von Jennifer Sprodowsky
I.
Es war einmal ein in die Jahre gekommener Großkritiker. Dieser Großkritiker glaubte zu verstehen, was es für junge Autoren bedeutete, den Beruf des Schriftstellers zu wählen und auszuleben. So riet der in die Jahre gekommene Großkritiker eines Tages einem jungen Schriftsteller, er solle keine Kinder bekommen, sollte er weiter Bücher schreiben wollen. Der Rat war gut gemeint, schätzte der Großkritiker den Autor doch sehr, ja, er prognostizierte ihm sogar eine glorreiche Karriere, wenn er denn, ja bitteschön, keine Kinder bekäme. Der Autor war natürlich eine Autorin, nämlich Judith Hermann, und diese internalisierte den Rat so sehr, dass sie 2003 nach dem Erscheinen ihres zweiten Buches in einem Interview auf die Frage, ob es denn stimme, dass ihr Marcel Reich-Ranicki damals empfahl, keine Kinder zu bekommen, antwortete: »Ja. Dieser Satz hat mich sehr begleitet, bis ich wieder angefangen habe zu schreiben. Ich hatte die Sorge, dass sich durch das Kind bestimmte Brüche und Unvollkommenheiten in meinem Leben schließen würden.«[i]
Geht es um die Vereinbarkeit von Autor*innenschaft und Elternschaft, wird das Beispiel von Judith Hermann und Marcel Reich-Ranicki häufig zitiert. Dass ein älterer Mann in unantastbarer beruflicher Position eine solche Meinung gegenüber einer Frau, einer Autorin, kundtut, ist zwar fatal, aber nicht weiter verwunderlich. Auch Autoren sehen sich mit vermeintlich gut gemeinten Ratschlägen konfrontiert. Michael Chabon erzählt in der Einleitung seiner Essaysammlung Pops. Fatherhood in Pieces (2018): »At a literary party the summer before my first novel was published, I found myself alone with a writer I admired […]. ›I’m going to give you some advice,‹ he told me, a warning edge in his voice. […] ›Don’t have children,‹ he said.«
Die genannten Beispiele zeigen: Autor*innen, die schreiben und Kinder haben, rütteln an der Fiktion des hegemonial männlichen Dichtertypus. Wenngleich viele, auch Autor*innen selbst, an dem Mythos festhalten wollen, ist der Dichter eben nicht nur einer, der sich tagein tagaus flanierend, nach Inspiration suchend, durch die Welt bewegt, frei von Verpflichtungen, gerne bis spät in die Nacht schreibend – oder wann immer ihn die Muse küsst. Die Dichter*in ist eine, die einen profanen Lebensalltag hat, der geplant werden möchte und zu dem auch Windeln und Milchflecken gehören. Das nächtliche Schreiben sei hier nicht ausgeschlossen. Es könnte entgegnet werden, dass Eltern – egal welchem Beruf sie nachgehen – doch immer vor dieselbe Problematik gestellt werden: dass es an Zeit fehlt.
Auch eine Bäcker*in oder eine Postbote*in mit Kindern sehe sich schließlich damit konfrontiert, Beruf und Familienalltag unter einen Hut zu bekommen. Diesen Punkt macht auch die US-amerikanische Autorin Rufi Thorpe in ihrem Aufsatz über Elternschaft und Schreiben, Mother, Writer, Monster, Maid: »Time is the issue, not some metaphysical conflict between art and motherhood.« Allerdings wendet sie auch ein: »But another part of me worries that being a writer isn’t exactly like being a factory worker or a nurse.«
II.
Neben dem Idealtypus eines unabhängigen, durch Leiden getriebenen Autors gibt es eine Analogie zwischen Schreiben und Gebären, die in unserem Denken und Sprechen über Autor*innenschaft weit verbreitet ist. Antje Schmidt macht darauf in ihrem Essay Weibliche Empfindsamkeit vs. Männliches Genie – Die Fiktion zärtlicher Autorinnenschaft aufmerksam:
Man könnte also meinen, so wie die bis heute gesellschaftlich glorifizierte Mutter fürsorglich, mitfühlend und bedingungslos wohlwollend ist, ist die zärtliche Autorin – oder der Autor – sanft zu ihrem oder seinem Text. Genährt wird dieser Mythos auch von Schriftsteller*innen selbst. Der Vergleich zwischen dem Verfassen eines Buches und dem Gebären eines Kindes gehört zum tradierten Inventar des Sprechens über Autor*innenschaft.
Auch ich war dieser Analogie aufgesessen: In meiner Verlagsarbeit war mein erstes Lektoratsprojekt der Debütroman eines Autors. Unsere intensivste Arbeitsphase war davon geprägt, dass der Autor und ich ein (nicht gemeinsames) Kind erwarteten. Wenngleich wir beide nicht die Gebärenden waren, setzte sich in der Kommunikation über unsere Arbeit eine Metaphorik durch und fort: Das erste Buch. Das erste Kind. Ich wurde schnell zur Hebamme, die ihm, dem Buch-Gebärenden, half, sein Baby, zur Welt zu bringen, seinen Text in zwei Buchdeckel und damit in die Öffentlichkeit zu entlassen.
Der Text war die Schöpfung, der Autor der Schöpfer, die Mutter. Es war die zeitliche Kongruenz, die uns diese Metaphorik vor die Füße legte: Sein Kind kam zwei Tage nach Abgabe des überarbeiteten Manuskripts zur Welt, meines zwei Tage nach der Kollationierung der korrigierten Fahnen. Damals half uns der Vergleich, die beiden Welten, und damit auch die Aufregung um sie, miteinander zu verbinden und zu relativieren. Wer ein Buch auf die Welt bringen konnte, sollte doch wohl auch ein Kind auf die Welt bringen können. Oder andersherum?
Heute denke ich, dass dieser Vergleich einer ist, der allzu leichtfertig gezogen wird. Denn schnell wird daraus auch ein Strick für schreibende Eltern gedreht. Mitunter wird er von Autor*innen nämlich derart verinnerlicht, dass sie sich fragen, ob es nicht nur eines im Leben geben könne, Schreiben oder Kinder. Zwei semantische Felder, die sich aufgrund ihrer Analogien derart überdecken, bis nur noch eines sichtbar sein kann.
Denken wir über das Verhältnis von Autor*innenschaft und Elternschaft nach, müssen wir also von einem Spannungsfeld ausgehen, das durch das profane Alltagsproblem der Zeit sowie durch eine Metaphorik, in der das schöpferische Ich mit dem gebärenden Ich in Konflikt gerät, erzeugt wird. In der internationalen Gegenwartsliteratur lässt sich ein vermehrtes Auftreten von Texten feststellen, in denen dieses Spannungsfeld produktiv gemacht wird. Schriftsteller*innen beginnen, die »Schreibkrise als Dauerzustand«, wie die Autorin Sandra Gugić den Konflikt pointiert, in Literatur umzuwandeln. Dabei reicht das thematische Spektrum von der Frage »Kinder: ja oder nein?«, über die erlebte Schwangerschaft bis hin zu einem Alltag mit Kindern.
Dass sich Autor*innen in ihren Texten vermehrt mit diesem Verhältnis auseinandersetzen, ist neu und wirft neue Fragen auf. Wie verändern sich durch Kinder die zum Schreiben nötigen Voraussetzungen? Welchen Einfluss haben die ohnehin schon prekären Lebensbedingungen von Autor*innen auf die Entscheidung, ob sie mit Kindern leben möchten oder nicht? Wie unterscheidet sich der Beruf des Schreibens von anderen Erwerbstätigkeiten? Die Autorin Anke Stelling schreibt über diese Wechselwirkung:
Ich versuche, im Erzählen Erkenntnisse zu gewinnen über meine Gegenwart, und ich hoffe, dass das dann auch Leser*innen für ihre Gegenwart interessiert. […] Wenn zu meiner Selbstverwirklichung Kinderkriegen dazugehört, gehört halt auch die Sorge für sie dazu. Weshalb dann Windelnwechseln Einzug in mein Schreiben hält, und mein Schreiben mich vom Windelnwechseln abhält, und das wiederum auszuhalten, ist dann die nächste Stufe meiner Selbstverwirklichung. […] Die Chance, die darin liegt, zu erkennen und zu beschützen. Ich versuche es, indem ich schreibe.[ii]
Ein Leben mit Kindern wird nicht mehr als etwas verstanden, was dem Schreiben zwangsläufig hinderlich sein muss, sondern als etwas, das unmittelbaren und vor allem auch produktiven Einfluss auf das Schreiben haben kann. Auch Juli Zeh spricht im Alles gesagt?-Interviewpodcast der ZEIT (ab 7h 47min) darüber, wie sich ihr Schreiben und ihr Leben als Autorin verändert haben, seit sie Kinder hat. Neben dem Einfluss auf ihre Schreibzeit, die mit Kindern kürzer sei und ohne Stimulantien verlaufe, gibt es auch einen Einfluss auf ihre ihre Figuren: »Früher hatten alle Hunde und jetzt haben alle Hunde und Kinder.«
III.
Es fällt auf, dass Schriftsteller*innen, die über Elternschaft und Autor*innenschaft schreiben, oftmals Erzähler*innen wählen, die ihnen selbst (vermeintlich) nahe sind, oder mit denen sie ihren Leser*innen nahe sein können. Diskussionsgrundlage wie sicherlich auch Wegbereiter, wenn es um die Literarisierung von – zunächst einmal – Mutterschaft geht, ist Rachel Cusks A Life’s Work (2001, dt. Lebenswerk. Über das Mutterwerden, 2019). In seiner radikal subjektiven Beschreibung von Mutterglück und Mutterleid wurde der Text als Provokation empfunden. Dass etwas so Privates wie die Erfahrung von Mutterschaft öffentlich gemacht wird, das war für einige Rezipient*innen nicht zumutbar. Rachel Cusk schreibt offen, mit welchen (Selbst-)Verlusten, aber auch (Selbst-)Gewinnen eine Mutterschaft einhergeht, und auch darüber, wie sie als Autorin wieder mit Schreibaufträgen zu beginnen versucht und welche Freiräume sie sich dafür schaffen muss.
In dem Artikel I was only being honest erzählt Cusk über die Reaktionen auf ihr Buch: »On and on it went, back and forth: I was accused of child-hating, of postnatal depression, of shameless greed, of irresponsibility, of pretentiousness, of selfishness, of doom-mongering and, most often, of being too intellectual.« So persönlich wie Cusks Essay geschrieben ist, so persönlich wurde er auch rezipiert: »Again and again people judged the book not as readers but as mothers, and it was judgment of a sanctimoniousness whose like I had never experienced.« Wenn schreibende Mütter an einem Idealbild von Autorschaft rütteln, so rütteln sie gleichzeitig an einem Idealbild von Mutterschaft an sich – ein Bild, das viele Mütter, wenngleich sie um seine Probleme wissen, aufrechterhalten möchten. Dass die deutsche Übersetzung 2019 nicht eine ebensolche Empörung auslöste, zeigt aber, dass sich das Bild von Mutterschaft in den letzten zwanzig Jahren doch gewandelt hat. Es ist differenzierter geworden, kann Ambivalenzen besser aushalten.
Cusk selbst bezeichnet im Vorwort der 2. Auflage der deutschen Übersetzung die von ihr gewählte literarische Form als »ehrliche Form des Schreibens«. Ihr Text sei in erster Linie ein Brief: »Er richtet sich an alle Frauen, die ihn lesen möchten, und ich habe ihn in der Hoffnung geschrieben, dass sie in meinen Erfahrungen eine Art von Begleitung finden.« Cusk hat ihre Leser*innen also direkt vor Augen: Frauen, (werdende) Mütter. Sie setzt auf eine identifikatorische Rezeption und sieht ihr Buch als »eine bescheidene Annäherung an Mutterschaft, verfasst unter dem unmittelbaren Eindruck seines Themas.
Es beschreibt eine Phase, in der die Zeit keine geordnete Abfolge von Ereignissen mehr war, sondern im Kreis zu vergehen schien.« Von der Chronologie abweichend ordnet Cusk auch ihren Text an. Ihre Kapitel sind nach Themen geordnet, Motive kehren wieder, werden neu-/umgeschrieben. Im Sinne einer Art Écriture féminine gießt sie ihren literarischen Gegenstand nicht zwanghaft in eine tradierte (männliche) Erzählweise, sondern lässt Inhalt und Form in eine Wechselwirkung treten. Damit legt die Autorin einen wichtigen Grundstein für folgende Erzählungen über Elternschaft.
Einen ähnlichen, im Ton vielleicht etwas härteren Weg wählt die Autorin Antonia Baum. Auch ihr autobiographischer Essay Still leben (2018) handelt von ihrer Erfahrung als werdende (und schreibende) Mutter. Dabei hatte sie sich so fest vor vorgenommen, niemals, wie es im Text heißt, über das Kinderthema zu schreiben, sei dies doch »der absolute Schriftstellerselbstmord«. In Baums Essay wird deutlich, unter welchem Druck eine schreibende Mutter steht.
Das Ich im Buch kämpft immer wieder an gegen Vorurteile und Vorschriften, internalisiert diese ähnlich wie bei Judith Hermann: »Es waren noch ein paar Wochen bis zur Geburt, und ich versuchte noch schnell einen Roman anzufangen, um meine Angst zu besiegen, dass ich, wenn das Baby da war, nicht mehr würde schreiben können oder gar wollen.« Und dann: »Der Roman, den ich, bevor das Baby kam, schnell anzufangen versuchte, damit ich, wenn es da sein würde, etwas hätte, das ich zu Ende bringen musste, wurde erwartungsgemäß nichts. (…) Die Angst, als Mutter nicht mehr schreiben zu können, erschien mir komplett lächerlich. Aber was sollte ich machen, sie war anwesend, sie war gewissermaßen eine meiner Topängste.«
Ich schreibe in diesen beiden Fällen von autobiographischen Essays, wenngleich die paratextuellen Gattungsbezeichnungen unsicher sind. Hierin liegt eine Chance. Literarische Texte über Elternschaft und Schreiben zeugen von einer Unmittelbarkeit, die, wenngleich sie so stark zu spüren ist, auch diffus (im besten Sinne) bleibt. Die erzählerische Unmittelbarkeit ist von einer gattungstheoretischen Uneindeutigkeit durchsetzt, die das Leben als schreibende Mutter, als schreibenden Vater nur allzu gut in all seinen vermeintlichen Widersprüchen fasst. Auch die Autofiktion – eine beliebte Erzählweise für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich – findet sich immer wieder als Form für literarische Texte, in denen das Verhältnis von Elternschaft und Schreiben thematisiert wird. Man denke an Sheila Hetis Motherhood (2018, dt. Mutterschaft, 2019), an Karl Ove Knausgård und sein Lebenswerk Min Kamp oder an Deborah Levys The Cost of Living (2018, dt. Was das Leben kostet, 2020).
IV.
Maggie Nelsons Memoir oder Essay oder, ja, was eigentlich (?), The Argonauts (2015, dt. Die Argonauten, 2017) ist einer der wenigen Texte, die sich mit queerer Elternschaft auseinandersetzen. Hier geht es um Transformationen, körperlich wie (identitäts-)theoretisch, um die Möglichkeiten queerer Familienplanung und auch um kulturtheoretische Vorbilder, die in das Schreiben und das Leben fließen. Maggie Nelson erschafft aus diesen Transformationen eine ganz eigene Erzählung, in der sie immer wieder ihr Schreiben befragt: »Einmal schrieb ich, dass ich die Hälfte eines Buches im betrunkenen Zustand geschrieben hätte, die andere im nüchternen. Bei diesem hier schätze ich, dass neun Zehntel der Wörter im ›freien‹ Zustand geschrieben wurden, das verbleibende Zehntel, während ich an eine Brustpumpe von Krankenhausausmaßen angeschlossen war: Wörter strömten in die eine Maschine, Milch strömte in die andere.«
Wenn Identitäten und Rollen fluid werden, lassen sich mitunter auch die Erzählstimmen nicht mehr eindeutig aufdröseln. Es kann und soll an dieser Stelle nicht um eine gattungstheoretische Analyse gehen, aber ich möchte auf etwas aufmerksam machen, das die Autorin Marguerite Andersen in Ich, eine schlechte Mutter literarisch auf den Punkt bringt und was ich für wesentlich in der Betrachtung von Texten, die sich mit dem Spannungsfeld von Autor*innenschaft und Elternschaft auseinandersetzen, erachte:
Gar nicht so leicht, dieses Schreiben über sich selbst
Ich, eine schlechte Mutter
setzt in Szene:
drei »Ich«
die Autorin
die Erzählerin
und die Protagonistin.
Manchmal verschmelzen sie miteinander
manchmal verbünden sie sich
manchmal ist fraglich, wer spricht.
Drei »Ich«, die in ein und demselben Buch zusammen auftreten
in unterschiedlichen Zeiten
Vergangenheit
Gegenwart
Zukunft
oje!
schon in der Schule hatte ich Schwierigkeiten mit der Zeitenfolge.
Ich, eine schlechte Mutter erschien erst im September dieses Jahres in einer deutschen Übersetzung (das französische Original erschien 2013 unter dem Titel La mauvaise mère). Marguerite Andersen, geboren 1924, ist Schriftstellerin und Professorin für Literatur und fragt sich am Ende ihres Lebens, ob es falsch war, dass sie, die damals jung Mutter geworden war, sich stets ihre Freiheit erkämpft hatte, auch auf Kosten ihrer Kinder. Andersen nimmt eine rückblickende Perspektive ein, die es erlaubt, die getroffenen Entscheidungen infrage zu stellen und mitunter zu bereuen. Das erklärt auch den Untertitel: Bekenntnisse.
Wer Entscheidungen trifft, muss bekennen. Doch wie lassen sich solch lebensbestimmende Entscheidungen wie die Kinderfrage überhaupt treffen? Sheila Heti verschreibt sich mit Motherhood komplett dieser Frage. Die Erzählerin, die einige Ähnlichkeiten mit der Autorin aufweist, versucht mithilfe eines Orakels, das aus dem Werfen von drei Münzen besteht und nur im binären Antwortsystem von ja und nein funktioniert, sich selbst und ihren Wünschen und Bedürfnissen näher zu kommen. Über allem steht dabei die Frage, ob die Erzählerin schwanger werden möchte oder nicht, oder wie sich mit der Entscheidung, nicht schwanger werden zu wollen, leben lässt.
Is art a living thing – while one is making it, that is? As living as anything else we call living?
yes
Is it as living as when it is bound in a book or hung on a wall?
yes
Then can a woman who makes books be let off the hook by the universe for not making the living thing we call babies?
yes
Die vermeintlich simple Frage-Antwort-Technik funktioniert natürlich nur zum Schein. Die Erzählerin erwartet nicht, dass die Münzen ihr eine so große Entscheidung abnehmen, doch helfen sie ihr, in ihrem Denken neue Wege einzuschlagen. Sie begibt sich auf eine Erkundungstour des eigenen Selbst und zieht dabei immer wieder Parallelen zwischen Kunst und Kindern und den dazugehörigen Rollen:
Yet perhaps I am not so different from such people – spreading myself over so many pages, with my dream of my pages spreading over the world. My religious cousin, who is the same age as I am, she has six kids. And I have six books. Maybe there is no great difference between us, just the slightest difference in our faith – in what parts of ourselves we feel called to spread.
Patricia Hecht schreibt in der taz: »Es ist ein Mindfuck, den Heti da aufgeschrieben hat – aber einer vom Feinsten.« Aber es ist nicht nur ein Mindfuck, sondern ebenso ein Bodyfuck. Denn es geht auch um die Terminationen, die dem weiblichen Körper gesetzt sind, und um den Druck, der dadurch ausgeübt wird. So ist der zweite Teil des Romans nach den verschiedenen Zyklusphasen von »Vor dem Eisprung« bis zur »Blutung« angeordnet.
Eine Autorin, die das Erzählprinzip ihres Romans ebenfalls dem weiblichen Körper unterwirft, ist Isabelle Lehn. Auch in Frühlingserwachen findet sich ein Erzählen in (Menstruations-)Zyklen. Diese werden auf einer nächsten Ebene nur noch von den Jahreszeiten, den Buchmessen und der Medikamenteneinnahme der Erzählerin Isabelle Lehn zusammengehalten. Verzweifelt und mit allen Mitteln der Reproduktionsmedizin versucht die Erzählerin schwanger zu werden und zu bleiben, doch kommt sie dann doch immer wieder die Blutung. Dass sich dieser Prozess so sehr in die Länge zieht, gibt der Erzählerin genügend Zeit, ihren Kinderwunsch immer wieder infrage zu stellen und auch in Bezug zu ihrem eigenen Schreiben zu setzen. Die Isabelle Lehn im Buch ist ebenfalls Autorin und schreibt an einem Roman der Selbstentblößung. Hin- und hergerissen zwischen Leid und Mitfreude blickt sie sich um: »Es macht mir nichts aus. Es ist mir gleichgültig, ob meine Freundinnen schwanger werden oder ihre Bücher zur Welt bringen. Es macht fast keinen Unterschied. Aber eben nur fast, denn immerhin trinkt Tien noch mit ihr.«
V.
Anke Stelling ist eine Autorin, die sich in ihrem Werk immer wieder mit der Frage nach dem Verhältnis von Elternschaft und Autor*innenschaft auseinandersetzt. Resi, die Ich-Erzählerin im Roman Schäfchen im Trockenen (2019), ist ebenfalls eine Schriftstellerin und eine Mutter, die versucht, diese beiden Rollen in Einklang zu bringen:
Es tut mir leid, dass hier alles so zerrissen scheint. Ich hätte mehr Stringenz, eine erkennbare Einheit, einen Trost für alle, die auf der Suche sind. Doch ich bin, wer ich bin, und ich werde nicht mehr so tun, als hätte ich dieselben Voraussetzungen wie, sagen wir mal, Martin Walser.
Oder:
Keine Sorge!, ich klage nicht, ich bin selbst schuld. Warum habe ich auch all diese Kinder gekriegt? Erst, wenn sie schlafen, wird es eine Antwort darauf geben; erst, wenn ich schreibe, kann ich wieder behaupten, wer ich bin. Genau deshalb ist das hier das Gegenteil eines gut gebauten, elegant komponierten Romans.
In Stellings Roman begegnen uns immer wieder solch meta-poetologische Kommentare der Ich-Erzählerin, und allesamt zielen sie auf etwas, das bereits in den anderen genannten Titeln deutlich wurde: Wenn Autor*innen über Elternschaft schreiben und darüber, was diese Elternschaft für ihr eigenes Schreiben bedeutet, kann es nicht darum gehen, in festgefahrenen Erzählmustern zu verbleiben, sondern es muss darum gehen, neue Erzählwege einzuschlagen.
Interessant ist auch, dass einige Texte über Elternschaft und Autor*innenschaft an die Kinder, die Nachkommen adressiert sind. So erzählt Resi beispielsweise für ihre Tochter Bea. Sie hat sich vorgenommen, sie mit der gnadenlosen Wahrheit zu konfrontieren, um nicht denselben Fehler wie ihre Eltern zu begehen, das Vorenthalten von Lebenswichtigkeiten. Die norwegische Autorin Kjersti A. Skomsvold richtet ihren Roman (hier findet sich auf dem Cover der deutschen Übersetzung die Gattungsbezeichnung »Roman«, wenngleich Skomsvold auch für ihr autobiographisches Schreiben bekannt ist) Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone (2019) an ihre Tochter – die Zweitgeborene –, sie schreibt an ein »Du« und erzählt diesem »Du« alles über die beiden Schwangerschaften, die Geburten, die jeweils ersten Monate, aber auch über die Beziehung zu ihrem Mann, dem Vater der Kinder, sowie über ihr eigenes Schreiben. Die Ich-Erzählerin konnte erst wieder schreiben, als ihr zweites Kind geboren war (»Als hättest du erst kommen müssen, als hätte ich dich haben müssen, um dir all das zu erzählen, du musstest kommen und für einen Neuanfang sorgen, damit ich die vorausgegangenen Jahre, die eingetretenen Veränderungen, einigermaßen klar betrachten konnte.«).
Die Autorin Simone Hirth wiederum richtet ihren Briefroman Das Loch gleich an mehrere Adressat*innen, was auch in mir den Wunsch auslöst, mit einem Brief zu reagieren:
Göttingen, den 14. Oktober 2020
Liebe Simone Hirth,
ein Briefroman – welch altertümliche Gattung – über eine Schriftstellerin, die Mutter wird! Ich finde sie großartig, die literarische Form, die Sie für ihren Roman Das Loch gewählt haben. Und wie praktisch, lässt sich doch das Schreiben von Briefen viel besser in einen Alltag mit Kind(ern), wenn sowieso alles fragmentarisch erscheint, integrieren als eine große teleologische Erzählung. Kennen Sie die Stelle in Antonia Baums Still leben (ich habe das Zitat gerade nicht parat), in dem die Autorin darüber schreibt, dass ihr Alltag vor der Geburt des Kindes aus vielen langen Strichen bestand, die die Erledigungen ihres Alltags darstellten, also alles linear verlaufende, an einem Stück abzuarbeitende und vor allem eben auch abgearbeitete Dinge, während ihr Leben mit Kind nur noch aus vielen Punkten besteht, aus vielen begonnenen Tätigkeiten, aber keine davon zu Ende geführt? Ihre Briefe sind wie diese Punkte. Und das meine ich weder negativ noch beleidigend. Im Gegenteil. Also im Grunde genommen sind Sie ja nicht die Briefeschreiberin, sondern Henriette Schöbel, Ihre Protagonistin. Glauben Sie, es geht vielen Autor*innen, die über das Kinderthema schreiben, so? Also, dass sie allzu voreilig mit ihren Protagonist*innen gleich gesetzt werden? Mehr als bei anderen Themen? Jedenfalls schreibt Henriette Schöbel Briefe an Jesus, aber auch an Mohammed und die Frauenministerin, an Ulrike Meinhof, Madonna und Schneewittchen, und immer wieder auch an Personen aus ihrem direkten Umfeld, an ihren Sohn oder ihren Schwiegervater. Manchmal gibt es viel zu schreiben, weil die Zeit dafür auch gerade da ist. Manchmal, wenn das Schreiben unterbrochen wird, ist so ein Brief auch mal nur einen Satz lang, wie der vom 12. März 2018: »Lieber Jesus, oha er kackt schon wieder«. Nicht mal für ein abschließendes Satzzeichen war noch Zeit. Ja, so ist das manchmal.
Ich muss jetzt los, meinen Sohn aus der Kita abholen. Danke Ihnen für diesen gelungenen Roman, liebe Simone Hirth, und schauen Sie sich um, Sie sind in bester Gesellschaft.
Herzliche Grüße,
Jennifer Sprodowsky, eine Leserin Ihres Romans
VI.
Mit dem Lockdown und der Verlegung der Kinderbetreuung nach Hause musste Care-Arbeit in vielen Familien noch einmal neu definiert und verhandelt werden. Gerade für Schriftsteller*innen, deren Arbeitszeit ohnehin zumeist im häuslichen oder privaten Umfeld stattfindet, verschärft sich hier der Konflikt. Einige der Autor*innen des Blogs Other Writers Need to Concentrate bringen das auch in ihren Beiträgen zum Ausdruck, wie beispielsweise Barbara Peveling am 12.09.2020: “In der Nacht liege ich wach und überlege, ob ich meine Kinder wohl auch bekommen hätte, wenn mir vorher klar gewesen wäre, dass die Gesellschaft mich bei der ersten großen Krise allein mit ihnen lässt.”
Es ist wichtig, dass sich mit dem Blog, der als Weiterführung einer von Carolin Callies eigens zu dem Thema konzipierten poetin-Ausgabe[iii] betrachtet werden kann, ein Zusammenschluss von Autor*innen und Künstler*innen findet, der darauf aufmerksam macht, welche Rolle Care-Arbeit in unseren Leben sowie in der öffentlichen Wahrnehmung spielt, denn bislang scheint der Literaturbetrieb wenig Platz zu haben für schreibende Eltern. Wie viele Aufenthaltsstipendien sind beispielweise mit Kindern anzutreten möglich? Und wenn es dann doch erlaubt ist, Kinder oder die Familie mitzubringen, so endet das schnell, wie David Blum in seinem Beitrag »Anekdoten aus Schöppingen« vom 8. September 2020 schreibt: “Die zweite Nacht in Schöppingen endet nach drei Stunden. Der Kleine sitzt im Bett und übergibt sich. Im Schlafanzug eile ich zu den Gemeinschaftsräumen, um frische Bettwäsche zu besorgen. Auf dem Weg lerne ich die anderen Stipendiaten kennen. Sie sitzen vor dem Kamin, rauchen, trinken, unterhalten sich. Ich grüße und wühle in den Schränken nach Bezügen und Laken.”
Der Name des Blogs stammt übrigens aus eben solch einem Gespräch über ein Stipendium, wie die Redaktion auf dem Blog verrät: »›And sorry to tell you that we do not accept little kids as it really troubles other writers who need to concentrate‹, war die Antwort auf eine Anfrage an ein Künstlerhaus, ob die Möglichkeit bestehe, zu dem bereits zugesagten Aufenthaltsstipendium mit Familie anzureisen.«
Bleibt nur zu hoffen, dass sich immer weniger Autor*innen konzentrieren können, damit mehr Geschichten schreibender Eltern erzählt werden können.
[i] Hermann, Judith (im Gespräch mit Kolja Mensing und Susanne Messmer): »Ich hoffe auf Erlösung«. In: taz. die tageszeitung (31.01.2003). ‹https://taz.de/!818636/›.
[ii] Stelling, Anke (im Gespräch mit Carolin Callies): Den Engel zeitweise aussperren. In: Autorschaft und Elternschaft. poetin nr. 25. Hrsg. von Andreas Heidtmann. Leipzig 2018.
[iii] Heidtmann, Andreas (Hg.): poetin nr. 25. Autorschaft und Elternschaft. Leipzig 2018.
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