebrachten Aktivist*innen mit nachvollziehbaren Anliegen und aufgebrachten Bürger*innen, die im Stau stehen, zu schlagen. Beispielsweise, indem man die Forderungen anerkennt, sie zur Debatte stellt und der Öffentlichkeit aufzeigt, dass die Ideen der „Letzten Generation“ grundsätzlich vor allem eines nicht sind: Absurde Vorschläge, die unsere Ordnung bedrohen.

Der zweite Effekt der verbalen Radikalisierung aus der Politik ist eine Absicherung der eigenen Position. Mit Terrorist*innen wird nicht verhandelt und mit Extremist*innen auch nicht. Wenn man also Menschen mit diskutierbaren Forderungen zu Terrorgruppen und extremistischen Organisationen erklärt, schließt man sie damit aus dem offiziellen Diskurs aus und muss sich zumindest auf einer Sachebene auch nicht mehr mit ihnen auseinandersetzen. Anders als terroristische Vereinigungen, mit denen tatsächlich nicht debattiert werden sollte, respektiert die „Letzte Generation“ den Staat und seine demokratische Grundordnung allerdings auf einer ganz grundsätzlichen Ebene. Der erste Wert, den sich die „Letzte Generation“ auf die Fahne schreibt, ist Gewaltfreiheit in Verbindung mit einer Bestätigung des Rechtssystems: „Wir akzeptieren die Konsequenzen unserer Taten und stehen mit unserem Gesicht und unserem Namen dazu.“ Deswegen ist die Gleichsetzung mit der Reichsbürger-Bewegung auch faktisch falsch.

Wer schadet dem Klimaschutz?

Man kann von den Aktionen der „Letzten Generation“ halten, was man will, und ob die unterschiedlichen Formen des Protests jede für sich genommen legitim und sinnvoll ist, ist diskutabel. Ob es eine angemessene Geste ist, ein Denkmal mit Farbe zu beschmieren, das von einem israelischen Künstler zu Ehren des Textes geschaffen wurde, der die erste stabile Demokratie auf deutschem Boden hervorgebracht hat, ist zumindest fragwürdig. Dazu gehört aber auch die Wahrheit, dass hunderttausende Jugendliche bei den Protesten von Fridays For Future zwar ein neues Bewusstsein für Klimaschutz erzeugt haben, das jedoch nicht zu zentralen Politikwechseln geführt hat, die ausreichen würden, um die größten Auswirkungen der Klimakatastrophe abzuwenden. 

Der Vorwurf der Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die Aktion habe dem Klimaschutz geschadet, ist deswegen auch absurd. Dem Klimaschutz schadet in erster Linie die Politik, wenn sie nicht handelt und dazu gehört auch die Vermittlung notwendiger, unpopulärer Entscheidungen. Eine Bewegung zu diffamieren, deren Forderungen zumindest in ihrer vernünftigen Grundhaltung anerkannt werden könnten, schadet jedenfalls dem Klimaschutz mehr als die ein oder andere unbedachte Aktion, bei der außer materiellem Minimalschaden nichts passiert ist.

Man muss von Politiker*innen und Journalist*innen nicht erwarten, dass sie bei Protestaktionen, die Straßen blockieren und Denkmäler und Gemälde symbolisch beschmutzen – zerstört wurde keines – applaudierend daneben stehen. Man kann aber erwarten, dass ihre Kritik differenziert und angemessen ist und dass sie versuchen, sich konstruktiv mit dem auseinanderzusetzen, was solche Aktionen auslöst. Sonst sind es am Ende manche aus Politik und Journalismus, die sich vorwerfen lassen müssen, einen Diskurs radikalisiert und dem Klimaschutz geschadet zu haben.

Foto von Markus Spiske auf Unsplash

Wo bleibt die (gute) Literatur für die Gegenwart? – Eva Menasses imaginärer Klimaroman

von Solvejg Nitzke

Neulich stellte Bernd Ulrich in der ZEIT eine interessante Frage:

Warum gibt es fast keine Romane, die von der ökologischen Katastrophe handeln, die uns widerfährt und die wir sind, die sich bislang ungebremst entfaltet und so oder so das Leben der Menschen zutiefst verändern wird, nein: schon lange verändert?

Er kann es nicht wissen, aber das ist sozusagen mein Batsignal. Ich bin Literaturwissenschaftlerin mit starkem Hang zu cultural studies und beschäftige mich seit über zehn Jahren mit Klima, Klimawandel, ökologischen Großkrisenlagen und den Problemen, die das für das Lesen und Schreiben mit sich bringt. Erweitert man das Feld ein wenig um Katastrophen im Allgemeinen, dann bin ich schon mein ganzes Wissenschaftlerinnenleben damit beschäftigt und so mir das Wissenschaftszeitvertragsgesetz keinen Strich durch die Rechnung macht, wird sich das so bald auch nicht ändern. Ich war also entzückt, diese Frage am Anfang eines Artikels zu lesen, den einer der prominentesten Journalisten Deutschlands geschrieben hat. Endlich nicht mehr nur Einzelrezensionen, die oft überrascht feststellen, dass der ein oder andere Science Fiction, Cli-Fi oder Öko-Roman doch gar nicht so schlecht zu lesen sei und obendrein auch noch eine wichtige politische Botschaft habe, sondern ein zentral platzierter Artikel, von jemandem, dessen Ko-Autor*innenschaft mit FFF-Aktivistin Luisa Neubauer ja zumindest von Interesse am Thema zeugt. 

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