Vom Briochekipferl zum Äußersten: Ilse Aichingers Buch „Unglaubwürdige Reisen”

Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig. Ilse Aichinger

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon ziemlich früh auf“, schreibt die 2016 im Alter von 95 Jahren in Wien verstorbenen Ilse Aichinger im ersten ihre kurzen Reisefeuilletons, die zwischen 2001 und 2004 immer Freitags im Wiener „Standard“ erschienen sind.

Einige dieser Texte wurden im Jahr 2005 in dem Band „Unglaubwürdige Reisen“ zusammengefasst. „Unglaubwürdige Reisen“: Der Titel stellt das Tun der Schriftstellerin in Frage, doch so sehr muss man sich darüber nicht wundern: Reiseliteratur war seit ehedem „unglaubwürdig“. Vom Abenteuer- und Schelmenroman über Joseph von Eichendorff, Jules Verne, Mark Twain, Karl May bis hin zu der autobiografisch gefärbten Reiseliteratur von Joseph Conrad oder Hubert Fichte – überall unglaubwürdige, unglaubliche Reisen.

© Stefan Moses

Was die 1921 in Wien geborene Ilse Aichinger von vielen Autoren und Autorinnen unterscheidet: Für Ihre kurzen Texte bewegte sie sich kaum vom Fleck. Sie musste nicht fort. Tat einfach das, was sie immer tat. Saß in einem Wiener Kaffeehaus, vorzugsweise dem „Demel“, der „k.u.k Hofzuckerbäckerei“, und begann, schreibend zu reisen. Dabei verbindet sich Gefundenes, Erfundenes und Erinnertes zu einem literarischen Knoten, den zu Lösen man nicht vermag. Der Reiz dieser Kaffeehaus-Literatur liegt aber auch genau darin: Ausgehend von der eigenen, bewegten Biografie entsteht bei Aichinger Literatur, welche die Geschichte des 20. Jahrhunderts wie kaum eine zweite als Subtext mitschreibt.

Im „Demel“ saß sie also beinahe jeden Tag und schrieb. Gerne zwischen zwei Kinovorstellungen, denn das Kino war stets die größte Leidenschaft von Ilse Aichinger. Wir begleiten Aichinger mit ihrer Zwillingsschwester in die Kapuzinergruft, reisen mit ihrem Urgroßvater durch den Kaukasus, mit Sigmund Freud in sein Londoner Exil, mit „der Schrederin“, einer alten Bäuerin, nach Großgmain – und mit der polnischen Putzfrau nach Auschwitz. Vor allem jüdische Geschichte steckt in diesem Buch.

Jüdische Geschichte, erlebt mit der jüdischen Mutter, einer Ärztin. Die Flucht der Zwillingsschwester ins Londoner Exil, die Deportation der Großmutter und anderer mütterlicher Verwandtschaft, von Schulfreundinnen und Nachbarn in die Vernichtungslager. Der Tod ist einer der treusten Reisebegleiter dieser inneren Reisen in die Vergangenheit. Die Figuren aus der Vergangenheit, der bei einem Unfalltod verstorbene Sohn Clemens, sind nicht abwesend. Als Schatten spielen sie eine Rolle, bis heute. „Unglaubwürdige Reisen“ ist ein Buch, das die Macht des nur vermeintlich Abwesenden betont.

Von ihren Personen spricht Aichinger als „kräftige Schattenrisse“. Allesamt Protagonisten aus der „Landschaft des eigenen Lebens“. Sie trifft sie in New York oder in der Wiener Anatomie, in Novi Sad, Aberdeen, Danzig oder in Linz, doch vor allem in ihrer Erinnerung: Günter Grass, Günter Eich, mit dem Aichinger verheiratet war, Thomas Bernhard – dieses Buch ist auch eine Begegnung mit den Protagonisten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Der Anlass zum Schreiben ist oft ein Äußerlicher. Eine Beobachtung, eine Pressenotiz etwa. Sogar der Wunsch nach einer nächtlichen Grießnockerlnsuppe, bei der ihr Denken als Autorin einsetzt. Wie etwa beim Betrachten der Speisekarte im Kaffeehaus: „‚Feinstes Briochekipferl oder flaumiger Guglhupf’ zum ‚Demel Frühstück’. Oder ‚zwei Kaisersemmerln sowie ein weiches Ei’ zum ‚Wiener Frühstück’. Und zum ‚Heißgetränk Ihrer Wahl’ gibt es ‚soft boiled egg, ham and cheese, fresh orange juice (1/8)’. An solchen Angeboten jagen die Passanten vorbei: Verspätete Gruppenreisende, versprengte Prozessionsteilnehmer. Es genügt ‚der kleine Anstoß, der sie in Bewegung setzt’, von dem Simenon schreibt, in Bewegung ‚bis zum Äußersten ihrer selbst’“ – mit Ilse Aichinger vom Briochekipferl zum Äußersten.

Ilse Aichinger wieder lesen. Im November des Jahres 2020. Aichingers Schreiben liest sich heute noch markanter als ein Plädoyer für die Entschleunigung. Nicht Ihr Stil, der ist schnell. Kurze Sätze wechseln mit längeren, Fragiles mit Festem. Einfaches mit Komplexem. Es ist keine hohe Sprache, doch sie hat einen ganz eigenen Klang. Dieses Buch ist auch ein Lob der kurzen, im besten Sinne journalistischen, tagebuchhaften Form. Wie viel in zwei Seiten Aichinger steckt! Die genaue Beobachtungsgabe und das Vermögen, im Kleinen das Große, Übergeordnete zu sehen, daraus kleine Kunstwerke zu gestalten, macht Aichingers Literatur so kostbar.

Wenn einer eine Reise tut, da kann er was erzählen. Doch selten von dem Fremden. Hier, im Schreiben, findet sie sich, auf alten, gleichen Wegen: „Ich geh‘ auch jetzt noch immer dieselben Wege, wenn ich was Neues erfahren will. Wenn man nach Rio de Janeiro fährt, sieht man ja nichts Neues. Man versucht immer, seine alten Vorstellungen einzubauen.“

Das eigene Ich. Das ist ein Ort, der so fern und nah, so tatsächlich und unglaubwürdig, wie kein anderer ist. Das Reisen, es findet hier im Kopf statt. Es ist imaginär – und das macht dieses Buch in diesen Tagen so lesenswert. Überraschend, wie jung sich diese Literatur, diese Notate heute lesen. Das Spätwerk einer 1921 geborenen kommt ganz ohne Pathos aus, diese Reise zu den Traumata der Kindheit, zum letzten Wohnort der Großmutter vor ihrer Deportation nach Minsk, wo sie ermordet wird: „Der „Anblick meiner Großmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien. Und die Leute um mich herum, die mit einem gewissen Vergnügen zugesehen haben. Ich war sehr jung und hatte die Gewißheit, daß meine Großmutter, die mir der liebste Mensch auf der Welt war, zurückkommt. Dann war der Krieg zu Ende, der Wohlstand brach aus, und die Leute sind an einem vorbeigeschossen. Das war noch schlimmer als der Krieg.“

„Gute Literatur ist mit dem Tod identisch“, sagt Aichinger, die auf Briefumschläge und Speisekarten schreibt. Am liebsten im „Dehmel“, „weil der Kaffee dort besser ist als anderswo. Ich würde sogar sagen: Der Demel-Kaffee ist einzigartig und die Demelinerinnen nehmen mich als Stück des Hauses. Ich kann dort schreiben, ich kann machen, was ich will.“

Im kommenden Jahr, 2021, feiern wir den 100. Geburtstag von Ilse Aichinger, deren Werk bis ins 21. Jahrhundert hereinragt: Untrennbar ist ihr Schaffen mit der Stadt Wien verbunden, wo sie am 11. November 2016 im Alter von 95 Jahren starb. Ihr Schreiben bleibt unvergessen, auch in der Erinnerung an den Holocaust, an die Welt der Konzentrationslager etwa in dem schon 1945 entstandenen Text „Das vierte Tor“ oder 1946 im „Aufruf zum Misstrauen“ – im Aufruf, die Geschichte nicht zu verdrängen.

1948 erschien ihr einziger Roman „Die größere Hoffnung“ – ein Buch über das Ende der Hoffnungen, ein Buch, das eine neue, verknappte, präzise Sprache fand, das heute als großes erstes Werk der österreichischen Nachkriegsliteratur gilt. 1952 erhält sie den Preis der Gruppe 47 für ihre Erzählung „Spiegelgeschichte“. Eleonore Frey hat in ihrem Nachruf in der Neuen Zürcher Zeitung das Werk Aichingers als „Schattenspiel“ beschrieben, das Heiterkeit mit Düsternis mischt, Wärme mit Kühle – und sich bis heute bewährt hat. Das niemals erlöschen wird, niemals vergehen wird, „als Erneuerung … als die lebendige Möglichkeit einer veränderbaren und so vielleicht doch immer wieder einer ‚grösseren Hoffnung‘ würdigen Welt.“

 

Simone Fässler und Franz Hammerbacher (Hrsg.): Ilse Aichinger: Unglaubwürdige Reisen. 186 Seiten. Gebunden. 25 Abbildungen. Verlag S. Fischer. Frankfurt am Main 2005. ISBN 978-3100005274. 17,90 Euro

Beitragsbild von Dimitry Anikin

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