Ende November 2020 veranstaltete der britische Verlag Comma Press in Zusammenarbeit mit der Manchester Writing School die erste online “National Creative Writing Industry Conference” in Großbritannien. Den Eröffnungsvortrag hielt die nigerianisch-britische Autorin Irenosen Okojie. Sie sprach über ihre Entwicklung als Schriftstellerin und verband dies mit Ratschlägen an Autor*innen, die am Anfang ihrer Karriere stehen. Der folgende Text bildet den programmatisch-poetischen Beginn ihrer Rede. Anmerkungen zur Autorin finden sich im Anschluss.
Übersetzung von Marie-Isabel Matthews-Schlinzig
Im Prozess des Schreibens erhebt sich das Selbst in ein höheres Bewusstsein. Es ist ein politischer Akt, ein Auge in der Menge, ein marodierender Windstoß aus der Tasche eines Bauchredners, eine Form der Alchemie, die uns dazu ermutigt, mit dem Existenziellen zu ringen, das ins Alltägliche übergreift. Es ist eine Folge inniger Vorwärtsbewegungen, die ihresgleichen sucht. Ich schreibe aus dem disruptiven Raum heraus. Dort finde ich die Umrisse von ineinander stürzenden Geschichten. Dort nehme ich knittrige Papiere auf, die darauf harren, dass das untaugliche Kritzeln meiner Handschrift sie zu Blaupausen macht. Dort weiß ich, dass Schreiben eine Verbindungslinie zu alternativen Lebens-Existenzen ist. Geschichten sind lebendig, atmen. Sie verwandeln unsere Fantasien in ein Multiversum.
Irgendwann einmal begegnet mir in diesem disruptiven Raum June Jordan. Sie reicht mir ein Prisma. Aus diesem werden:
Sternbilder
Ein Gedicht
Eine Reihe von Anfängen
Ein Plot in einem Miniaturbild, das ein Ertrinken zeigt
Ein kaleidoskopischer Sturz ins Weltall
Sie sagt mir, es gebe keine Abkürzungen, wenn es darum geht, das eigene Potenzial als Schreibende zu entfalten. Du musst die Arbeit machen. Im Dunkeln die Teile der Erzählungen aufsammeln, wenn nötig blindlings, um sie morgens zum Singen zu bringen. Du musst dich fragen, wessen Geschichten du erzählen musst und dann entscheiden, wann Du sie erzählen willst. Wenn es keinen Tisch gibt, auf dem sich schreiben lässt, baue ihn. Wenn es keinen schon beschrittenen Pfad gibt, bahne ihn selbst. Hier sind die Echos, die ich mit fiebriger Hand erschuf. Du wirst deine eigenen schaffen. June übergibt mir einen klecksenden Stift, um die unvermeidlichen Zweifel niederzustrecken.
Irgendwann einmal tauschen auf dieser disruptiven warmen Ebene Sun Ra, C. L. R. James und Ntozake Shange Textstellen aus, erfüllt von der Macht schreibender Ahninnen und in dem Bewusstsein, dass sie selbst literarische Vorfahren sein werden. Wenn Kunst uns Seinsweisen aufzeigt, dann möchte ich mir den strahlenden Geist von Octavia Butlers morgendlichen Erscheinungsformen einverleiben,1 die Tagträume des durch die Straßen von Paris streifenden James Baldwin erben, dann meine eigenen heraufbeschwören und Ursula K. Le Guins Einkaufstaschen halten, wenn ich will, dass sich meine Visionen Definitionen widersetzen.
Die ersten Geschichten, die ich hörte, waren Fabeln an Feuern in Benin. Ich erinnere mich an das Lachen, an Momente der Überraschung, an das gemeinsame Essen, an unsere Körper geschart um das Zentrum der Geschichte, an das Gefühl der Zufriedenheit. Danach blieben wir zurück mit den Samen anderer Möglichkeiten, waren wir irgendwie verändert worden durch das Staunen und die Macht des Geschichtenerzählens. Beim nächsten Mal, als ich wieder Versionen dieser Geschichten hörte, wurden sie auf etwas andere Weise erzählt, zurückerobert durch andere riesige Münder. Das ist es, was an Geschichten erfreut, deren Bedeutungen sich vervielfältigen und unterschiedliche Eingangspforten in unsere Seelen finden.
Wie fängt man an zu schreiben? Das Alltägliche zu Sinfonien auf dem Blatt zu verwandeln ist eine Kunstform; die verborgenen Leben der Entrechteten zu zeigen ist ein leises Aufbegehren. Für einige von uns ist das Schreiben eine Notwendigkeit, kein Luxus. Es ist ein mutiger Akt, sich vor einem Publikum angreifbar zu machen. Du trittst deinen Ängsten entschlossen entgegen und drängst voran, bis du etwas darzubieten hast, das du fest halten kannst. Um etwas von dieser und der nächsten Welt einzufangen, müssen wir schreiben.
Wir müssen schreiben, um unsere besseren Ichs, unsere niederen Ichs und unsere verborgenen Ichs zu erkunden. Wir müssen unsere Geschichten hinterlassen wie zahllose Gravuren, die an den Wänden des Drachenhauchlochs in der Kalahari atmen. Wir müssen für den Straßenjünger schreiben, der Sanskrit spricht und im Winter nach Kinkaku-ji reist, um mannigfache Wahrheiten zu finden – jedoch nur ein Buch mitnimmt. Wir müssen für den Jungen schreiben, der gemobbt wird, und der das gleiche Exemplar von Nach der Flut das Feuer – ‘The Fire Next Time2’ in verschiedenen U-Bahnstationen der Stadt sieht und in dessen Ohren diese Worte über die verzerrte Frequenz der Neinsager hinweg klingeln. Wir müssen für die misshandelte Frau schreiben, für die die Gesellschaft von Büchern ein Zufluchtsort ist, und für den jungen Mann im Gefängnis, der eines Tages, in dem für ihn größten Akt der Transformation, nach einem Exemplar deines Romans greift. Wir geben dem Mädchen, das meint, sie sei abends eine Vogelspinne, ein Exemplar von Kafkas Verwandlung. Unsere Geschichten müssen erzählt werden: angefangen von der mündlichen Überlieferung der Grioten, über die Männer, die an Speakers‘ Corners Erleuchtung erfahren, bis hin zu den Jugendlichen, die Sprache als Protest gebrauchen.
Bücher verändern Leben. Bücher sind Pilgerwege. Sie sind Energieströme, die unsere Vorstellungskraft befeuern. Wir müssen um unserer geistigen Gesundheit willen schreiben. Bücher sind Kometen, die in jeder möglichen Version der Realität wieder auftauchen. Sie stecken im Körper wie Juwelen im Blut. Literatur ist für jedermann, ganz egal, woher ihr kommt. Eure Ideen sind bedeutsam. Jede einzelne. Findet Wege, die sie schlagende Herzen sein, aufblühen und bei Tagesanbruch zu euch sprechen lassen. Gebt euren Geschichten den Raum, sich zu verwandeln, bevor sie euch entwischen, um dann wieder aufzutauchen und nach und nach Gestalt anzunehmen. Sie können optische Illusionen sein, nach denen ihr durch das Banale des Alltäglichen hinweg greift; die winzige Glut, die zwischen Atemzügen an Dimension gewinnt; die unbezähmbare Flamme im Dunkeln, die sich euren Anweisungen fügt.
Es gilt Historien zu schreiben, in Zukünfte zu springen, die Gegenwart auf die Art und Weise zu verarbeiten, die euch passt. Die Rhythmen eures Schreibens warten darauf, eure Körper zu durchdringen. Sie benötigen lediglich euren Stift, eure Fingerabdrücke, Schritte des Zutrauens, die gleichzeitig Anker sind.
Ein Mann, der im Eishotel in Jukkasjärvi, Nordschweden, festsitzt, verliert an der Bar den Kopf. Er weiß nicht, wie das passiert ist. Eine stumme Frau rettet ein nach einem Erdbeben in Kalifornien unverletztes Baby. Ein Mann, der in einem Heißluftballon über dem San Fernando Valley schwebt, ist ohne Erinnerung. Das sind Figuren, die ihre Verheerung auf dem Blatt erwarten. Was birgt sich im Nichtvorhandenen? Sie verlangen danach, ihr jeweiliges Samsara zu durchlaufen. Ihr könnt in einem Bewusstsein der Dringlichkeit Welten erbauen oder sie langsam erschaffen und dabei mit gemessener Beharrlichkeit vorgehen. Es gibt keinen richtigen oder falschen Weg, eine Geschichte zu erzählen. Kritzelt rasch das Ende hin und arbeitet euch dann zur Mitte vor. Schreibt Anfänge, bis ihr den richtigen findet. Tut Dinge in der falschen Reihenfolge, um zu sehen, wie sich das anfühlt. Folgt euren Instinkten. Fordert euch selbst heraus. Greift bereitwillig die anarchischen Geister literarischer Vorfahren auf, die euch dazu drängen, über vermeintliche Grenzen hinaus zu schauen. Beginnt mit dem ersten Satz. Lasst ihn zu einer Obsession werden. Dies ist ein Weckruf. Dies ist eine festgetäute Sirene, die in der Stille hockt. Wir müssen unseren Vielheiten ein Dasein erschreiben.
Über die Autorin
Irenosen Okojie wurde in Nigeria geboren und lebt seit ihrem achten Lebensjahr in England. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet sie freiberuflich als Projektmanagerin im Kulturbereich. Darüber hinaus engagiert sie sich als Jurorin diverser Literaturpreise und in der Arbeit mit jungen Autor*innen. Irenosens Debütroman Butterfly Fish – eine Familiengeschichte epischen Ausmaßes, die zwischen Benin und London spielt – erhielt einen “Betty Trask Award”. Ihre Kurzgeschichtensammlung Speak Gigantular stand u. a. auf der Shortlist für den “Edge Hill Short Story Prize” und den “Jhalak Prize”. Ihr neuer Erzählband Nudibranch wurde gepriesen für die Imaginationskraft der Autorin und ihre Bereitschaft, erzählerische Risiken einzugehen. Für ihre Geschichte “Grace Jones” gewann Irenosen den “AKO Caine Prize for African Writing 2020”.
[1] Octavia Butler arbeitete eine Weile in befristeten Jobs, die es ihr erlaubten, um 2 oder 3 Uhr nachts zum Schreiben aufzustehen.↩
[2] Übersetzung des Titels: Miriam Mandelkow.↩
Beitragsbild Hanson Lu