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Nordsee statt Lebensveränderung – Über Tourismus und seine intellektuelle Betrachtung

von Matthias Warkus

Wir waren im Juli eine Woche in Ostende. Der Urlaub war so schön, dass ich Hemmungen habe, eingehend im Netz darüber zu schreiben, weil ich befürchte, dass jemand deswegen ebenfalls nach Ostende fahren und dann enttäuscht sein könnte. Deswegen geht es in diesem Text auch wenig um diesen konkreten Urlaub, sondern um Urlaubsreisen allgemein. Nicht um Geschäfts- oder Bildungsreisen, sondern um den ganz handelsüblichen Urlaub, wie er klassischerweise z.B. eben an einen Strand wie den von Ostende führt.

2019 unternahmen in Deutschland ziemlich genau 55 Millionen Menschen 70 Millionen Urlaubsreisen von fünf oder mehr Tagen. Dazu kommt noch eine erkleckliche Anzahl von Kurzurlauben (2–4 Tage). Es ist gar nicht so leicht herauszufinden, wie viele Menschen in Deutschland nie in Urlaub fahren, weil man bei entsprechenden Recherchen immer auf Zahlen dazu stößt, wie viele sich keinen Urlaub leisten können, was impliziert, dass eigentlich alle in Urlaub fahren, die das können. Das stimmt auch beinahe: 85,5 % der Bevölkerung können sich einen Urlaub leisten. Der Anteil der Bevölkerung, der reist, beträgt nach Branchenangaben 78,2 %. Das heißt: 91,5 % derer, die es können, verreisen. Wenn die Verteilung bei denen, die es sich nicht leisten können, genauso ist, sind wir also bei 91,5 % zumindest potenziell urlaubender Bevölkerung und 8,5 % absichtlich Nichtreisenden.

Nun steht aber z.B. in einem unlängst erschienen Meinungsbeitrag bei DLF Kultur:

Nach gut zweihundert Jahren Gequengel über Reisende sind wir wenig originell, wenn wir Touristen das Menschsein absprechen. Wir rümpfen auch unsere Nasen und nutzen das als Distinktionsmerkmal, wie es einst die Aristokraten taten als erst wohlhabende Bürger und schließlich, ach du Schreck, die Arbeiter auf Reisen gingen: Sich erholen wollten.

Das »Wir«, für das Anne Backhaus hier spricht, ist vermutlich kein Wir, das sich ausschließlich aus den 8,5 % Nichturlaubenden rekrutiert. Es ist ein Wir, das selbst aller Wahrscheinlichkeit nach regelmäßig verreist, aber auf Urlaubende herabschaut. Diese Haltung ist im deutschsprachigen Medienbetrieb so verbreitet, dass man mit zwei, drei einfachen Suchanfragen problemlos haufenweise Texte dazu auffinden kann. Nur drei Zitate: »Massentourismus zerstört alles Fremde« (NZZ 2019), »Sich alle paar Tage mal irgendwo von der AIDA auskotzen lassen, das [ist] kein Reisen« (ZEIT 2022), »Reisen [ist] heute allgemein nicht mehr […] als ein Akt egoistischer Unvernunft, der zerstört, was zu liebkosen er vorgibt« (ZEIT 2020). Der zuletzt zitierte Beitrag von Nils Erich und Johannes Schneider versteigt sich sogar zu der Aussage: »Reisen ist das neue Rauchen. Nur tausendmal gefährlicher, für eine viel größere Zahl von Menschen.«

Das ist natürlich Unsinn. Rauchen tötet nach Schätzungen der WHO jährlich über acht Millionen Menschen. Hätten Erich und Schneider Recht, wäre die Menschheit nach einer gut gebuchten Hauptsaison ausgelöscht. Wie kommt man nun dazu, so entgrenzt apokalyptisch über die Tätigkeit des Reisens zu reden? Man könnte vermuten, es ginge beim üblichen Diskurs über die Schrecken des Urlaubens vor allem um Umweltfragen, um Emissionen und Landschaftszerstörung (Tourismus verursacht z.B. immerhin 8 % des weltweiten CO2-Ausstoßes, fast so viel wie die Landwirtschaft). Das ist aber gar nicht der Schwerpunkt der Kritik. Sie dreht sich um Anderes. Das braucht einen nicht zu wundern, geht es doch beim Urlaubmachen um eine Tätigkeit, die man zumindest in Deutschland mit einer Wahrscheinlichkeit von über 90 % selbst betreibt oder zumindest gerne betriebe, weswegen es wichtig ist, sich die Tür dafür weiter offen zu halten. Man hat auch den Eindruck, dass gerade jene, die gegen das Reisen anschreiben, nicht unbedingt weniger unterwegs sind. Valentin Groebner, der ein ganzes pessimistisches Buch über Tourismus geschrieben hat, erwähnt in einem Radiointerview mehrfach, dass er selbst sehr viel reise.

Dieses Interview bietet ein klares Indiz dafür, was das eigentliche Problem der zum Genre gewordenen Tourismusklage ist: Es wird von Anfang an und durchweg, ohne irgendeinen Zweifel, unterstellt, dass alle, die in Urlaub fahren, dort etwas Einzigartiges, Unberührtes, Lebensveränderndes suchten: einen Strand, den noch niemand gesehen habe, eine Gegend, in der man nicht unter Seinesgleichen sei.

Damit komme ich zurück zu Ostende. Urlaub in Ostende ist das exakte Gegenteil zu einem Aufenthalt in einer unberührten Gegend voller gänzlich Fremder. Ostende ist seit zirka 200 Jahren eine Tourismusdestination und hat einen klangvollen Namen, auch wenn nahezu immer im selben Atemzug mit ihm erwähnt wird, seit den mondänen Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg sei das Seebad etwas heruntergekommen. Ich glaube, dass man davon ausgehen kann, dass die erdrückende Mehrheit der knapp 500 000 Übernachtungsgäste, die die Stadt 2019 hatte, nicht davon ausgingen, dort etwas Neues, Ungekanntes zu erleben. Vielleicht wollten sie sogar gerade nichts Neues erleben. Am Strand zu liegen und dort Wolken, Wellen und andere Badegäste anzuschauen, wird für mich nicht langweilig, und wenn, dann gibt es an einem Badeort tausend andere Dinge, die man tun kann, die aber allesamt genauso wenig neu sein müssen. Gerüchtehalber bin ich nicht der einzige Mensch, der so empfindet. Sich erholen, aus dem Alltag herausfallen, versonnen sein, faul herumhängen und es sich gutgehen lassen sind in keiner Weise innovationsbedürftige Modi des Zeitverbringens.

Die Unterstellung der Tourismus-Kulturkritik ist nun aber, dass im Urlaub existenzielle Erfahrungen machen zu wollen (am besten in Wildnis und Fremde) mit Urlaubmachen selbst identisch sei. So sagt Groebner in seinem Interview, »wir« hätten die Vorstellung, »etwas zu verändern«, indem »wir« nach Thailand flögen. Der Klappentext seines Buchs spricht davon, die Milliarden, die jedes Jahr touristisch reisten, seien auf der »Suche nach der Schönheit« und nichts Geringerem als »der großen Wiedergutmachung des eigenen Lebens«. Erich und Schneider widmen sich über längere Strecken der Dekonstruktion eines »kosmopolitisch« motivierten Reisens, sie gehen gleich von einem Milieu aus, das auf »das plebejische Urlaubmachen« der Massen herabschaue und sich die Reise über höhere, aber zum Scheitern verurteilte Vorstellungen von interkultureller Verständigung und Horizonterweiterung legitimiere.

Beides läuft letztlich auf dasselbe hinaus: Man unterstellt entweder der Masse der Tourist*innen wahnhaft-unrealistische Motive – wer käme darauf, eine Woche belgische Nordseeküste könnte seinen interkulturellen Horizont lebensverändernd erweitern, gar sein Leben wiedergutmachen (also: in einem ernst gemeinten Sinne und nicht bloß so, wie wenn jemand twittert, eine besonders gute Grillmarinade habe »ihn Gott sehen lassen«)? Oder man schließt, wie so oft im kulturkritischen Feuilleton, die breite Masse eigentlich aus und beschränkt die Betrachtung auf ein schmales Milieu, spricht mit einem »Wir alle« dann letztlich doch nur für die paar zehntausend Kulturbetriebsmenschen, die den Bildungshintergrund sowie die Ressourcen haben, passmanneske Geschmacksreflexion zu betreiben, und unter dem diskursiven Druck stehen, der sie dazu veranlassen kann.

Meine boshafte Vermutung zu Texten wie dem von Erich und Schneider (aber beileibe nicht nur zu diesem) ist, dass das Klimathema ihren Verfasser*innen geradezu zupass kommt, um das kulturell-geschmacklich »Falsche« am Urlaub noch damit zu hinterlegen, dass Urlaub eben auch physisch-ökologisch falsch sei. Ob das dem Planeten am Ende guttut? Die materielle Frage, wie die ökologischen Probleme, die Tourismus verursacht, tatsächlich gelöst werden können, verschwindet ja mehr oder minder hinter dem ideellen Missstand, dass die existenziell verlogene Praxis des Reisens noch nicht zur Gänze abgeschafft wurde. (Diese Denkfigur hat natürlich bis mindestens zu Enzensberger und der frühen kritischen Theorie zurückgehende Wurzeln, das sei hier nur erwähnt, damit sich niemand bemüßigt fühlt, mich darauf hinzuweisen.) Dass es mittlerweile eine popkulturelle Binsenweisheit geworden ist, ausgerechnet Kreuzfahrten seien die schädlichste Art von Reisen, obwohl bei einer Rucksackreise nach Vietnam bereits der Hin- und Rückflug dreimal so viel CO2 verursacht wie eine einwöchige Mittelmeerkreuzfahrt, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es in diesem Diskurs um die Umwelt höchstens in zweiter Linie geht.

Das 90er-Jahre-Konzept »Sanfter Tourismus« kommt in keinem der zitierten Texte überhaupt noch vor: Tourismus ist eben aus kulturellen Gründen immer falsch, sei er ökologisch noch so vertretbar. Wenn er überhaupt noch zu rechtfertigen ist, dann nur aus Gründen, die so sehr individuell sind, dass sie selbst den angeblich universellen falschen Wunsch nach Ausbruch, Schönheitserleben und Wiederganzwerden übersteigen – dann legitimieren sie aber sogar, dass Raphael Thelen mit einem dreizehn Jahre alten Dieselbus durch die Welt brummt, solange eben ein »Essay« über seine Gewissensbisse dabei herausspringt.

Wie wäre es also, wenn all die Tourismuskritik letztlich nichts als Distinktion wäre, rationalisierte Abgrenzung zunächst von der Masse und ihren unfeinen Konsumpraktiken, dann aber wiederum Abgrenzung von der Abgrenzung, nämlich von der sich bereits davon distinguierenden »höheren Masse« der Backpacker und Vanlifer? Nichts als eine neue Tretmühle für den auf Bildungseliten des 18. Jahrhunderts zurückgehenden Imperativ, das »Abgeschmackte« zu vermeiden und in einem sich stets erneuernden, kreativen Lebensstil Individualität zu entwickeln? Geschichtsblind auch gegenüber der Tatsache, dass gerade die konsumierende Masse der »kleinen Leute« in der Moderne Internationalität und Horizonterweiterung vorantrieb (hierauf hat Bodo Mrozek hingewiesen)?

Das mag alles so sein. Man könnte außerdem annehmen: dass a) die Motive für eine Urlaubsreise den Reisenden selbst – unabhängig von Art der Reise und sozialem Hintergrund der Reisenden – in der Regel transparent sind und daher nicht zwangsläufig und massenhaft enttäuscht werden, weder am Nordseestrand noch beim Backpacken in Thailand; dass b) eine Tätigkeit nicht schon allein dadurch im Wert sinkt, dass viele andere sie ebenfalls ausüben; und dass c) die Wertungen, die wir an Tourismus herantragen, objektiv und empirisch gegründet sein sollten, nicht auf Unterstellungen über den Eigenwert von Lebensstilen. Wenn man das tut, dann landet man bei dem Schluss, dass man die ökologischen und sozialen Verheerungen, die Tourismus anrichtet, unbedingt kritisieren und bekämpfen sollte – nur eben als materielle Tatbestände und nicht als Epiphänomene von etwas, das man aus letztlich metaphysischen Gründen als stets schon irgendwie widerwärtig betrachtet. 

Foto vom Verfasser

Vom Briochekipferl zum Äußersten: Ilse Aichingers Buch „Unglaubwürdige Reisen”

Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig. Ilse Aichinger

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon ziemlich früh auf“, schreibt die 2016 im Alter von 95 Jahren in Wien verstorbenen Ilse Aichinger im ersten ihre kurzen Reisefeuilletons, die zwischen 2001 und 2004 immer Freitags im Wiener „Standard“ erschienen sind.

Einige dieser Texte wurden im Jahr 2005 in dem Band „Unglaubwürdige Reisen“ zusammengefasst. „Unglaubwürdige Reisen“: Der Titel stellt das Tun der Schriftstellerin in Frage, doch so sehr muss man sich darüber nicht wundern: Reiseliteratur war seit ehedem „unglaubwürdig“. Vom Abenteuer- und Schelmenroman über Joseph von Eichendorff, Jules Verne, Mark Twain, Karl May bis hin zu der autobiografisch gefärbten Reiseliteratur von Joseph Conrad oder Hubert Fichte – überall unglaubwürdige, unglaubliche Reisen.

© Stefan Moses

Was die 1921 in Wien geborene Ilse Aichinger von vielen Autoren und Autorinnen unterscheidet: Für Ihre kurzen Texte bewegte sie sich kaum vom Fleck. Sie musste nicht fort. Tat einfach das, was sie immer tat. Saß in einem Wiener Kaffeehaus, vorzugsweise dem „Demel“, der „k.u.k Hofzuckerbäckerei“, und begann, schreibend zu reisen. Dabei verbindet sich Gefundenes, Erfundenes und Erinnertes zu einem literarischen Knoten, den zu Lösen man nicht vermag. Der Reiz dieser Kaffeehaus-Literatur liegt aber auch genau darin: Ausgehend von der eigenen, bewegten Biografie entsteht bei Aichinger Literatur, welche die Geschichte des 20. Jahrhunderts wie kaum eine zweite als Subtext mitschreibt.

Im „Demel“ saß sie also beinahe jeden Tag und schrieb. Gerne zwischen zwei Kinovorstellungen, denn das Kino war stets die größte Leidenschaft von Ilse Aichinger. Wir begleiten Aichinger mit ihrer Zwillingsschwester in die Kapuzinergruft, reisen mit ihrem Urgroßvater durch den Kaukasus, mit Sigmund Freud in sein Londoner Exil, mit „der Schrederin“, einer alten Bäuerin, nach Großgmain – und mit der polnischen Putzfrau nach Auschwitz. Vor allem jüdische Geschichte steckt in diesem Buch.

Jüdische Geschichte, erlebt mit der jüdischen Mutter, einer Ärztin. Die Flucht der Zwillingsschwester ins Londoner Exil, die Deportation der Großmutter und anderer mütterlicher Verwandtschaft, von Schulfreundinnen und Nachbarn in die Vernichtungslager. Der Tod ist einer der treusten Reisebegleiter dieser inneren Reisen in die Vergangenheit. Die Figuren aus der Vergangenheit, der bei einem Unfalltod verstorbene Sohn Clemens, sind nicht abwesend. Als Schatten spielen sie eine Rolle, bis heute. „Unglaubwürdige Reisen“ ist ein Buch, das die Macht des nur vermeintlich Abwesenden betont.

Von ihren Personen spricht Aichinger als „kräftige Schattenrisse“. Allesamt Protagonisten aus der „Landschaft des eigenen Lebens“. Sie trifft sie in New York oder in der Wiener Anatomie, in Novi Sad, Aberdeen, Danzig oder in Linz, doch vor allem in ihrer Erinnerung: Günter Grass, Günter Eich, mit dem Aichinger verheiratet war, Thomas Bernhard – dieses Buch ist auch eine Begegnung mit den Protagonisten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.

Der Anlass zum Schreiben ist oft ein Äußerlicher. Eine Beobachtung, eine Pressenotiz etwa. Sogar der Wunsch nach einer nächtlichen Grießnockerlnsuppe, bei der ihr Denken als Autorin einsetzt. Wie etwa beim Betrachten der Speisekarte im Kaffeehaus: „‚Feinstes Briochekipferl oder flaumiger Guglhupf’ zum ‚Demel Frühstück’. Oder ‚zwei Kaisersemmerln sowie ein weiches Ei’ zum ‚Wiener Frühstück’. Und zum ‚Heißgetränk Ihrer Wahl’ gibt es ‚soft boiled egg, ham and cheese, fresh orange juice (1/8)’. An solchen Angeboten jagen die Passanten vorbei: Verspätete Gruppenreisende, versprengte Prozessionsteilnehmer. Es genügt ‚der kleine Anstoß, der sie in Bewegung setzt’, von dem Simenon schreibt, in Bewegung ‚bis zum Äußersten ihrer selbst’“ – mit Ilse Aichinger vom Briochekipferl zum Äußersten.

Ilse Aichinger wieder lesen. Im November des Jahres 2020. Aichingers Schreiben liest sich heute noch markanter als ein Plädoyer für die Entschleunigung. Nicht Ihr Stil, der ist schnell. Kurze Sätze wechseln mit längeren, Fragiles mit Festem. Einfaches mit Komplexem. Es ist keine hohe Sprache, doch sie hat einen ganz eigenen Klang. Dieses Buch ist auch ein Lob der kurzen, im besten Sinne journalistischen, tagebuchhaften Form. Wie viel in zwei Seiten Aichinger steckt! Die genaue Beobachtungsgabe und das Vermögen, im Kleinen das Große, Übergeordnete zu sehen, daraus kleine Kunstwerke zu gestalten, macht Aichingers Literatur so kostbar.

Wenn einer eine Reise tut, da kann er was erzählen. Doch selten von dem Fremden. Hier, im Schreiben, findet sie sich, auf alten, gleichen Wegen: „Ich geh‘ auch jetzt noch immer dieselben Wege, wenn ich was Neues erfahren will. Wenn man nach Rio de Janeiro fährt, sieht man ja nichts Neues. Man versucht immer, seine alten Vorstellungen einzubauen.“

Das eigene Ich. Das ist ein Ort, der so fern und nah, so tatsächlich und unglaubwürdig, wie kein anderer ist. Das Reisen, es findet hier im Kopf statt. Es ist imaginär – und das macht dieses Buch in diesen Tagen so lesenswert. Überraschend, wie jung sich diese Literatur, diese Notate heute lesen. Das Spätwerk einer 1921 geborenen kommt ganz ohne Pathos aus, diese Reise zu den Traumata der Kindheit, zum letzten Wohnort der Großmutter vor ihrer Deportation nach Minsk, wo sie ermordet wird: „Der „Anblick meiner Großmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien. Und die Leute um mich herum, die mit einem gewissen Vergnügen zugesehen haben. Ich war sehr jung und hatte die Gewißheit, daß meine Großmutter, die mir der liebste Mensch auf der Welt war, zurückkommt. Dann war der Krieg zu Ende, der Wohlstand brach aus, und die Leute sind an einem vorbeigeschossen. Das war noch schlimmer als der Krieg.“

„Gute Literatur ist mit dem Tod identisch“, sagt Aichinger, die auf Briefumschläge und Speisekarten schreibt. Am liebsten im „Dehmel“, „weil der Kaffee dort besser ist als anderswo. Ich würde sogar sagen: Der Demel-Kaffee ist einzigartig und die Demelinerinnen nehmen mich als Stück des Hauses. Ich kann dort schreiben, ich kann machen, was ich will.“

Im kommenden Jahr, 2021, feiern wir den 100. Geburtstag von Ilse Aichinger, deren Werk bis ins 21. Jahrhundert hereinragt: Untrennbar ist ihr Schaffen mit der Stadt Wien verbunden, wo sie am 11. November 2016 im Alter von 95 Jahren starb. Ihr Schreiben bleibt unvergessen, auch in der Erinnerung an den Holocaust, an die Welt der Konzentrationslager etwa in dem schon 1945 entstandenen Text „Das vierte Tor“ oder 1946 im „Aufruf zum Misstrauen“ – im Aufruf, die Geschichte nicht zu verdrängen.

1948 erschien ihr einziger Roman „Die größere Hoffnung“ – ein Buch über das Ende der Hoffnungen, ein Buch, das eine neue, verknappte, präzise Sprache fand, das heute als großes erstes Werk der österreichischen Nachkriegsliteratur gilt. 1952 erhält sie den Preis der Gruppe 47 für ihre Erzählung „Spiegelgeschichte“. Eleonore Frey hat in ihrem Nachruf in der Neuen Zürcher Zeitung das Werk Aichingers als „Schattenspiel“ beschrieben, das Heiterkeit mit Düsternis mischt, Wärme mit Kühle – und sich bis heute bewährt hat. Das niemals erlöschen wird, niemals vergehen wird, „als Erneuerung … als die lebendige Möglichkeit einer veränderbaren und so vielleicht doch immer wieder einer ‚grösseren Hoffnung‘ würdigen Welt.“

 

Simone Fässler und Franz Hammerbacher (Hrsg.): Ilse Aichinger: Unglaubwürdige Reisen. 186 Seiten. Gebunden. 25 Abbildungen. Verlag S. Fischer. Frankfurt am Main 2005. ISBN 978-3100005274. 17,90 Euro

Beitragsbild von Dimitry Anikin