von Paul Jennerjahn
„Was für Erinnerungen könnt ihr jungen Leute von heute schon haben?“Es ist eine rhetorische Frage, die Jonathan Stubblefield Grace Paleys namenloser Ich-Erzählerin in Die schwebende Wahrheit stellt: „Ihr habt keinerlei Geschichtsbewusstsein; ihr habt keinen Sinn für Tragik. Was ist Elsass-Lothringen? Können Sie mir das sagen, meine Liebe? Vor welchen Problemen steht es bis heute? Das wisst ihr nicht. Nicht un-schuldig, sondern un-wissend.“ Die Ich-Erzählerin trifft Stubblefield eigentlich nur zu einem harmlosen Mittagessen, das ein Arbeitsvermittler arrangiert hat, möchte einen Job bei ihm. Stubblefield ist kein ungewöhnlicher Mann im Figurenensemble von Grace Paleys Werk. Männer, die es lieben, Frauen Vorträge zu halten, gehören dazu – und Menschen, in deren Lebens- und Familiengeschichten der Holocaust und zwei Weltkriege eingeschrieben sind wie in jene der Autorin, deren Eltern jüdische Einwanderer*innen waren.
Stubblefield sah einst den Angriff auf Pearl Harbor mit eigenen Augen. Er habe recht, sagt die Ich-Erzählerin, natürlich habe er das, antwortet Stubblefield und schließt an, wohl auf das Verhältnis von Moral und Wissen gemünzt: „Die Wahrheit pendelt sich irgendwo ein und bleibt in der Schwebe.“ Es gehört zu Grace Paleys Programm und zum Glutkern meiner Bewunderung für ihre Literatur, wie beiläufig und wie eingebettet in Alltäglichstes, in Banales bei dieser Autorin gewaltiger welt- und geschlechterpolitischer, philosophischer und geschichtlich-erinnerungskultureller Tiefgang erzählt wird. Auf Stubblefields schwergewichtigen Satz folgt die Frage Rodericks, des Vermittlers: „Kaffee?“
Aber es geht noch weiter. Vorbehaltlich ihrer schriftlichen Unterlagen sagt Stubblefield die Einstellung der Ich-Erzählerin zu. In ihren fingierten Lebenslauf schreibt der Jobvermittler anschließend auch eine vermeintliche Anstellung in der Redaktion des erfundenen Magazins „Heim und Herd“. „In Radio und Fernsehen ebenso wie mittels Annoncen in Männerpublikationen und auf Männerseiten in Zeitungen (Sport, Finanzen etc.) forderten wir die Männer auf, jeden Abend, wenn sie zur Tür hereinkamen, ihre Frauen zu fragen: ‚Was gibt´s zu essen?‘ Auf diese Weise hoben wir das Image von Frauen in der Küche allenthalben“, schließt die Jobbeschreibung. Die Ich-Erzählerin willigt ein und schickt den Lebenslauf an Stubblefield. Sie braucht den Job. Das Mansplaining des finanziell potenten Geschäftsmannes und misogyne Jobvermittlung in einem menschenfeindlichen Kapitalismus hier, die aufrichtigen, kompromisslos sich abgrenzenden Frauenfiguren dort: So einfach ist es bei Paley nie. Ihr Feminismus ist intersektional, denkt Klassismus und Rassismus mit, und ihre Politik ist eine literarische, uneindeutige, komplexe.
Mutter, Aktivistin, Lehrerin, nebenbei Schriftstellerin
Die schwebende Wahrheit ist eine fast schon untypische Erzählung für Paleys ersten Kurzprosa-Band The Little Disturbances of Man, der 1959 bei Doubleday erschien, als die New Yorker Autorin 37 Jahre alt war. Bis dahin hatte sie, während sie Studentin war, ihre Kinder großzog und als Lehrerin in sozialen Brennpunkten arbeitete, ausschließlich Gedichte geschrieben, aber kaum veröffentlicht. Kein Geringerer als W.H. Auden hatte an der New School for Social Research ihre Gedichte gelesen, sie zu ihrer eigenen Stimme ermutigt, und später war sie in Kontakt mit Norman Mailer. Nach ihrem Debüt begann Paley in den 1960er Jahren ihre akademische Lehrtätigkeit am Sarah Lawrence College, an dem sie über 20 Jahre lang Creative Writing unterrichtete.
Parallel engagierte sie sich immer ernsthafter politisch. Mit Nachbar*innen aus der West 11th Street, wo Paley über Jahre wohnte, gründete sie das Greenwich Village Peace Center, demonstrierte für das Recht auf Abtreibung und gegen den Vietnam-Krieg und atomare Aufrüstung. Mehrmals wurde die Schriftstellerin und Aktivistin verhaftet. Nachdem sie und andere 1978 ein Anti-Atomwaffen-Banner auf dem Rasen des Weißen Hauses angebracht hatten, wurde gegen Paley eine sechsmonatige Bewährungsstrafe verhängt. Das FBI führte 30 Jahre lang eine Akte über sie, listete Grace Paley als Kommunistin.
Immer war das Terrain politisch, auf das Reisen die Autorin führten: Nicaragua und El Salvador, gezeichnet von der US-Südamerikapolitik, China und Russland, die sozialistischen Vorzeigestaaten, Frankreich und Schweden, wo Paley mit anderen Vietnamkriegsgegner*innen auf einer Informationsreise Kriegsdienstverweigerer traf, Israel. Zuhause in den USA lebte die Schriftstellerin bald gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann Bob Nichols in Thetford, Vermont. 1974, nach zahlreichen Veröffentlichungen in Literatur-Zeitschriften, erschien Paleys zweiter Erzählband Enormous Changes at the Last Minute, 1985 der dritte, Later the Same Day, erstmals bei Farrar, Straus & Giroux. Der kleine Verlag Granite Press veröffentlichte im selben Jahr endlich Grace Paleys ersten Gedichtband Leaning Forward, später erschienen Bände mit Vermischtem und Essays.
Ihr Debüt, The Little Disturbances of Man, versammelt Stories über junge Frauen und Mütter, über das Verhältnis von Kindern und Eltern. „Mütter ziehen Söhne groß, was oft ein politischer Akt ist“, sagte Paley über ihre Figuren in einem Gespräch mit der Autorin Cora Kaplan. Ihre Frauenfiguren sind Liebhaberinnen, Hausfrauen, Schülerinnen, Enkelinnen, Geschiedene und Patchwork-Mütter, die nach Strategien der Selbstermächtigung gegenüber problematischen Männern suchen. Schon in den Little Disturbances of Man geht es um jüdische Identitätspolitik wie in Die lauteste Stimme, wenn eingewanderte jüdische Eltern darüber streiten, ob ihre Kinder eine Rolle im Krippenspiel übernehmen sollten, oder in Zwei kurze, traurige Geschichten aus einem langen und glücklichen Leben, der ersten Story über Paleys Alter Ego Faith Darwin. Aber die Geschichten spielen weitestgehend in den privaten Kosmen, den eigenen vier Wänden, im Alltagsleben ganz gewöhnlicher Menschen, stärker als in Paleys späteren Büchern. Dennoch, oder gerade deshalb, antwortete die Autorin Mary Elsie Robertson und Peter Marchant 1982 in einem Interview: „Ich würde sagen, dass mein Interesse am Alltagsleben gewöhnlicher Menschen immens politisch ist.“
Plastische fragile Männer
Die erzählerisch stärksten Geschichten sind schon in diesem Band die personal in der dritten Person erzählten wie Der zartrosa Braten. Anna und Peter treffen einander im Park. Sie sind die geschiedenen Eltern von Judy, auf die Peter aufpassen soll, damit Anna Zeit zum Einrichten ihrer neuen Wohnung hat. Kurzerhand will Peter helfen, engagiert eine Freundin als Sitterin von Judy, und gemeinsam steigen die beiden in Annas Apartment hinauf. Peter staunt über die Wohnung, schwankt zwischen Komplimenten und Mansplaning, dann landen die beiden im Bett. Es ist diese Art von Sex: Peter „nahm sie ohne ein Wort direkt in Judys Zimmer auf Judys Bett. Nachdem er so die Besitzverhältnisse klargestellt hatte, belohnte er sie mit Küssen.“
Die Erzählinstanz kommentiert kaum, zeigt die Figuren schlagfertig und entlarvend in Dialogen, lässt die Dinge für sich sprechen und Leerstellen und Uneindeutigkeiten stehen. Es ist eine Geschichte über Male Fragility, über weibliches Verlangen und weibliche Selbstermächtigung. Peter, als er erfährt, dass er gerade Sex hatte mit Anna, die längst wieder mit einem Mann liiert ist, auf dessen Konto große Teile der bewunderten neuen Wohnung seiner Ex gehen: „Mein Gott, Anna! Dann war das ja ganz schrecklich!“ Parkett, Flügeltüren, Glaspaneele, Harteichenholz-Türen und Kronleuchter gehören zum Inventar des Apartments.
Aus solcher Gegenständlichkeit, solchen Details ihrer Wohnungen sind das Fleisch und Blut von Paleys Figuren. Sie werden dreidimensional, weil sie nicht einfach nur behauptet sind und nie Schablonen bleiben. Peter inszeniert sich als der joviale Gönner, nimmt sich scheinheilig, was er will, aber er zahlt Unterhalt und leistet Care-Arbeit, ist kein Arschloch, wie kaum eine Männerfigur in Paleys Geschichten. Man sieht ihn plastisch vor sich, wenn die Autorin ihn sagen lässt, sein Lebensstil sei „nicht mehr so egozentrisch und selbstsüchtig wie früher. Jetzt hat es eine richtig philosophische Grundlage.“ Seine proteinreiche Ernährung, viel Gemüse und Grapefruits, neuerdings viel Zeit an der frischen Luft, in der Sonne, und Nahrungsergänzung mit einer Vitaminmischung, die ihn „zwölf achtzig pro hundert Stück kostet“.
Auf der richtigen Seite stehen mit Fallstricken
Die Frauen in den Erzählungen aus Enormous Changes at the Last Minute, Paleys zweitem Buch, das wie das erste Sigrid Ruschmeier ins Deutsche übersetzte, sind älter geworden, manche ihrer Söhne und Töchter in der Pubertät, Gesprächspartner*innen auf Augenhöhe. Man engagiert sich politisch, lebt ökologisch bewusst, streitet wie Dennis und Alexandra in der titelgebenden Erzählung Enormous Changes at the Last Minute in kompetitiven Affären darum, wer nachhaltiger lebt und wohnt. Man geht demonstrieren gegen den Vietnam-Krieg oder organisiert Mieter*innen-Streiks, und nach wie vor hockt man mit den jüngeren Kindern und der Nachbarschaft auf dem Spielplatz. Faith im Baum. In dieser längsten Erzählung des Bandes beobachtet Faith Darwin von einem Ahornast aus den Spielplatz, hört die Gespräche mit, mischt sich ein. Nicht nur Faith diskutiert mit, auch ihre Söhne Tonto und Richard, Anna und Judy, Mrs. Raftery und Dotty Wasserman aus Das Preisausschreiben, der ersten Erzählung, die Grace Paley nach Jahren der Gedichte schrieb, tauchen wieder auf in Faith im Baum, einer Art Figurenverzeichnis von Grace Paleys Werk, aber auch in anderen Texten dieses und des dritten Bandes.
Wie schon in The Little Disturbances of Man ist Faith die liberale, progressive alleinerziehende Mutter, die ihren Söhnen auf dem Spielplatz erklärt, dass sie trotz ihres Niedriglohnjobs längst aufs Land hätten ziehen können, dass sie aber „hier in dem grässlichen Slum“ geblieben sei, um nicht in einer Weißen Wohlstands-Parallelgesellschaft abzutauchen. Es folgen freche bis schlagfertige Kinder und heimlich Marihuana rauchende Elternratsvertreter, an die sich Faith und Kitty erinnern. Mrs. Junius Finn mahnt in den Gesprächen, vor allem an Faiths Adresse gerichtet: „Gebt den Reichen nicht für alles die Schuld“. Anschließend tönt ein kleiner Demonstrationszug durch den Park, in dem der Spielplatz liegt, Plakate mit napalmverbrannten Babys in die Höhe gereckt. Doug, der Quartierspolizist, den alle kennen, hat nichts Besseres zu tun, als die Demonstration für illegal zu erklären und aufzulösen, und niemand unter den Zuschauenden auf dem Spielplatz, die sich als politische Menschen begreifen, sich auf der richtigen Seite wähnen, echauffiert sich darüber ernsthaft.
Richard, Faiths Sohn, ist außer sich: „Warum haben sie sich nicht gegen den doofen Bullen gewehrt und Leck mich gesagt?“ Das Ende von Faith im Baum offenbart dann aber auch eine der seltenen Schwächen von Paleys Erzählen. Aus Protest malt Richard „mit flamingorosa Kreide auf das nächste Asphaltstück: Würden Sie ein Kind verbrennen? und darunter, ein wenig größer die Antwort in rot: Wenn´s sein muss.“ Ein Zitat der Plakate, die die Demonstrierenden in die Höhe hielten, anspielend auf Vietnam. Hier hätte die Erzählung enden müssen, mit der Anklage Richards, eines Kindes, die Reaktionen unter den Erwachsenen provozieren will, aber offen gelassen hätte. Faith, ihre Ich-Erzählerin, lässt Paley jedoch noch in einem kurzen behauptenden, nicht szenischen Absatz berichten, wie Richards Protest eine Kehrtwende in ihrem Leben markierte. So gerät das Ende zu stark auserzählt, zu geschlossen.
Teilnehmende Beobachterin
Nie war Grace Paley nur Schriftstellerin, immer begriff sie sich als teilnehmende Beobachterin, ging als Aktivistin oder Nachbarin ins Feld, und ihre Literatur wäre sicherlich eine andere, selbstreferenziellere geworden, wäre sie eine Schreibtischautorin gewesen. Man merkt es den Idiomen der Figuren an, aber auch dem Inhalt von Alexandras Gefrierfach oder den Möbeln in Annas Wohnung. Man merkt diesen Erzählungen eine Schriftstellerin an, die im engsten sozialen Radius mit größter Sehschärfe beobachtet, genau hinhört, die aber auch hinausgeht, demonstriert und reist, die eigenen Blasen, das eigene Milieu verlässt, und die sich so ein enormes Weltwissen aufschichtet, mit dem sie ihren Figuren Leben einhaucht.
Über die zweite Erzählung, die Paley schrieb, verriet sie Blanche Wiesen Cook, der Moderatorin von Jewish Women in America, der Anfang ihrer Arbeit an Goodbye and Good Luck sei deren erster Satz gewesen, den die Tante ihres Mannes fallen gelassen habe, als Paley einmal für sie kochte. Mit kinnlangem grauem Haar, im königsblauen Überzieher, darüber eine schwarze, mit Blumen bestickte Weste, tritt Paley in der Sendung nahbar und freundlich, aber bestimmt auf. Sie erzählt von ihrer Kindheit in der Bronx. Schon mit neun oder zehn Jahren sei ihr in der Straße, in der sie mit ihren aus der Ukraine emigrierten Eltern, der Großmutter und der Tante lebte, aufgefallen: „That people were out of work and hanging around, that men just didn´t know what to do with themselves.“ Bis in ihre späten Arbeiten hinein bleibt von Paley diese psychologisch-habituelle Beobachtungsgabe, die mich so inspiriert.
Die Gedichte
Die alltägliche Szenerie ist auch der Kern ihrer Lyrik, die Mirko Bonné ins Deutsche übertragen hat. Es sind dynamische, prozesshafte Gedichte über Bewegungen und das Werden. Lyrische Ichs, die spazieren gehen in Lower Manhattan, an der Battery, der Jane Street oder der Ninth Avenue. Kinder, die in der Subway-Station Clark Street in Brooklyn zu ihren Vätern sprechen. Redende Vögel, Spaziergänge durch die Natur, Busfahrten. Männer und Frauen, die ihre alternden Körper bemerken und die sich an die jüdischen Verwandten erinnern, die einst in die USA auswanderten.
Der Tonfall ist von einer schwebenden Leichtigkeit, spielt manchmal ins Mündlich-Kolloquiale der Prosa. Weil sich Paley einschreibt in die gegenständliche, visuelle Tradition US-amerikanischer Poesie ihres Jahrhunderts, ist ihre Lyrik zugänglich, aber mitnichten simpel. „wir sind wie jede / grün wachsende Maschinerie // fahren auf der tageslichtstrecke / ins dunkel“, so die beiden abschließenden Zweizeiler von Das leben ist so riskant. Ein Gedicht, dessen erster Vers auch sein Titel ist, beginnt so: „Da stieg die Zeit die Meisterin im Fließen / selbst an“. Im Handumdrehen projizieren Metaphern von berückender Schönheit existenzielle Fragen in Sonntagsspaziergänge in und um New York oder Busfahrten über Land. Im Bus ist vielleicht Paleys größtes Gedicht. „Irgendwo zwischen Greenfield und Holyoke / wurde aus Schnee Regen / und ein Kind ging durch mich hindurch / wie einer sich durch Nebel schiebt“, heißt es zu Beginn dieser Verse, in denen ein lyrisches Ich im Bus sitzend das eigene Sein im Konjunktiv befragt. Könnte ich nicht auch ein anderes Leben leben? Könnte ich noch einmal von vorn beginnen? Fragen, eindringlich gestellt, in eine knappe, aber doch plastische Szene hineinkomponiert, die ich mir bei jedem Lesen dieses Gedichts wieder selbst stelle.
Paleys Lyrik ist unprätentiös, benötigt kein Zitat, keine Hermetik, und ihre Abgründe tun sich zwischen den Zeilen auf, im wahrsten Sinne des Wortes, wie Mirko Bonné im Nachwort zu seinen im Schöffling Verlag erschienenen Übertragungen schreibt: Den Gedankenstrichen Emily Dickinsons ähnlich strukturieren zu lang geratene Leerzeichen Paleys Gedichte. Als ich durch die Wälder ging endet so: „Ein heilloses Sich-Dehnen ins Licht / bloß um am Leben zu bleiben doch wenn du / gern gelebt hast dann machst du das so“. Die Rede ist von einem harmlosen Ahornwipfel, der sich zum Himmel emporstreckt, aber diese Leerstellen innerhalb des Verses, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, lassen mich in Paleys Gedichten immer wieder stocken. Augenblicke, in denen man innehält. Resonanzräume auf dem Papier, in denen die Schönheit der Bilder nachklingt, ihre Vieldeutigkeiten sich schwebend ausbreiten, das Nachdenken über das eigene Leben in Schwingung versetzen.
Kritische Repräsentation in Later the Same Day
Mit ihrem dritten und letzten rein erzählenden Band, Later the Same Day, den Mirko Bonné ebenfalls übersetzte, gelingt Paley 1985 noch einmal eine Neujustierung des Politischen ihrer Literatur, eine literarische Entwicklung. Die Kinder der Mütter in diesen Stories sind ausgezogen, die Eltern der Mütter schon lange im Altenheim, und die ersten Freundinnen sterben. Man unternimmt wie die Autorin Reisen nach China, in der Erzählung Woanders. Mit den Annehmlichkeiten ist es für die Reisegruppe um Faith schnell vorbei, denn Mister Wong, der Reiseleiter vor Ort, bezichtigt Freddy, ohne zu fragen einen chinesischen Bauern fotografiert zu haben. Drei Monate nach der Rückkehr ist ein Dia-Abend geplant, an dem man gemeinsam die Fotos der Reise studieren will, und Joe kommt zu spät. „Muss euch erzählen, was passiert ist, sagte er.“
Er sei durch die South Bronx spaziert, wo er sonst mit den Kids seines Film-Workshops unterwegs sei, und dann habe er plötzlich die perfekte Szenerie vor sich gehabt, von der noch Aufnahmen gefehlt hätten. Bei seinem Kameraschwenk seien aber nicht nur die oberen Stockwerke des Häuserblocks in die Aufnahme geraten, sondern auch eine „Gruppe von Typen auf einer der Vortreppen“, Latinos, wie sich dann herausgestellt habe. Einer von ihnen habe Joe gejagt, ihm die Kamera entrissen, sie später jedoch auf Geheiß von Paco, dem Anführer der Gruppe, zurückgegeben. Den Film habe Joe behalten, aber die Kamera den Jungs überlassen wollen. Mehrfach habe Paco abgelehnt. „Will ich nicht – bist du taub? No. No.“ Joe habe ihnen die Kamera dann in die Hand gedrückt. „Dann machte ich, dass ich wegkam.“ Als er den Freund*innen zu Ende erzählt hat, bittet Joe darum, aus seiner Geste der verschenkten Kamera „bloß nicht so ein großes marxistisches Ding“ zu machen.
Auch in Zagrowsky erzählt spielt Faith eine Hauptrolle, diesmal von außen skizziert vom pensionierten Apotheker und Ich-Erzähler Zagrowsky. Mit seinem Schwarzen Enkel Emanuel trifft der Weiße Zagrowsky auf dem Spielplatz auf Faith, die früher einmal Kundin seiner Apotheke war. Im Gespräch mit ihr erinnert er sich. Einmal brachte er Richard, Faiths Sohn, spät nachts Antibiotika, als der Säugling 40 Grad Fieber hatte. Einmal harrten Faith und ihre Freundinnen vor Zagrowskys Apotheke aus. „Sie stehen draußen und haben Schilder. Zagrowsky ist ein Rassist. Jahre nach Rosa Parks weigert sich Zagrowsky Schwarze zu bedienen. Es ist eingraviert, genau hier. Ich zeige ihr, wo mein Herz ist.“
Dann lässt der verletzte Zagrowsky durchblicken, dass Faiths Clique wohl nicht ganz unrecht hatte. Als ihr Gespräch auf Netti, seine zunehmend immobile Frau, kommt, erinnert Zagrowsky, wie sie neulich in der U-Bahn einen Schwarzen bat, ihr beim Aufstehen zu helfen. „Sagt er zu ihr: Dreihundert Jahre habt ihr mich unten gehalten, da bleiben Sie mal schön zehn Minuten unten sitzen. Netti, fragte ich sie, hast du ihm denn nicht gesagt, dass wir einen kleinen Jungen großziehen, der braun ist wie eine Kaffeebohne? Er hat aber doch recht, sagt Nettie, haben wir gemacht: Wir haben sie unten gehalten.
Wir? Wir? Meine beiden Schwestern und mein Vater, die wurden Hitler 1944 zum Abendessen gebraten, und du sagst wir?“
Beinahe fetischisierend wirkt dann, wie die woke Faith auf ihrer Frage insistiert, was es denn nun auf sich habe mit diesem Schwarzen Kind bei Zagrowsky. Am Schluss tauchen auf dem Spielplatz junge Eltern auf, ihre Babys auf die Rücken der Vorzeige-Väter geschnallt, und einer von ihnen geht auf Zagrowsky und Emanuel zu. „Als ob das eine ganz normale freundliche Frage wäre, fragt er, indem er auf Emanuel zeigt: Gottchen, was ein niedlicher Bengel – wem seiner ist der?“
Es ist eine beiläufige Dialektik, ein ständiges Aber gegenüber dem erwartbaren Urteil, es sind vorläufige Wahrheiten und Fragen, die Paley die Wahrheit feststellenden Hauptsätzen vorzieht, ohne je didaktisch zu werden. Wie kompliziert es in Wahrheit ist, gut zu sein, sich aus den eigenen Verstrickungen mit einer Gesellschaft zu lösen, deren Maßstäbe man ablehnt. Wie schnell sich Progressivsein, das Politische im Alltag in Widersprüche verwickelt.
Politik der Literatur
„Für mich“, bekannte Grace Paley Joann Gardner gegenüber, „besteht die eigentliche Funktion der Literatur darin, dass sie beleuchtet, was bis dahin nicht zu sehen war. Man hebt einen Stein auf, guckt darunter und entdeckt dort eine Welt für sich.“ Spätestens mit ihrem dritten Erzählband steht fest, wie unerschütterlich Paleys Glaube an eine Politik der Literatur ist. Zum einen lässt sie Faith, lässt sie selbst den mürrischen, uneinsichtigen Zagrowsky spüren: Wie gesprochen und dargestellt wird, prägt die Wahrnehmung der Welt fundamental, und die Welt ist immer eine wahrgenommene. Die Beschaffenheit der Repräsentationen, der Sprache und der Erzählungen, kann Wirklichkeit transformieren – das ist das literarisch Neue der späten, stärker poetologisch selbstreflexiven Grace Paley. „Geschichtlicher Fortschritt wird zum großen Teil durch Sprache bewirkt“, sagte sie zu Cora Kaplan. Zum anderen demonstriert auch Later the Same Day eindrucksvoll, wie differenziert diese Autorin im Kleinen, im Alltäglichen von der großen materiellen Politik erzählen kann.
Wahrscheinlich war es lange nicht so schwierig, politische Literatur zu schreiben wie heute. Die Aufmerksamkeitsökonomie des gesellschaftlichen Gesprächs begünstigt Eindeutigkeit, die man liken und skandalisieren kann. Die Diskurse sind polarisiert. Das Politische braucht mehr denn je Entschiedenheit, solange der spätmoderne Mensch unter Hochdruck an der Vernichtung seiner biophysikalischen und sozialen Lebensgrundlagen arbeitet.
Doch Entschiedenheit des Aufbegehrens allein, „das ist Stoff für ein Pamphlet, reicht aber nicht für einen Roman“, schrieb Baldwin in Everybody´s Protest Novel, dem ersten Essay aus seinen Notes of a Native Son. Das Literarische, das mehr sein will als Pamphlet, als Binaritäten und Zuspitzung, benötigt Uneindeutigkeit, Ambiguität, muss subtil sein, sonst bleibt es eindimensional. Dass sie Politik in einer so verstandenen Literatur erzählt hat, ist das Faszinosum Grace Paleys. Ihr Werk ist auch die literarisch aufspannbare und jedenfalls gegenwärtig völlig utopische Verheißung einer solidarischen politischen Linken, die sich nicht spalten lässt und die sich selbst nicht spaltet in identitätspolitische Kämpfe gegen die Gewalt der Repräsentationen und Zuschreibungen einerseits, den Widerstand gegen die materiellen Verhältnisse im spätmodernen Hyperkapitalismus andererseits.
Grace Paley ist eine große Autorin, weil sie das gewöhnliche Leben des Alltags befragt: Könnte die Welt in einem erkenntnistheoretischen Sinne wie im Sinne eines politisch-utopischen Möglichkeitsraums nicht ein wenig anders, komplexer, aber damit auch reicher sein als die, für die man sie – nicht zu unrecht – immer gehalten hat?
Am 11. Dezember 2022 wäre Grace Paley 100 Jahre alt geworden.
Prompt: New york in winter, a certain sadness, the shadow of a woman in a coat.