In der Rubrik “Kulturkonsum” stellen wir einmal im Monat gemeinsam mit ausgewählten Beiträger*innen in Kurzrezensionen vor, was wir in den letzten Wochen gelesen, gehört, gespielt oder geschaut haben. Ein Versuch in den dichten Wald aus Literatur, Musik, Filmen, Serien und Spielen eine kleine Schneise aus Empfehlungen und Warnungen zu schlagen.
(Die Empfehlungen von Anna Jurgan und Eyüp Ertan gehen auf die Initiative des Literaturwissenschaftlers und Mediävisten Stefan Seeber von der Universität Freiburg zurück, der seine Studierenden bat, in Kurzrezensionen von Lektüre zu berichten, die nicht in erster Linie mit dem Studium zusammenhängt.)
Simon Sahner (@samsonshirne)
Gerade weil viele Menschen dieser Tage aus guten Gründen immer noch nicht viel unternehmen und vor allem zuhause sind, sollte man sich ja im besten Fall dennoch manchmal draußen bewegen. Ich habe mir deshalb in den letzten Wochen auferlegt, möglichst einmal am Tag für ein oder zwei Stunden spazieren zu gehen. Neben der Bewegung und der frischen Luft hat das den Vorteil, dass ich dabei sehr viele Podcasts höre, zwei (beide englischsprachig) davon möchte ich empfehlen.
Der neunteilige Podcast Dolly Parton’s America (WNYC Studios) widmet sich in Form von Interviews, Reportagesequenzen und essayistischen Analysen dem Leben und Werk der amerikanischen Country-Ikone Dolly Parton. Ausgehend von der Beobachtung des Podcast-Autors Jad Abumrad, dass sich in der Fangemeinde von Dolly Parton über viele ethnische, politische und soziale Grenzen hinweg ein Großteil der amerikanischen Gesellschaft wiederfindet, folgen die einzelnen Episoden Karrierephasen der Sängerin oder beleuchten einzelne Aspekte des Phänomens Dolly Parton. Es handelt sich hierbei um ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man anhand eines sehr spezifischen Themas viel über größere gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge erzählen kann, wenn man es versteht, die Anknüpfungspunkte zu finden und zu nutzen. Wer sich für amerikanische Kultur, Musik und Gesellschaft interessiert, wird hier auf seine*ihre Kosten kommen.
Um amerikanische Geschichte geht es auch in dem New-York-Times-Podcast 1619. Die Zahl steht für das Jahr, in dem zum ersten Mal ein Schiff Nordamerika erreichte, mit dem Menschen vom afrikanischen Kontinent als Sklaven transportiert wurden. Die Autorin Nikole Hannah-Jones erzählt in sechs Folgen auch mit Blick auf die eigene Familie von der Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten und verfolgt ihre Nachwirkungen bis in die Gegenwartsgesellschaft der USA. Deutlich wird dabei vor allem, wie stark die amerikanische Kultur und das gesellschaftliche Zusammenleben in den USA bis heute von den Erfahrungen und Folgen der Sklaverei geprägt sind. Besonders hervorzuheben ist meines Erachtens die Episode über die Musik der schwarzen Bevölkerung und ihre Wirkung auf die gesamte musikalische Kultur.
Beide Podcasts sind unter anderem auf Spotify und iTunes verfügbar.
Anna Jurgan
Ich habe den Roman Der Sprung von Simone Lappert gerne gelesen. An keiner Stelle war mir langweilig, die Grundidee sprach mich an, und die Hauptfiguren mit ihren teils überraschenden Eigenheiten fand ich überwiegend interessant. Aber trotzdem habe ich mich nicht in dieses Buch verliebt. Nun ist das natürlich ein fieser Maßstab, mit dem man vermutlich an keinen Roman herangehen sollte. Warum diese überhöhte Erwartung?
Vielleicht wegen des Konzepts des Buches: Es stellt dar, wie sich ein Ereignis (der Sprung einer jungen Frau von einem Hausdach) auf zehn mehr oder weniger miteinander in Verbindung stehende Figuren auswirkt. Dieser Aufbau erinnerte mich an Unterleuten von Juli Zeh, The Casual Vacancy von J.K. Rowling und ein wenig auch an Tolstois Anna Karenina. Alle drei Bücher haben mich nachhaltig beeindruckt und meine Erwartungen vermutlich deutlich geprägt. Ich finde es spannend, einen Konflikt aus verschiedenen Innenperspektiven präsentiert zu bekommen, und miterleben zu dürfen, wie sich die Figuren im Verlauf des Konflikts entwickeln. Aber um eine solche Entwicklung erzählen zu können, ist wohl einiges an Zeit (und ganz konkret an Seiten) nötig. The Casual Vacancy ist mit 576 Seiten noch das dünnste der drei genannten Bücher; Anna Karenina bringt es auch noch in der knappsten deutschen Übersetzung auf über tausend Seiten.
Dagegen ist Der Sprung rein physisch ein echtes Leichtgewicht. Das hat klare Vorzüge: die Handlung ist hier auf Schlüsselmomente in dem Leben der Figuren beschränkt und kommt ohne eine langwierige Herleitung dieser aus, was zum Lesen zunächst sehr dankbar ist. Diese Schlüsselmomente erlauben dem*r Leser*in einen tiefen Einblick in das Erleben der jeweiligen Charaktere. Eine kleine Weile dürfen wir zu Gast in den Figurenköpfen sein. Nur bleibt es eben auch – und das ist vielleicht die Kehrseite dieses kondensierten Verfahrens – bei einer kleinen Weile. Für ein allmähliches Entdecken zusätzlicher Facetten, die nochmal ein anderes Licht auf die Figuren werfen könnten, bleibt dabei eher wenig Raum. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb ich Den Sprung mit Spaß gelesen habe, aber doch nicht restlos begeistert bin.
Magda Birkmann (@magdarine)
Ich widme mich seit einigen Jahren sehr intensiv dem Projekt #frauenlesen, insbesondere dem Nachspüren von in der Mainstream-Literaturgeschichtsschreibung unterschätzten oder ganz übersehenen Autorinnen. Wann und wo ich zum ersten Mal von Tillie Olsens Silences gehört habe, kann ich gar nicht mehr genau rekonstruieren, auf jeden Fall stand es schon eine ganze Weile ungelesen bei mir im Regal. Inspiriert von den zahlreichen Tweets und Artikeln schreibender Mütter, die seit Wochen an der enormen Mehrfachbelastung aus Kinderbetreuung, Homeschooling und Lohnarbeit verzweifeln, habe ich mir diesen leider inzwischen vergriffenen feministischen Klassiker nun endlich einmal näher angeschaut.
Olsen untersucht darin anhand von zahlreichen Briefen, Tagebüchern und sonstigen Selbstzeugnissen von Autor*innen die individuellen Lebensumstände und gesellschaftlichen Verhältnisse, die dazu führen, dass Menschen ihr kreatives Potenzial und Talent nicht nutzen (können), so dass vor allem die literarischen Stimmen von Frauen, von Menschen aus der Arbeiter*innenklasse und von People of Color zum Verstummen gebracht wurden und werden. Obwohl das Buch auf zwei Vorträgen beruht, die Tillie Olsen 1962 und 1971 hielt, ist es leider immer noch erschreckend aktuell. Olsen schreibt dabei nicht als beobachtende Außenstehende, sondern als talentierte Schriftstellerin, die all die von ihr beschriebenen Einschränkungen und Hindernisse am eigenen Leib erfahren hat. Als berufstätige Mutter von vier Kindern und politische Aktivistin ohne Universitätsausbildung konnte auch sie ihr Leben lang nur wenig Zeit, Energie und gedanklichen Raum für ihr eigenes literarisches Schaffen freischaufeln, so dass wir Leser*innen uns neben Silences mit einem kurzen Erzählungsband und einem Roman von ihr begnügen müssen. Letzteren lese ich gerade, aber ganz langsam, weil ich noch nicht bereit dafür bin, bald nichts Neues von dieser großartigen Autorin mehr entdecken zu können.
Tillie Olsens berühmte und vielfach anthologisierte Kurzgeschichte I Stand Here Ironing kann man übrigens hier im englischen Original lesen.
Eyüp Ertan
Eigentlich hatte ich meinen Marokko-Urlaub anders geplant; ich hatte einen Freund besuchen und mit ihm entspannte Tage in der Hauptstadt Rabat verbringen wollen. Durch Corona wurde die Zeit, die als Entspannung vorgesehen war, zum täglichen Krisenmanagement – ans Lesen war nicht zu denken. Überstürzt musste ich den letztmöglichen Flug aus Marokko nach Deutschland nehmen; am Flughafen in Marrakech boten sich mir zwei Optionen: Entweder durch die verzweifelten Menschen um mich herum, deren Flüge gestrichen wurde, verrückt werden – oder mich abschotten und Hemingways Garten Eden lesen. Ich habe mich für letzteres entschieden und auch deshalb das gut 300 Seiten dicke Buch in einem Rutsch durch gehabt. Hemingway nimmt die Leser*innen in Der Garten Eden mit in den Urlaub, nach Spanien und in den Süden Frankreichs. Die eigentlich idyllischen Flitterwochen zwischen David und seiner Frau sind schnell nicht mehr so glückselig und ruhig wie zu Beginn. Psychospielchen, die Frage nach dem eigenen Dasein und jene nach der sexuellen Orientierung sorgen für zunehmende Irritationen und Reibungen zwischen den Protagonist*innen. All das wird beschrieben im ruhigen, sachlichen und nüchternen Ton Hemingways – die Kombination aus Inhalt und Stil trägt ihr Übriges zum Leseerlebnis bei.
Tilman Winterling (@fiftyfourbooks)
Vor (ziemlich genau) zwei Jahren war ich in Peru und Bolivien. Im Zuge der Vorbereitung stieß ich im Reiseführer auf die Geschichte des Sendero Luminoso, des Leuchtenden Pfades. Die Organisation entstand Ende der 1960er Jahre aus einer Studentenbewegung an der Universität in Ayacucho angeführt von dem Philosophie Professor Abimael Guzmán, der heute noch in (lebenslanger) Haft sitzt. Die Guerillaaktivitäten der Gruppe lösten in den 80er und 90er Jahren bürgerkriegsähnliche Konflikte in Peru aus, die fast 70.000 Menschen das Leben kosteten. Besonders betroffen war die quechuasprachige Landbevölkerung. Die Recherche zu diesem Thema (auf Deutsch) war recht unergiebig. Es gibt einen Band Der Leuchtende Pfad in Peru (1970–1993): Erfolgsbedingungen eines revolutionären Projekts von Sebastian Chávez Wurm bei Böhlau und den Roman Tod in den Anden von Mario Vargas Llosa. Ersteres erschien mir zu umfangreich, bei Llosa habe ich den Faden verloren. Durch Zufall stieß ich nun aber auf die Graphic Novel Der Leuchtende Pfad: Chroniken der politischen Gewalt in Peru 1980-1990 von Jesús Cossío, Luis Rossell, Alfredo Villar aus dem Spanischen übersetzt von Katharina Maly, erschienen bei bahoe books. Der Band schildert den Bürgerkrieg anhand der Ergebnisse der 2001 eingesetzten Kommission für Wahrheit und Versöhnung. Da ich zu jung bin, um die Ereignisse bzw. die Berichterstattung über diese zu erinnern, ist diese Graphic Novel (anders wahrscheinlich die vorbenannten Titel) der perfekte Einstieg ins Thema. Die Geschichte wird nicht allein als Comic dargestellt, sondern jedes Kapitel durch die Einordnungen der dargestellten Ereignisse in Textformen komplettiert. Ein lohnenswerter Einstieg in ein Thema, das in Deutschland sonst wenig bis gar nicht beachtet wird.
(Während ich dies schreibe, entdecke ich, dass es bei Netflix wohl einen Spielfilm zur Verhaftung Guzmáns gibt. Ob der was taugt, finde ich dann heute Abend raus.)