Winckelmann beginnt sein Projekt, die erste Geschichte der Kunst überhaupt zu schreiben, in dem Bewusstsein, dass es seit Praxiteles, Skopas und Lysippos keine wahre Kunst mehr gibt – und dass sie es auch nicht wieder geben wird. Siebzig Jahre später erklärt Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik (1835/36): „In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. (…) Die Kunst lädt uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen.“
Die Kunst geht zuende, die Wissenschaft über die Kunst beginnt. Aus etwas, das Menschen professionell machen und für das sie einen langen Ausbildungsweg hinter sich bringen müssen, wird nun etwas, über das Menschen nachdenken und schreiben, denen in den meisten Fällen das Wissen darum fehlt, wie diese Dinge überhaupt hergestellt werden oder worden sind. Kunstwerke selbst erfahren durch das von Philosophen, Schriftstellern und Kunsttheoretikern seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verkündete, beklagte oder gefeierte Ende der Kunst aber eine grundlegende Wandlung. Herausgelöst aus ihren konkreten Produktions- und Verwendungszusammenhängen, erhalten sie einen neuen Status: Sie werden autonom.
Die zahllosen unterschiedlichen lebensweltlichen Kontexte, in denen Gemälde, Skulpturen und Grafiken bisher existierten und aus denen sie ihre Bedeutungen bezogen haben, werden von diesem neuen, modernen Blick ignoriert, sogar programmatisch negiert. Kant schärft uns ein, man dürfe „also in keiner Weise für die Existenz einer Sache eingenommen, sondern muss ihr gegenüber völlig gleichgültig sein, um in Sachen des Geschmacks den Richter spielen zu können.“ (Kritik der Urteilskraft, §2) Wer sich beim Anblick eines Gemäldes überlegt, wie sich das wohl über dem heimischen Sofa machen würde, oder ob die nackte Frau, die sich da als Danae räkelt, angemessen bezahlt worden ist, der guckt das Bild schon falsch an – nämlich für die Existenz einer Sache eingenommen, nicht voller interesselosem Wohlgefallen. Der Kunstcharakter eines Kunstwerks erschließt sich nur dem, der sich ganz auf die postulierte Eigengesetzlichkeit des Werkes, eben seine Autonomie, einlassen kann.
Wer das schafft, macht dann in einer Welt voller äußerer, heteronomer Zwänge und Gründe eine Art transzendente Erfahrung: In der Autonomie und Freiheit des Kunstwerks erfährt man die eigene. Eine der ambitioniertesten Formulierungen dieses Kunstbegriff findet sich wohl bei Schelling, in dessen System des transzendentalen Idealismus: „So ist es mit jedem wahren Kunstwerk, indem jedes, als ob eine Unendlichkeit von Absichten darin wäre, einer unendlichen Auslegung fähig ist, wobei man doch nie sagen kann, ob diese Unendlichkeit im Künstler selbst gelegen habe, oder aber bloß im Kunstwerk liege.“ (System des transzendenten Idealismus, 6. Hauptabschnitt, § 2)
Die Erfindung der künstlerischen Freiheit
Als sie um 1800 erstmals systematisch von Vertretern des deutschen Idealismus formuliert wird, aber sich ähnlich auch bei englischen und französischen Theoretikern findet, hat diese idealistische, quasi-religiöse Aufladung von Kunst, die im Begriff ihrer Autonomie steckt, noch emanzipatorischen Charakter. Mit der Anerkennung ästhetischer und künstlerischer Eigenlogiken und der Aufforderung, diesen zu folgen und sie zu entwickeln, eröffnet sich den modernen Künstler*innen ein ganz neues Feld für ästhetische und künstlerische Experimente. Die Anforderungen des jeweiligen zeitgenössischen Publikums an Art und Inhalt des Dargestellten, oder dass es sich überhaupt um eine Darstellung zu handeln habe, werden als heteronome Zumutung von Philistern zurückgewiesen, die Kunst mit Innendekoration verwechseln oder als Propagandaveranstaltung für die herrschenden Kreise missverstehen.
Stattdessen konzentrieren sich die Künstler*innen, zumindest in der kunsthistorischen Theorie, auf das Lösen kunstimmanenter Aufgabenstellungen und die Weiterentwicklung der eigenen ästhetischen und künstlerischen Mittel: Was bedeutet es eigentlich für die Malerei, dass es sich dabei vor allem um das Aufbringen von Farben und Formen auf Flächen handelt? Was bedeutet es überhaupt, dass man etwas darstellt oder etwas abbildet? Was passiert eigentlich, wenn ich Wahrgenommenes in Gemaltes verwandle? Und wenn selbst Abbilden eine überwiegend kreative und konstruktivistische Tätigkeit ist, warum löse ich mich dann nicht gleich von der Logik des Abbildens und lasse mich von meiner eigenen Logik der Farb- und Formwahrnehmung und -empfindung leiten? Und warum sollte ich mich dabei auf klassische künstlerische Techniken und Materialien beschränken? Warum nicht auch Zeitungspapier, Plakate, Werbung, überhaupt Alltagsgegenstände in das Kunstwerk integrieren?
Ungefähr seit der Mitte des 19. Jahrhunderts löst dann in immer kürzeren Abständen eine Kunstrevolution die nächste ab: Die Impressionisten gegen die Salonmaler und Realisten, die Post-Impressionisten und Symbolisten gegen die Impressionisten, die Fauves gegen die Symbolisten und Impressionisten, die Kubisten gegen alle anderen, Dadaist*innen und Surrealist*innen gegen Abstraktion. Neue Sachlichkeit gegen Abstraktion, Abstract Expressionism gegen Sachlichkeit und American Realism, Pop Art gegen Abstract Expressionism etc. Immer andere, immer neue künstlerische Techniken und Mittel so zu benutzen, dass selbst aufgeschlossenes bürgerliches Publikum und wohlwollende Kritiker ratlos bis empört davor stehen und sich fragen, ob das tatsächlich noch Kunst sei, wurde zum künstlerischen Imperativ. Zumindest, wenn man sich programmatisch als moderner Künstler verstand.
Die Postmoderne hat daran im Grunde wenig geändert: Als eine letzte große Geste des Sich-neu-erfindens und des Abgrenzens von dem, was Kunst vorher war, verwirft man nun die Ernsthaftigkeit und das quasi geschichtliche Sendungsbewusstsein der Moderne. Schließlich ist alles irgendwie schon mal da gewesen. Was als künstlerische Geste übrig bleibt, sind spielerisch oder zynisch ironische Remakes bereits kanonisierter künstlerischer Positionen: Dann malt man eben die großen Meisterwerke der Moderne kaum modifiziert noch einmal oder exerziert leicht erkennbare Stile der Moderne durch, baut mit Baumarkt- und Bastelmaterial Suprematismus, Konstruktivismus und Minimalismus nach oder lässt Nippes-Figuren als monumentale Statuen aus Stahl oder Industriekeramik fertigen.
Aus der Autonomie des Kunstwerks und der Befreiung der Künstler*innen von ästhetischen, inhaltlichen, sozialen und erzieherischen Ansprüchen von Außen wird eine Pose. Aus Schellings Kunstwerk als höchste Form intellektualer Anschauung, in der man der Unendlichkeit des Geistes gewahr wird, ist ein Spektakel der Beliebig- und Belanglosigkeit geworden. Alle intrinsischen oder normativen Kriterien, um Kunst von Nicht-Kunst zu unterscheiden, haben sich aufgelöst: Alles ist Kunst, nichts ist Kunst. Was als Kunstwerk zählt und was doch „nur“ ein teures Design-Objekt ist oder ineinander gestapelter Müll, liegt nun in der Entscheidungsbefugnis von Gatekeeper-Institutionen wie Museen, Kunsthallen, Galerien, Biennalen, Auktionshäusern oder finanzstarken Privatsammler*innen. Der Status, ein Kunstwerk zu sein, ist etwas geworden, das Objekten von Außen zugeschrieben wird – eine Heteronomie.
Verfallsformen eines Begriffs
Wolfgang Ullrichs neues Buch Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie ist der Versuch zu verstehen, was aus Kunst wird oder schon geworden ist, nachdem der bürgerlich-idealistische Begriff der Kunst unbrauchbar geworden ist: Postautonome Kunst sollte “nicht nur unter einer kulturpessimistisch verzerrten Perspektive betrachtet werden, sondern in ihren Eigenschaften analysiert und ihren Möglichkeiten erörtert werden. Statt alte Diskurse nochmal sentimental zu beschwören, soll es im vorliegenden Buch darum gehen, die Entwicklungen der letzten Jahre begrifflich zu fassen und besser zu verstehen.“ (S. 26) Kulturpessimismus spielt im Buch dann auch tatsächlich eine geringe Rolle. Dem Autor selbst liegt er, wie schon seine früheren Bücher zeigen, sowieso fern.
Auch in Die Kunst nach dem Ende der Autonomie wendet sich Ullrich wieder mit großer Unvoreingenommenheit und Aufmerksamkeit pop- und hochkulturellen Mischphänomenen zu, wie den von Lil Nas X und der Künstlergruppe MSCHF für Nike gestalteten Satan Shoes, die er als komplexes, hoch reflektiertes Zeichen- und Bedeutungsnetz auch den Leser*innen deutlich macht, die weder von Sneaker-Kultur, noch von Black Country und Rap viel Ahnung haben. Zum Glück für die Leser*innen spart es sich der Autor aber auch, dem Klagen um den Verlust der Kunstautonomie viel Raum zu geben, das einem seit Jahren aus den Feuilletons entgegenschallt, wenn wieder einmal jemand die Unverschämtheit besitzt, auf die außerkünstlerischen Produktionsbedingungen eines konkreten Kunstwerkes oder eines ganzen künstlerischen Oeuvres hinzuweisen.
Stattdessen arbeitet er an einigen prominenten Beispielen dieser hochritualisierten Feuilletonerregungen heraus, auf welches vulgäridealistische, reaktionäre Niveau Begriff und Konzept der Autonomie mittlerweile herabgesunken sind. Sie dienen, wie Ullrich zeigt, fast nur noch dazu, jede Kritik an einem Kunstwerk oder den ästhetischen Verfahren von Künstler*innen des westlichen weißen Kanons abzuwehren und diesen selbst in Stein zu meißeln. Das geht sogar soweit, dass selbst etablierte kunstwissenschaftliche Verfahren wie Provenienzforschung oder die Rekonstruktion der kulturellen und ästhetischen Diskurse, in denen ein Kunstwerk historisch verortet ist, als Angriff auf die hehre Kunst denunziert werden. So zum Beispiel wenn auf die Verstrickung französischer und englischer Kunstproduktion des 18. und 19. Jahrhunderts in die Sklavenwirtschaft verwiesen wird oder auf die Kontinuität rassistischer, sexistischer oder antisemitischer Stereotype von der mittelalterlichen Bildwelt bis in die Gegenwart.
Das Ende der Kunst oder die Rückkehr in die Welt der Gebrauchsobjekte
Auch wenn der Autor selbst Autonomie als kunsttheoretischen und ästhetischen Begriff nicht grundsätzlich in Frage stellt, stellt sich zumindest für diese Leserin von Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie am Ende der Lektüre die Frage, was für eine kunst-immanente Bedeutung der Begriff überhaupt je hatte. Was erschließt sich eigentlich durch den Begriff als ein genuin künstlerisches Verfahren, wie ästhetische und formale Entscheidungen getroffen werden? Hier wird üblicherweise auf die Idee der ästhetischer Eigenlogiken verwiesen, zum Beispiel auch von mir in der begriffsgeschichtlichen Kurzrevue des Autonomie-Begriff zu Beginn dieser Rezension.
Die Frage stellt sich, weil Ullrich das hermeneutische und analytische Instrumentarium, das seit gut 200 Jahren für die kunstwissenschaftliche und -theoretische Auseinandersetzung mit als autonom verstandenen Kunstwerken entwickelt wurde, sehr erfolgreich auf ästhetische Objekte anwendet, die entweder gar nicht mehr den Status Kunstwerk anstreben oder deren Status als Kunstwerk zumindest ambivalent ist. Die Satan Shoes von Lil Nas X und MSCHF habe ich schon genannt. Ullrich analysiert außerdem die Objekt-Produktions- und Verkaufspraktiken von Künstlern wie Damien Hirst, Yoshitomo Nara, KWAS und dem Künstlerduo FriendsWithYou sowie die Kooperation von Luxusmarken wie Louis Vuitton mit Großkünstlern wie Richard Prince und Jeff Koons.
Unter der schönen lapidaren Überschrift „Formen des Misslingens postautonomer Kunst“ diskutiert er in einem der längsten Kapitel des Buches genau das: Kunstwerke, deren breitbeinig vorgetragener Kunstanspruch mit einem oft ausgesprochen komischem Nicht-Beherrschen der eigenen künstlerischen Mittel einhergeht. Im anschließenden Kapitel „Formen des Gelingens postautonomer Kunst“ zeigt Ullrich implizit am Beispiel einer Reihe Kunstwerke und Objekte vor allem Schwarzer Künstler, dass das Misslingen postautonomer Kunst wenig bis nichts mit ihrem postautonomen Status zu tun hat, sondern das Miss- und Gelingen eine Frage ästhetischer, konzeptioneller, semiotischer und nicht zuletzt technisch-handwerklicher Kompetenz und Könnens ist.
Ai Weiweis Kunstwerke, die sich kritisch mit der mörderischen europäischen Flüchtlingspolitik im Mittelmeer auseinandersetzen, sind nicht deswegen misslungen, weil es sich um politische, also im klassischen Sinne nicht-autonome Kunst handelt. Sie sind misslungen, weil Weiwei sich keine Mühe damit gibt, die Kontexte sowie kulturellen und symbolischen Bedeutungen und Ikonographien der Materialien, Gegenstände und Formen ernst zu nehmen, mit denen er arbeitet. Dass politischer Anspruch und ästhetisches Gelingen sich eben nicht grundsätzlich ausschließen, – ein gerne vorgebrachtes Argument der Vertreter*innen konservativ gewendeter Autonomieästhetik und deren Kanon weißer Männerkunst –, führt Ullrich unter anderem an Gemälden von Kerry James Marshall, Amy Herald und Bo Bartlett, aber auch am legendären Louvre-Video zum Song Apeshit von The Carters (Beyoncé und Jay-Z) und an den Design-Gegenständen von Virgil Abloh und dessen Label Off-White vor. Offenbar entscheidet sich der Unterschied zwischen ästhetischen Praktiken und ästhetischen Objekten, von denen die einen immer noch als Kunst einen kulturellen Sonderstatus zugeschrieben bekommen und die anderen schlicht als Ware auftreten, nicht an ihrem ästhetisch hervorragend Gemacht-sein. Da liegt Beyoncé vermutlich immer weit vor 95 Prozent der jährlichen Kunstproduktion.
Aber was ist dann eigentlich die Kunst an der Kunst? Der letzte große Autonomie-Theoretiker der Kunst hat aus diesem Schillern des ästhetisch (gut) gemachten Objekts zwischen Warenform und Aura einen radikalen Schluss gezogen: In Adornos Ästhetischer Theorie wird das ästhetisch Gemacht-sein zum Marker falscher, weil nicht wirklich autonomer Kunst. Das letzte was der Kunst im Kapitalismus als Kunst möglich bleibt, ist bei Adorno die ästhetische Anspruchslosigkeit der schwarzen Bilder von Malewitsch und Ad Reinhardt. Wolfgang Ullrich beantwortet in Die Kunst nach dem Ende der Autonomie die Frage nach der Kunst an der Kunst, in dem er das Changieren des Ästhetischen und des ästhetisch gut gemachten Objektes zwischen Ware, Kult- und Kunstobjekt ernst nimmt, den Wunsch und die Intention ästhetischer Artefakte jemandem zu gefallen und gewollt zu werden:
„Der an einem monotheistischen Religionsverständnis orientierte westlich-moderne Werkbegriff spekulierte auf Unendlichkeit und Erlösung, der Künstler wurde als gottbegnadetes Genie bezeichnet, sein Werk als Gottes Wort: unergründlich und mächtig. Postautonome Artefakte stellen das alles infrage. In ihnen geht es nicht um Absolutheit und damit auch nicht um Reinheit. Sie leben von Mischungen, Verbindungen, Kooperationen (…) So entwickelt sich vielleicht gerade eine neue Dingkultur, deren Möglichkeiten erst in Umrissen erkennbar werden. Und es spricht einiges dafür, dass der historische Sonderfall der westlichen Moderne an ein Ende gekommen ist. Aber passen die Realien, Markenprodukte und Art Toys, die nun entstehen, dafür nicht umso besser zu den Artefakten vieler anderer Zeiten und Kulturen?“