Ökonomie der Ungleichheit – Neue Bücher über Wirtschaft und Gender

von Daniel Stähr

[CN Sexualisierte Gewalt, Misogynie]

Der globalen Wirtschaft gehen jedes Jahr 160 Billionen Dollar verloren, durch die ungleiche Bezahlung und den ungleichen Zugang zu wirtschaftlicher Partizipation der Geschlechter. Frauen besitzen weltweit nur 18,3 % des Landes. Frauen sind von der Erbschaft in vielen Teilen der Welt ausgeschlossen und selbst in den High-Income-Ländern Europas und Nordamerikas sind sie in den seltensten Fällen die Erben von Unternehmen.[1] Sowohl im globalen Finanz- als auch Güterhandel kontrollieren Männer 99% der Geschäfte, während Frauen weltweit jeden Tag in Summe ca. 12 Milliarden Stunden unbezahlte Carearbeit (Kinderbetreuung, Haushaltsarbeit, Pflege) verrichten. Es existiert kein Land auf der Welt, in dem Frauen im Schnitt dasselbe verdienen wie Männer.[2]

Das sind nur einige Beispiele für die XX-Ökonomie (gesprochen: Doppel X Ökonomie), die Linda Scott in Das Weibliche Kapital beschreibt (übersetzt von Stephanie Singh). Die Wirtschaftswissenschaftlerin war Professorin an der Saïd Business School der Oxford University und ist inzwischen emeritiert. Unter der XX-Ökonomie versteht sie eine Schattenwirtschaft, in der die weibliche (Wirtschafts-)Tätigkeit durch ökonomische Hindernisse und kulturelle Zwänge getrieben wird. Auf 350 Seiten zeichnet Scott ein globales Bild dieser XX-Ökonomie und beschreibt die Mechanismen, die dazu führen, dass Frauen strukturell diskriminiert werden. Sie verlässt sich dabei nicht auf die bestehenden Daten, sondern ordnet diese kritisch und misstraut ihnen systematisch: „Wenn wir sinnvolle Veränderungen herbeiführen wollen, ist das Wissen um das, was hinter den Daten liegt, von entscheidender Bedeutung, damit unsere praktischen Maßnahmen nicht scheitern oder gar Schaden anrichten.“

Immer wieder macht sie klar: das System, das Frauen benachteiligt, ist dasselbe, das die Daten bereitstellt. Nicht selten wird die Realität dadurch verzerrt. Damit reiht sich Scotts Text auch in die Arbeiten ein, die die sexistische Datenlücke thematisieren. So hat die Journalistin Caroline Criado-Perez erst Anfang des Jahres mit ihrem Buch “Unsichtbare Frauen” ein Plädoyer zur Schließung des Gender Data Gaps vorgelegt . Ein Beispiel verdeutlicht das Problem. So galten von Frauen geführte Unternehmen, basierend auf vermeintlich objektive Daten wie Umsatz, Gewinn oder Wachstumsraten, lange als weniger rentabel.

Daraus wurde der Schluss gezogen, dass Frauen „von Natur aus“ weniger unternehmerisches Geschick besäßen. Die Wahrheit ist allerdings differenzierter. Frauen haben etwa fast überall deutlich schlechteren Zugang zu Krediten. Sie zahlen bei gleichen Voraussetzungen im Schnitt höhere Zinsen auf Unternehmenskredite als Männer. Das ist jahrzehntelang niemandem aufgefallen, weil Banken lange Daten nicht nach Geschlechtern getrennt erhoben haben (und es in vielen Ländern der Welt immer noch nicht tun, dort wo es getan wird, gleichen sich die Daten aber auf erstaunliche Weise unabhängig vom kulturellen Hintergrund). Wenn Frauen Kredite sowohl im geringeren Umfang als auch zu höheren Zinsen bekommen, dann ist es nur folgerichtig, dass es ihre Unternehmen schwieriger haben.

Anekdotische Evidenz als Appell

Scott geht es um mehr, als nur den Status quo darzustellen. Sie will mit Mythen und Vorurteilen aufräumen, die durch verzerrte Daten scheinbar bekräftigt werden. Streng wissenschaftliche Argumente werden mit Anekdoten aus ihrer beruflichen Erfahrung kombiniert. Dabei kommt der Autorin ihre jahrelange Feldarbeit zugute. So hat sie für Regierungsorganisationen, NGOs aber auch privaten Unternehmen etwa in Ghana, Uganda, Bangladesch, Südafrika, Moldawien oder Brasilien Projekte begleitet oder geleitet, die eine Verbesserung der Lage der Frauen vor Ort erreichen wollten. Wenn Scott also Argumente dafür anführt, dass die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen der beste Weg ist, um sie vor Gewalt zu schützen, dann erzählt sie beispielhaft von ihren Erlebnissen in Afrika, Asien oder Europa, wo sie Frauen kennen gelernt hat, die aufgrund ihrer finanziellen Abhängigkeit (sexualisierte) Gewalt ausgesetzt waren. Die verfügbaren Daten belegen den Punkt, dass die wirtschaftliche Selbstständigkeit Gewalt gegen Frauen reduziert, sehr deutlich, aber die teils drastischen Schilderungen von individuellen Schicksalen geben den Zahlen ein Gesicht und eine Dringlichkeit. Das Weibliche Kapital ist ein Appell, den Worten Taten folgen zu lassen.

Der Umgang mit Frauen ist eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte. […] Um der Gerechtigkeit und des Mitgefühls willen, aber auch im Sinne des materiellen Wohlstands der gesamten Spezies rufe ich euch auf, euch auf diese wichtige Reise zu machen und euch der Bewegung zur wirtschaftlichen Stärkung der Frauen anzuschließen.

Um ihre Thesen zu stützen und einigen der bekanntesten Argumente von Gegner*innen der Gleichstellung von Mann und Frau zu widerlegen (beispielsweise: „Männer sind evolutionär die Ernährer der Familie“, „Es ist von der Natur nun mal so vorgesehen, dass Frauen zu Hause bleiben und sich um die Kinder zu kümmern.“) führt Scott eine enorme Fülle an Quellen an. Dabei beschränkt sie sich nicht nur auf wirtschaftswissenschaftliche Belege, sondern nutzt Forschungen aus der Anthropologie, Neurologie, den Kultur- und Geschichtswissenschaften, der Psychologie, der Anatomie und der Soziologie. Genau hierin besteht einer der großen Vorzüge des Buches. Auf 350 Seiten scheint es eigentlich völlig unmöglich mehrere Jahrtausende der Evolutionsgeschichte von Mann und Frau, sowie die Forschung zu der Entwicklung des menschlichen Gehirns und eine Chronologie der ökonomischen Benachteiligung der Frau zu beschreiben. Scott schafft es aber, die für ihre Argumentation relevanten Fakten zu präsentieren, ohne sich in der schieren Masse ihrer Bezugspunkte zu verlieren. Immer wieder führt sie ihre Exkurse zurück zu ihrem eigentlichen Anliegen: die Verbesserung der Situation von Frauen heute.

Etwa zeigt Scott am ersten Gleichstellungsgesetz Großbritanniens exemplarisch welche strukturellen Probleme es in der Gleichstellungspolitik gibt. 1970 hatte die britische Regierung den Equal Pay Act verabschiedet, nicht so sehr aus Überzeugung, sondern weil ein solches Gesetz Bedingung für den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war (die EWG war Vorläuferin der heutigen EU). Das Gesetz umfasst gerade einmal zehn Seiten, inklusive eines Passus, der sich in der Nachbetrachtung als fatal herausstellte: „[die Maßnahmen] sind auf Frauen und ihre Behandlung im Vergleich zu Männern bezogen, doch sie gelten gleichermaßen umgekehrt für Männer und ihre Behandlung im Vergleich zu Frauen.“ Diese Stelle wurde damals in das Gesetz integriert, um der Wut der Männer über eine mutmaßliche Bevorzugung von Frauen vorzubeugen.

Die Folge war keinesfalls, dass von da an Männer und Frauen gleiche Aufstiegschancen erhielten, oder gleich bezahlt wurden. Vielmehr hatte auf Grundlage des Equal Pay Act jeder Mann die Chance zu klagen, wenn eine Frau mit gleicher Qualifikation an seiner Stelle befördert wurde, mit dem Argument der „positiven Diskriminierung“ von Frauen. Nimmt man hinzu, dass zu diesen Zeiten jedes Unternehmen in Großbritannien seine Angestellten entlassen konnte, wenn sie über ihr Gehalt sprachen, festigte der Equal Pay Act von 1970 auf einer institutionellen Ebene die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, mit Folgen die bis heute reichen.

Was Scott hier verdeutlicht ist, dass Maßnahmen, die zu einer Gleichstellung führen sollen, aber Männer und Frauen gleich behandeln, per Design zum Scheitern verurteilt sind. Sie ignorieren nämlich die über Jahrhunderte bestehende Machtasymmetrie zwischen den Geschlechtern und zementieren diese so indirekt. Eine Politik die Gleichstellung ernst meint, muss Frauen zwangsläufig “positiv diskriminieren”, um die bestehenden Strukturen aufzubrechen und die bestehende Lücke zu schließe (gleiches gilt für jede marginalisierte Gruppe, die innerhalb einer Gesellschaft systematisch schlechter gestellt ist). Ein Beispiel für einen Ansatz der tatsächlich in der Lage ist den Gender Pay Gap zu schließen kommt ausgerechnet aus den USA. Dort wuchsen die Löhne von Frauen zwischen 1970 und 1990 in Bezug auf die Gender Pay Gap um 30%.

Treibend für diese Entwicklung waren zwei Gründe. Präsidentielle Exekutivverordnungen, die Unternehmen zu ernsthaften und überprüfbaren Bemühungen, die Geschlechterdiskriminierung aktiv abzubauen, verpflichteten, und der relativ einfache Zugang zu Sammelklagen, wenn gegen diese Verordnung verstoßen wurden. Gerade diese Last der Gleichberechtigung von den Schultern einzelner Personen zu nehmen, ist essentiell. In vielen Ländern besteht zwar die Möglichkeit gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz zu klagen. Diese Prozesse sind aber oft lang und teuer und nur die wenigsten Frauen haben die Ressourcen, so eine gerichtliche Auseinandersetzung zu führen. Hätten die USA diesen Trend beibehalten gäbe es dort heute keine Einkommenslücke mehr. Vor allem die Besetzung des Obersten Gerichtshofs mit konservativen Richter*innen während der 80er und 90er Jahre, hat aber dazu geführt, dass viele der nachweislich wirksamen Maßnahmen in den Folgejahren zurückgenommen wurden.

Frauen werden nicht geringer bezahlt, weil sie weniger gebildet, motiviert, oder ehrgeizig sind, weil sie seltener nach mehr Gehalt fragen, schwächer, feiger oder fauler sind oder an den Herd gehören. Keine dieser oder der unzähligen anderen Ausreden, mit denen wir den Frauen kulturell selbst die Schuld an ihrer Situation geben, ist richtig. Sie werden geringer bezahlt, weil feindselige Männer und die von ihnen geschaffenen Institutionen immer wieder Wege finden, der Gleichstellung der Geschlechter auszuweichen.

Insgesamt steht Das Weibliche Kapital nicht so sehr in der Tradition der Arbeiten über die Ungleichheitsentwicklung von Thomas Piketty, Branko Milanović oder Jeffrey Sachs, mit denen sie auch von ihrem deutschen Verlag (Hanser) beworben wird. Vielmehr geht Das Weibliche Kapital über die Forschung der genannten hinaus, weil hier neben der Ungleichheit eine zweite Dimension, die der Geschlechterdiskriminierung, verhandelt wird. Damit ist sie den Arbeiten der Ökonomin Claudia Goldin wesentlich näher, die in den 1990er und 2000er-Jahren herausragende Forschung zur Einkommensungleichheit und den besonderen Charakteristika der weiblichen Arbeitskraft betrieben hat. So zeigt Goldin in ihrer Pollution Theory of Discrimination, dass, weil Frauen von Männern als weniger kompetent wahrgenommen werden, die Aufnahme einer Frau in einen Berufsstand, der bisher vor allem Männern vorbehalten war, das Prestige dieses Berufs in den Augen der Männer senkt. Das führt dazu, dass Frauen der Zugang zu männerdominierten Berufen erschwert wird. Scotts Arbeit lässt sich zumindest in Teilen als empirische Bestätigung von Goldins Modell interpretieren.

Dennoch gibt es blinde Flecken. So ist ist die binäre Weltsicht im gesamten Buch problematisch. Scott beschränkt sich auf die Unterscheidung von Männern und Frauen und gibt dem Text wenig Platz für die Folgen von Mehrfachdiskriminierung. Die besonderen Bedrohungen und Hindernissen denen trans Frauen und Männer oder nicht-binäre Personen ausgesetzt sind, finden keinen Platz. Auch die Hautfarbe spielt bei Scott lediglich eine untergeordnete Rolle. Zwar führt sie für Südafrika die Unterschiede der schwarzen und weißen Bevölkerung exemplarisch an, aber für die USA oder Europa wird nicht darauf eingegangen, dass weiße Frauen strukturell in einer besseren Situation sind als Women of Color. Das ist bedauerlich, da Scott ansonsten sehr genau auf die unterschiedlichen akuten Bedürfnisse von Frauen in unterschiedlichen Regionen der Erde (wie zum Beispiel: Ländern in sub-Sahara Afrika vs. Europas) eingeht, ohne diese gegeneinander auszuspielen, oder die Kämpfe der jeweiligen Frauen zu hierarchisieren.

Eine andere Kritik, der sich Scott regelmäßig ausgesetzt sieht (zuletzt etwa durch Meredith Haaf in der Süddeutschen Zeitung) ist ihr Wirken innerhalb der bestehenden kapitalistischen Strukturen. Immer wieder muss sie sich für ihre Zusammenarbeit mit multinationalen Konzernen wie Walmart oder dem Kosmetikunternehmen Avon rechtfertigen. Scott ist dort Mitglied in Kommissionen, die eingesetzt werden, um die Bemühungen zur Förderung von Frauen innerhalb der Unternehmen oder deren Vertriebsketten zu evaluieren und zu verbessern. Dieser Kritik, die die Autorin in ihrem Text selbst aufgreift, liegt der Gedanken zugrunde, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder man ist für oder gegen das gegenwärtige kapitalistische System. Dass es aber möglich ist, das aktuelle Wirtschaftssystem mindestens in Teilen abzulehnen, sich aber dennoch innerhalb des Systems dafür einzusetzen, die Lebensumstände von Menschen zu verbessern, wird anscheinend negiert. Scott geht es allerdings nicht darum, konkrete Aussage darüber zu machen, wie für sie ein ideales Wirtschaftssystem aussehen würde (abgesehen davon, dass in so einem System alle Menschen den gleichen Zugang zu Ressourcen haben müssen). Vielmehr geht es ihr darum, konkrete Möglichkeiten aufzuzeigen, um die reale Lebensqualität von Millionen von Frauen zu verbessern. Man muss den Kapitalismus nicht lieben, um das als ein wünschenswertes Ziel anzuerkennen.

Der Frauenatlas

Eine perfekte Ergänzung zu Scotts Buch ist in vielerlei Hinsicht Der Frauenatlas von Joni Seager. 1987 erschien der Frauenatlas der US-amerikanischen Geografin erstmals in den USA und wurde seitdem unregelmäßig mit aktualisierten Daten neu aufgelegt. 2020 erscheint, ebenfalls bei Hanser die längst überfällige deutschsprachige Version der aktuellen Auflage (in der Übersetzung von Renate Weitbrecht und Gabriele Würdinger). Seager gelingt es, auf fast 200 Seiten und mithilfe von über 150 Infografiken und Karten ein umfassendes Bild der Situation von Frauen auf der Welt zu zeichnen und dabei so wenig verallgemeinernd zu werden wie möglich.

Doch wenn wir etwas aus den modernen feministischen Bewegungen gelernt haben, dann das tatsächlich bestehende Unterschiede zwischen Frauen nicht durch pauschale Verallgemeinerungen verschleiert werden dürfen. Diese Unterschiede zeigen sich an den Bruchlinien von Race, Alter, Sexualität, Religion, Gesellschaftsschicht und Herkunftsland.

So widmet Seager einem Abschnitt explizit der schwierigen Datenlage, sobald die Weltsicht eines binäres Geschlechterverhältnis aufgegeben wird. Durch die Vermittlung der zahlreichen Fakten mithilfe von Infografiken und Karten ist es Seager möglich, differenziert vorzugehen und immer wieder besondere Situationen hervorzuheben. Ergänzt und eingeordnet werden diese Zahlen durch kurze Texte, die enorm zum Verständnis, gerade einiger komplexerer Zusammenhänge, beitragen. Der Frauenatlas zeigt dabei nicht nur die Defizite, sondern präsentiert auch Fortschritte in den Bemühungen der letzten dreißig Jahre. Ohne dabei einen Zweifel aufkommen zu lassen, wie viel Arbeit noch vor uns liegt, bis eine gerechte Welt für Männer und Frauen erreicht ist.

An zwei Beispielen lässt sich das Vorgehen im Frauenatlas illustrieren. In einer Weltkarte stellt Seager etwa die Gesetzeslage bei Abtreibungen für jedes Land dar. Anschließend setzt sie die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche mit den Gesetzen in Beziehung, um so zu zeigen, dass das Verschärfen von Abtreibungsgesetzen nicht zu weniger Abtreibungen führt. Ganz im Gegenteil, je einfacher und sicherer der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen ist, desto weniger gibt es. In einem anderen Abschnitt setzt sich die Autorin mit dem weltweiten Analphabetismus auseinander. Nach wie vor ist ein großer Teil der Analphabet*innen weiblich (ca. zwei Drittel), leichte Fortschritte gibt es bei der Alphabetisierung von Frauen dennoch. Zwischen 1990 und 2014 hat sich der globale Anteil der Frauen, die lesen und schreiben können von 69% auf 82% erhöht. Getrieben wird diese Entwicklung durch den besseren Bildungszugang für Mädchen in vielen afrikanischen Ländern. So wuchs der Anteil im Senegal von 17% auf 44%, auf den Kapverden von 53% auf 85% und in Burundi von 28% auf 83%.

Ergänzend dazu stellt Seager außerdem Daten über den funktionalen Analphabetismus in den USA bereit, wo die Lesekompetenz von ca. 36. Millionen nicht über das Niveau der 3. Klasse hinausgehen. Hier existiert keine Gender-Lücke mehr, dafür wird auf die Diskriminierung von Minderheiten verwiesen. Schwarze und Hispanics sind in den USA drei bis vier Mal so häufig von funktionalem Analphabetismus betroffen wie Weiße. Wo die zahlreichen Daten in Das weibliche Kapital teilweise erschlagend wirken (was der Form des Textes geschuldet ist), ist Der Frauenatlas eine ideale Datensammlung weil er, in verschiedene Ober-Kategorien unterteilt (über Bildung, Recht auf körperliche Selbstbestimmung bis hin zu Macht und Besitz), übersichtlich den Status Quo aufbereitet.

Eine misogyne Disziplin

Es gibt noch eine weitere Lesart der beiden Bücher, die über den Appell für die Gleichberechtigung der Frauen hinausgeht: Eine Kritik an der Ignoranz der Wirtschaftswissenschaften. Ein Beispiel mit dem Scott in Das weibliche Kapital einführt, ist die Debatte um Sexismus innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, die 2017 und 2018 vor allem in den großen amerikanischen Zeitungen geführt wurde (etwa in diesen lesenswerten Texten von Elizabeth Winkler und Diane Coyle). Ausgelöst wurde sie durch die Abschlussarbeit der Berkeley-Absolventin Alice Wu. Wu hatte Millionen von Postings eines anonymen Forums analysiert, auf denen sich Studierende der Wirtschaftswissenschaften über Jobs und Job-Gerüchte austauschen konnten. Sie analysiert, ob sich die Sprache, in der über weibliche oder männliche Wissenschaftler*innen geschrieben wurde, signifikant voneinander unterscheide. Die drei häufigsten Wörter in Bezug auf Frauen waren „Hotter“, „bb“ (als Kurzform für „baby“), „Lesbian“ (gefolgt von Begriffen wie „Feminazi“ oder „anal“), bei den Männern waren es „Mathematician“, „Pricing“, „Adviser“.

Diese Missachtung von Frauen in den Wirtschaftswissenschaften ist kaum verwunderlich. Die Disziplin weigert sich seit über einem Jahrhundert die unterschiedlichen Voraussetzungen für Männer und Frauen an der Wirtschaft teilzuhaben, in ihre Modelle zu integrieren. Es ist umso unverständlicher, da die Kritik, die sich die Volkswirtschaftslehre oft öffentlich gefallen lassen muss, fast banal erscheint. Wenn in der Öffentlichkeit die VWL kritisiert wird, fallen schnell Sätze wie „der Markt regelt alles“ als vermeintliches Mantra der Ökonom*innen, obwohl in jedem Grundstudium „Marktversagen“ als Teil der Wohlfahrtsökonomie gelehrt wird.

Auch der „Homo Oeconomicus“ muss immer wieder herhalten, als vermeintlicher Beweis der disziplinären Realitätsferne, obwohl er, wenn er denn überhaupt noch verwendet wird, einzig eine Erleichterung für Berechnungen ist und als Baseline fungiert (nach dem Motto: „Wenn es für den Homo Oeconomicus schon nicht funktioniert, funktioniert es für nicht rationale Agenten erst recht nicht“). Die Annahme der rationalen Individuen und perfekten Märkte ist eher etwas, das neoliberale Nachwuchspolitiker*innen auf Twitter für bare Münze nehmen, aber nichts, das in der internationalen Ökonomie ernst genommen wird. Wohingegen die Unterschiedslosigkeit im Zugang zu Ressourcen von Mann und Frau ein kaum infrage gestelltes Faktum der VWL ist. Es herrscht weiterhin die Meinung, dass zwei Individuen, die sich gleich verhalten (wenn auch eventuell irrational) am Markt (der durchaus Versagen kann) die gleichen Ergebnisse erzielen. Eine absurde Vorstellung.

Wenn Scott “Das weibliche Kapital” von der Gleichstellung der Frau als dem größten vorhandenen Wachstumsbeschleuniger spricht, dann tut sie das nicht in dem Glauben an das Allheilmittel des ständigen Wirtschaftswachstums (ganz im Gegenteil). Vielmehr hält Scott der Wirtschaftswissenschaft den Spiegel vor. Eine Disziplin, deren Mitglieder das Wachstum von Volkswirtschaften noch allzu oft als wichtigstes Maß zur Messung gesellschaftlichen Fortschritts und Wohlstands nutzen, ignoriert freiwillig den potenziell größten Wachstumsfaktor.

In den letzten 30 Jahren gab es durchaus Forschungen dazu, Gender-Spezifikation in ökonomische Modelle zu integrieren, aber diese Ansätze der “feminist economics” [3] sind weit davon entfernt, reale Auswirkungen darauf zu haben, wie einflussreiche ökonomische Modelle heute gelehrt oder angewendet werden. Das Frauen systematisch schlechteren Zugang zu allen Märkten haben als Männer wird aus allen populären Modellen wegrationalisiert. Meistens, weil dieses Problem von den entsprechenden Wissenschaftler*innen negiert wird. Mit dem Argument, dass Frauen, die sich wie Männer verhalten, auch die gleichen Erträge haben würden wie Männer, wird das Problem von Anfang an in das Reich der Mythen verbannt. Die Schuld wird, wie so oft in der Geschichte, bei den Frauen selbst verortet.

80 aus 85

Die Ursache dieses Problem ist offensichtlich. Die Wirtschaftswissenschaften, angefangen bei Adam Smith über John Maynard Keynes bis zu Paul Krugman sind eine Wissenschaft von weißen Männern für weiße Männer. 80 der 85 Preisträger des Nobel Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften sind weiße Männer. Lediglich die beiden in Indien geborenen Amartya Sen und Abhijit Banerjee, der Schwarze Ökonom William Arthur Lewis und die beiden einzigen weiblichen Gewinnerinnen Elinor Ostrom und Esther Duflo durchbrechen diese Riege. Nun mag man argumentieren, dass dieser Preis sowieso irrelevant ist, aber er bestimmt zum einen immer noch, welche Stimmen in der öffentlichen Debatte um ökonomische Fragen gehört werden und ist zum anderen ein Indikator dafür, wessen Forschungen als relevant betrachtet wird. In dieser einseitigen Perspektive liegt das größte Problem der Wirtschaftswissenschaften im 21. Jahrhundert.

Dass dieses System lange Daten produziert hat, die nicht die tatsächliche Situation von Frauen widerspiegeln, verwundert kaum. Zumal sie von Forscherinnen oder Schwarzen Ökonom*innen wesentlich mehr verlangt als von ihren weißen, männlichen Kollegen. Will eine Schwarze Ökonomin systematische Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen oder Männer und Frauen in Modellen etablieren, so bräuchte sie neben ihrer ökonomischen Expertise unter anderem auch eine anthropologische und/oder politikwissenschaftliche, um die Relevanz ihres Anliegens überhaupt erst einmal zu begründen. Nur wenn sie diese Expertise in anderen Disziplinen nachwiese, würde ihr eventuell zugehört. So geht es auch Linda Scott. Es hätte nicht gereicht, wenn sie in ihrem Buch die Ungleichbehandlung von Frauen als Tatsache vorausgesetzt hätte, um sich anschließend auf Lösungsvorschläge zu konzentrieren. Sie musste zuerst belegen, dass das Problem existiert und nicht durch die freien Entscheidungen von Frauen ausgelöst wird und dann zahlreiche absurde und pseudowissenschaftliche Argumente zu vermeintlich natürlichen Unterschieden zwischen Männern und Frauen widerlegen, um zu ihrem eigentlichen Punkt zu kommen.

Und darin liegt vielleicht die größte Stärke und Leistung der Bücher von Scott und Sears – dass sie diese Arbeit zukünftigen Forscherinnen abgenommen haben. Beide liefern eine so große Menge an wissenschaftlichen Belegen und Daten, dass sie nicht einfach mit einem „Männer und Frauen sind von Natur aus unterschiedlich“ oder „der Gender Pay Gap existiert nur, weil Frauen sich schlechter bezahlte Berufe aussuchen“ [4] abgetan werden können. Das macht sie zu Texten, deren Wert in der öffentlichen Debatte um die wirtschaftliche Situation und Gleichberechtigung von Frauen nicht unterschätzt werden darf.

[1] Ich verwende an dieser Stelle den Begriffe Low Income Länder anstelle von den diskriminierenden Begriffen „Entwicklungsländer“ oder „3. Welt Länder“. Es gibt in der ökonomischen Praxis feste Grenzen die Länder anhand des BIP pro Kops in Low-Income Countries, Middle-Income Countries und High-Income Countries einteilen. Diese Begriffe sind sowohl wissenschaftlich genauer und reproduzieren keine Stereotype von „unterentwickelten“ Ländern. Ich ermutige jede*n in Zukunft ebenfalls auf diese Begriffe zurückzugreifen.

[2] Die Daten stammen aus Linda Scotts „Das Weibliche Kapital“ oder Joni Seagers „Der Frauenatlas“. Davon abweichende Quellen sind weiter unten aufgeführt.

[3] 1988 veröffentlichte die neuseeländische Ökonomin Marilyn Warin “If Women Counted” und begründete damit die “feminist economics”. Seit den 90er-Jahren gibt es verstärkt Arbeiten, die aufzeigen wo die Wirtschaftswissenschaften einen Gender-Bias haben, welche negativen Folgen dieser hat und wie er adressiert werden könnte. Nilüfer Çagatay, Myra Strober, Alisa McKay, Nancy Folbre und Julie A. Nelson gehören zu einigen der relevantesten Ökonominnen der feministischen Wirtschaftswissenschaften. Bezeichnend für den Stand der deutschen Debatte diesbezüglich ist, dass es nicht mal einen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag zu dieser Disziplin der VWL gibt.

[4] Was den Gender Pay Gap angeht, ist das die wohl beliebteste Ausrede, um ihn zu negieren. Tatsächlich ist die Kausalität aber andersrum. Berufe, die vor allem von Frauen ausgeführt werden, werden schlechter bezahlt. Treten in einen Beruf, der vormals von Männern dominiert wurde, mehr Frauen ein, sinkt der Lohn.

Zusätzliche Quellen:

The World Bank, 2018, „Unrealized Potential: The High Cost of Gender Inequality in Earnings“

Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Röhl/Schmidt, 2010, „Unternehmensnachfolge durch Frauen“

https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/oxfams-studie-sozialer-ungleichheit-12-milliarden-stunden-arbeit-ohne-bezahlt

Photo by Kyle Glenn on Unsplash

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