von Maryam Aras
‘Mikroaggression’ ist ein seltsames Wort. Ich kenne es noch gar nicht so lange, habe es aber ein paar Mal in Unterhaltungen benutzt und dabei beobachtet, dass es eine bemerkenswerte Wirkung entfaltet. Meist nicken Menschen wissend oder zustimmend, wenn sie es hören. Dabei mag ich das Wort nicht besonders. Natürlich verstehe ich seinen praktischen Nutzen: Es macht unterschwellige, oft schwer greifbare Diskriminierungserfahrungen sichtbar und verleiht ihnen durch die Macht des Aussprechens Legitimität. Das Wort wirkt so lapidaren Entwertungsversuche wie „Sei nicht so empfindlich“ oder „Das war nicht so gemeint“ entgegen. Sicher, das ist gut, vor allem, wenn wir an die ständigen Bestrebungen denken, die Existenz von strukturellem Rassismus als solchen in Frage zu stellen. Die zwischenmenschlichen Verstrickungen aber, in denen diese Aggressionen passieren oder die Gefühlswelten, die durch sie ausgelöst werden, bleiben außen vor.
Es ist an sich ein unspezifischer Begriff. Othering ist mir lieber, weil es eine bestimmte Art der Fremdheitserfahrung und Verletzung mittransportiert. Das Gefühl in Konsequenz, nicht normal – eben „anders“ –, fehl am Platz oder im eigenen Leben zu sein, steckt schon darin. Vielleicht schätze ich den Begriff auch so, weil ich ihn etwa in der Mitte meines Amerikanistikstudiums kennengelernt habe und er mir damals wie ein lange fehlendes Codewort den Zugang zu meiner eigenen Erfahrungswelt freigab.
All das entrollte sich in meinem Kopf, als ich Shida Bazyars zweiten Roman Drei Kameradinnen las und wenige Tage später ein Interview mit ihr hörte, in dem auch sie das Wort Mikroaggression verwendete. Als ein Teil der Lebenswelt ihrer drei Heldinnen Kasih, Saya und Hani. Viele der kleineren Situationen im Leben der drei jungen Frauen, die Bazyar wie einen Berg an Traumata aufhäuft, ließen sich als solche Aggressionen beschreiben, oder aber – zusammen mit einigen einschneidenden Erlebnissen – als Ausgrenzung, Rassismus und Othering. Gleichzeitig ist Drei Kameradinnen eine große Erzählung von schwesterlicher Freundinnenschaft und Solidarität.
In seinem Essayband von 1962, The Fire Next Time, schreibt James Baldwin in einem Brief an seinen fünfzehnjährigen Neffen, „It is the innocence which constitutes the crime. […] This innocent country set you down in a ghetto in which, in fact, it intended that you should perish.” Auch die winzigen und größeren Verletzungen, die die drei Hauptfiguren Bazyars erleben, haben ihren Ursprung meist in der Unschuld ihres Gegenübers. Ihre gemeinsame Geschichte schreibt Kasih für uns in einer Nacht nieder. Kasih ist eine der mitreißendsten Ich-Erzählerinnen der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie ist absolut nicht reliable. Saya, Hani und sie wachsen in einer namenlosen Vorstadtsiedlung auf. Die ist eher prekär als idyllisch, aber die Sandkastenfreundinnen Saya und Kasih haben trotzdem ihre nostalgischen Kindheitsgeschichten, die uns Kasih in dieser Nacht, als sie all dies aufschreibt, ebenfalls erzählt.
Dunkler Erzählhorizont
Bevor sie als Erzählerin spricht, leitet Bazyar ihren Roman mit einem fiktiven Zeitungsartikel ein. Reißerisch wird über den Großbrand eines Wohnhauses berichtet, bei dem viele Menschen ums Leben gekommen seien. Saya M. wird als die Hauptverdächtige ausgemacht. Ihre Eltern hätten bereits früher „mutmaßliche Islamisten, die mit Besuchervisa nach Deutschland kamen“ bei sich aufgenommen, M. sei mit einer „radikalisierten Ideologie“ aufgewachsen. Auch ein Volker M. wird erwähnt, den Saya angeblich einige Stunden, bevor das Wohnhaus in der Bornemannstraße brannte, unter „Allahu-Akbar“-Rufen angegriffen haben soll. Die Polizei gehe nur noch nicht von einem Terroranschlag aus, wegen der zur Schau getragenen linken Gesinnung Saya M.s.
Dem Artikel stellt Bazyar Kasih als Erzählerin ihrer Version der dramatischen Geschehnisse entgegen, auf die alles wie auf einen dunklen Horizont zusteuert. Doch sie stellt gleich auf der ersten Seite klar, was wir von ihr zu erwarten oder nicht zu erwarten haben:
Ich möchte fair bleiben, alle Missverständnisse aus dem Weg räumen und von vornherein kein Geheimnis daraus machen, was dieser Text ist und was er nicht ist.
Ich möchte das doch nicht.
[…] Ich bin nicht: die Ausgeburt der integrierten Gesellschaft. Ich bin nicht: das Mädchen, das ihr euch angucken könnt, um mitleidig zu erklären, ihr hättet euch mit den Migranten beschäftigt und es sei ja alles so dramatisch, aber auch bewundernswert. Ich bin nicht: das Mädchen aus dem Getto.
Ich bin: das Mädchen aus dem Getto.
Doch diese Ambiguitäten werden mehr und mehr in die Erzählung verblendet, denn Kasih wickelt uns geschickt ein. Saya ist „im Knast“ und während sie darauf wartet, dass die Freundin entlassen wird, schreibt Kasih die Nacht hindurch.
Sie erzählt, nicht immer chronologisch, wie sie, Saya und Hani in ihrer Siedlung aufwachsen. Von den wertenden Blicken auf die Kopftücher von Sayas Tanten, als die zu Besuch kommen. Von Sayas Schamgefühl, als sie sich selbst bei dem Wunsch ertappt, die Tanten mögen im Bus leiser sprechen. Von den abschätzigen Bemerkungen, die Kasihs und Sayas Mitschüler aus dem Gymnasium Hani gegenüber fallen lassen, als sie sie mit auf eine Party nehmen. Sie ist zwar blond, mit ihrem Akzent aber Ziel von Sexismus und antislawischem Rassismus.
In einem Interview im Saarländischen Rundfunk wird Bazyar gefragt, ob dieses Buch mit ihrem ersten Roman Nachts ist es leise in Teheran, verwandt sei. „Das Leben zwischen zwei Welten, Einwanderung, Flucht“ werde im ersten thematisiert, und auch hier gehe es um Figuren, deren Eltern oder sie selbst in anderen Ländern geboren seien. Auf diese etwas ungelenke Frage antwortet Bazyar: „Das ist nun mal meine Perspektive, das Postmigrantische, wenn man so will.“ Ganz anders als in Nachts ist es leise in Teheran, das eine autofiktionale Familienhistorie zwischen Iran und Deutschland erzählt, verweigert sich Kasih in Drei Kameradinnen der ewigen Frage nach der wirklichen Herkunft:
Ihr wartet auf den Moment, in dem ich erkläre, wer von uns aus welchem Land kommt. Das nämlich müsst ihr wissen, bevor ihr euch in uns eindenken könnte. Das ist für euch eine ungefähr so wichtige Information wie die, am Rand welcher deutschen Kleinstadt wir aufgewachsen sind und wie alt wir sind und wer von uns die Heißeste ist. Ich sage euch dazu nichts. Da müsst ihr durch. Ich weiß ja auch über euch nichts.
Das miterzählte Wir
Dieses Spiel mit Leseerwartungen setzt nicht nur auf den Affekt eines weißen Publikums, es strukturiert auch seine Leser*innenschaft in das angesprochene weiße „ihr“ und dem Ausgrenzungen ausgesetzten Wir der Erzählerin und ihrer Freundinnen. So dichotomisch, wie diese Lagerbildung zunächst scheint, ist sie jedoch nicht: Auch wir können uns Kasihs Erzählstrategie, die katastatisch, sich der Katastrophe nähernd, mit dem Verdachtsmoment gegen Saya kokettiert, nicht entziehen. Außerdem spaltet das von rassistischer und sozialer Ausgrenzung betroffene Wir der Freundinnen auch uns als nicht-weiße Leser*innenschaft. Auch wenn die Grenzen für Menschen mit Fluchtbiografien in der Familie oft fließend sein mögen – wo stehen wir als Lesende, die die Rassismuserfahrungen der Figuren zwar teilen, nicht jedoch soziale Stigmata einer Kindheit und Jugend im Kleinstadt-Ghetto? Welche Traumata haben wir gemein, wo gehen die Lebenswelten auseinander? Wie verändert sich unsere Wahrnehmung mit sozialem Aufstieg? Bazyars Erzählperspektive wirft Fragen auf, denen sich auch postmigrantische Communities und Schreibende verstärkt stellen müssen.
In einem Interview mit BBC-Farsi anlässlich der Veröffentlichung der persischen Übersetzung ihres Nachts ist es leise (2021 erschienen im Kölner Forough Verlag) bemerkte Bazyar, der Roman sei in Deutschland vor allem als eine Erzählung von Immigration, Asylsuche und Sich-Zurecht-Finden in der deutschen Gesellschaft aufgenommen worden. Für sie selbst sei es aber vor allem eine Geschichte über die Islamische Revolution und deren Nachwirkung auf die verschiedenen Charaktere und Generationen, denen sie versucht habe nachzuspüren. In diesem Licht erscheint ihr Widerstreben gegen jegliche Festschreibung ihrer Figuren im neuen Roman fast wie eine Reaktion auf die deutsch-selbstbezogene Rezeption des Erstlings: Ihr meint, dass sich alles um Euch dreht? Da habt Ihr eure Erzählung von Deutschland! Now, deal with it.
Versehrte Seelen
Um mit kleinen und großen Wunden, die Othering und andere Rassismuserfahrungen der menschlichen Psyche zufügen, umzugehen, haben die drei Freundinnen unterschiedliche Strategien entwickelt. Kasih folgt Saya meist in ihrer Wahrnehmung und Analyse, traut sich jedoch nicht, ähnlich offensiv mit der Diskriminierung umzugehen. Die Beziehung zu Lukas gibt ihr vorübergehend das Gefühl, in der Mehrheitsgesellschaft verschwinden zu können. Seine Weißheit verleiht ihrem Dasein eine Selbstverständlichkeit, die ihr zuvor fremd war. Die Wendung, die ihre Beziehung am Schluss nimmt, kann als die eigentliche Katastrophe der Erzählung gelesen werden.
Hani hingegen fordert die Betrachtungsweisen von Saya und Kasih oft heraus; ihre äußere Unauffälligkeit macht es ihr zwar manchmal einfacher. Sie wird jedoch von ihrer Außenwelt ständig unterschätzt. Ihre Stimme, die abwiegelt und relativiert, wenn Saya Vorurteile und Ausgrenzung anprangert, bildet einerseits eine assimilierte Perspektive (vielleicht auch die einer weißen Leser*innenschaft) ab, andererseits zeigt Bazyar in ihren Brüchen auch die Vorurteile der Freundinnen auf. Auf der Hochzeit der gemeinsamen Bekannten Shaghayegh ist es Hani, die ahnt, dass hier des Aufenthaltsstatus wegen geheiratet wird. Auch verstößt die Freundin mit iranischem Namen gegen die Erfüllung des Klischees, einen reichen, weißen Arzt geheiratet zu haben. Der Bräutigam stellt sich als Schwarz heraus. Auch Saya und Kasih müssen ihre Denkmuster überprüfen.
Ausgerechnet Saya, die offenbar Stärkste der Drei aber, kann die vermeintlich winzigen Verletzungen, die Bazyar so authentisch einfängt, nicht mehr in sich einschließen, ihr Körper versagt den Dienst. Im Schlaf, oder Halbschlaf, das ist nicht ganz klar, scheinen all die winzigen Wunden aufzubrechen, und ihr Körper wirft sich mit aller Kraft gegen Wände, gegen Bettgestelle. Es ist, als ertrüge ihre versehrte Seele die Unversehrtheit des Körpers nicht mehr. Es sind selten böse Menschen, die ihr diese Verletzungen zufügen. Wie Baldwin schreibt: „It is the innocence, which constitutes the crime.“
Bazyar beschreibt diese Situationen und auch die unschuldig handelnden Randfiguren in ihnen treffsicher und mit einer feinen Ironie, die Kasih zu eigen ist. Eine einprägsame Szene, die Saya wieder und wieder rekapituliert, ereignet sich auf dem Geburtstag der Mutter von ihrem erstem Freund Leo. Seine Tante will sie, die Freundin des Neffen überschwänglich willkommen heißen – und begrüßt doch nicht sie, Saya, sondern die blonde Tennispartnerin der Schwester, die an Leos anderer Seite sitzt. Noch über Jahre hinweg dreht und wendet sie die Situation, seziert alle vorgefertigten Bilder, Annahmen und Vorurteile, die zu diesem scheinbaren Missverständnis geführt haben.
Doch irgendwann scheint Saya zu müde, um die kleinen hässlichen Situationen und Stiche, die die Basis ihrer persönlichen Traumata bilden, immer wieder offen anzusprechen und die Legitimität ihres Schmerzes vor der Außenwelt zu verteidigen. Nicht nur ihr Körper kann nicht mehr wegstecken, auch ihr Bewusstsein sucht das nicht mehr unschuldig Verletzende, sondern das wirklich Böse. Nazis, die ihr und uns den Tod wünschen. Fast scheint es, als brauche sie dieses Böse als Vergegenwärtigung ihrer Selbst. Bazyar benennt den NSU und seinen Gerichtsprozess in München genauso wenig wie alle anderen geographischen oder zeitlichen Bezüge. Die Parallelen sind jedoch klar. Saya verbringt Stunden mit dem Lesen der Chat-Protokolle der Terroristen und kontaktiert sogar Volker M., einen geistigen Brandstifter der Gruppe. Unschuld kann sie nicht länger ertragen.
Noch während dieser Roman lektoriert wurde, riss der Attentäter von Hanau am 19. Februar 2020 neun Menschen aus dem Leben. Neben dem Schock und der Trauer dachte die Autorin Shida Bazyar darüber nach, ob sie nun etwas an ihrem Roman ändern müsse. Doch das musste sie nicht. Ihre unnachgiebig erzählte Geschichte zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die als Ganzes zur geistigen Brandstifterin geworden ist. Bazyar tut das parteiisch und subjektiv, so, wie alle Literatur subjektiv ist. Da sie es aus der Sicht aus einer marginalisierten Erzählerin tut, werden auch hier, wie es in diesem Jahr schon bei Sharon Dodua Otoos Roman zu beobachten war, die Stimmen nicht lange auf sich warten lassen, die Bazyars Erzählen trop engagé finden, die die authentischen Situationen zu eindimensional, die weißen Figuren zu holzschnittartig nennen werden. Ich beneide diese Stimmen um ihre Unschuld. Es brennt in Drei Kameradinnen, ästhetisch wie erzählerisch.
The terrible thing, old buddy”, schreibt Baldwin an seinen Neffen, “is that you must accept them. And I mean that very seriously. You must accept them and accept them with love. For these innocent people have no other hope. They are, in effect, still trapped in a history which they do not understand; and until they understand it, they cannot be released from it.
Bazyars Erzählerin adressiert, um gehört zu werden. Sie hofft noch auf Verstehen. Aus Unschuldigen könnten Wissende werden. Ja, vielleicht ist das très engagé. Shida Bazyars eindrucksvolle Fähigkeit, genuine Stimmen zu schreiben wird darüber hinweghelfen. So poetisch diese schon in ihrem ersten Roman zu lesen waren, so intensiv ist sie hier. Bazyars Erzählung ist von einer Dringlichkeit, die uns den Atem nimmt.
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