[Atelier NRW] Über das Leben der Ideen im Verborgenen

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff

Von Sabrina Janesch

Der Traktor stemmte sich in den sumpfigen Steppenboden, ratterte, röchelte, der Motor stotterte – und gab schließlich mit einem lauten Knall den Geist auf. Er hatte sich festgefahren. Und ich, die mit meinem Geländewagen hätte von ihm rausgezogen werden sollen, war dazu verdammt, weitere Stunden auf den nächsten, nächst-größeren Traktor zu warten. Rings um mich herum erstreckte sich die kasachische Steppe, am Horizont zeichneten sich die Dächer des Dorfes ab, das ich tagsüber besucht hatte. Der Kasache im Traktor gestikulierte, ich gestikulierte zurück. Es ging auf siebzehn Uhr, der Himmel verfärbte sich. Ratlos blickte ich auf das Notizbuch neben mir, überflog die Skizzen, Eindrücke, vermeintliche Geistesblitze, die schon jetzt, wenige Stunden später, ihre Brillanz eingebüßt hatten.

Ich steckte fest.

Das Sujet, an dem ich arbeitete, war mir seit langer Zeit vertraut. Einige Themen begleiten einen Schriftsteller über viele Jahre, manchmal Jahrzehnte. Nun hatte ich also die Zeit für reif gehalten, mich einem autobiographischen Thema zu widmen, und wunderte mich, dass ich kaum mit Konzeption und Gestaltung vorankam.

Noch einmal, und diesmal nicht im Hinblick auf Traktoren und plötzlich auftretende Steppenseen (ich wartete übrigens noch weitere viereinhalb Stunden, bevor der nächstgrößere Traktor mich erreichte): Ich steckte fest. Knöcheltief in der Fehlannahme, ich hätte den richtigen Moment erwischt, und die Zeit für jenes Sujet wäre gekommen.

Während dieser Wochen in Zentralasien – es war ganz egal ob ich währenddessen ritt, schwamm, wanderte, kletterte, fror oder schwitzte – hielt ich für mein vordringlichstes Problem, für die größte Frage, die mich quälte, die Frage nach der Positionierung meines Manuskripts. Wie nah an mir selber, an meiner Familie, wollte ich entlang schreiben? Ich fand keine Antwort, und dementsprechend sabotiert, lahmgelegt, außer Gefecht gesetzt, war ich lange Zeit nicht imstande, auch nur eine Zeile zu verfassen.

Ich zermarterte mir das Gehirn, ohne zu bemerken, dass im Verborgenen, in einem Getriebe, zu dem ich noch keinen Zugang hatte, ein ganz anderer Prozess ablief, und dieser Prozess hatte nichts mit meinen vordergründigen Fragen (Wie persönlich ist zu persönlich? Autobiographie, oder Autofiktion, oder gar Automythographie?) oder multiplen Ratlosigkeiten zu schaffen.

Das Feststecken ist ein undankbarer Zustand, der jedem Schriftsteller widerfährt. Manchem vielleicht ein-, zweimal während eines Schaffensprozesses, manch anderem jeden Tag, jede Stunde, auf jeder Seite. Aber dieses Feststecken meine ich nicht; ich meine wesentlich tiefer liegende Phänomene in der Schreibbiographie eines Schriftstellers.

 

Im Englischen gibt es den Begriff der riptide; eine Art gefährlicher Brandungsrückstrom, der auch in vermeintlich ruhigen Strandabschnitten Schwimmer hinaus aufs offene Meer reißen kann. Wichtig ist es dann, nicht in Panik zu verfallen, nicht zu versuchen, frontal dorthin zurück zu schwimmen, woher man gekommen ist – sondern sich von der Strömung forttreiben zu lassen und schließlich, wenn sie abklingt, zurück zur Küste zu gelangen.

Dieses Gepackt-Werden, Fortgerissen-Werden, lässt sich vergleichen mit gewissen Momenten des Schreibprozesses, vor allem zu Anfang. Es sind heftige, intensive Kräfte, die da wirken, und hinein ziehen in den Sog des Manuskripts. Nach diesem Sog sehnt man sich in Momenten, da man, zwischen zwei Manuskripten, etwas ziel-und planlos umherirrt, auf der Suche nach einem neuen Thema, einer neuen Obsession, einer neuen Zwangsläufigkeit. Wie einfach ist es da, auf Themen zurückzukommen, die einen schon seit längerem begleiten. Warum sie nicht endlich aufgreifen – das wäre doch sicher die Gelegenheit?

Jetzt, eine ganze Zeit nach meiner Reise nach Zentralasien und den ersten, konkreten Plänen zu einem neuen Manuskript, kommt es mir so vor, als sei meine Annahme, selber und einigermaßen willkürlich über den Beginn einer neuen Arbeit zu bestimmen, fehlerbehaftet.

Schon nach meinem ersten Roman war mir jenes Thema nah, für das ich in Kasachstan recherchierte; auch nach dem zweiten und während des dritten dachte ich daran und beabsichtigte, mich ihm bald zuzuwenden. Ich bin dankbar dafür, dass ich es nicht tat, dass mich etwas Unbewusstes gleichsam davon abhielt und mich zu anderen Sujets steuerte. Oder, um diese Vokabel nochmals zu bemühen: die Strömung war noch längst nicht stark genug. Und mit Strömungen schien es zu sein wie mit vielem anderen auch: suchte man sie aktiv, entwanden sie sich, wurden unsichtbar, unerreichbar. Mit jedem Beginn einer neuen Schreibphase zog es mich zu anderen Themen, anderen Bereichen. Immer präsentierte sich etwas Anderes als dringlicher, aktueller, machbarer. Die Strömungen: sie trugen mich in eine andere Richtung, nie in die eine, die ich schon seit längerer Zeit im Blick hatte. Auch, als ich schon im Geländewagen in der kasachischen Steppe saß, mein Sujet längst auserkoren, die Recherche begonnen, mit dem Verleger, dem Lektor abgestimmt; ich mochte es vielleicht im Blick haben – aber bereit war weder es noch ich.

 

Mich fasziniert, wie ein Künstler, ein Schriftsteller in diesem Fall, den Mut aufbringt, eine Entscheidung zu treffen. Von hundert Ideen – warum diese eine? Mit jedem Verfolgen einer Richtung entscheidet man sich gegen alle anderen, die Masse der Möglichkeiten ist atemberaubend, und der Entscheidungsdruck manchmal paralysierend. Und doch scheint es Momente großer Klarheit zu geben (ich lasse die Myriade verschwommener Momente einmal diskret beiseite). Mir scheint, als ob zeitgleich mit den Ideen, die im Verborgenen gedeihen, auch die Kraft wächst, sich für sie zu entscheiden und ihnen Form und Ausdruck verleihen zu können.

Dort, im Verborgenen, gehorchen die Themen ihren eigenen Gesetzen der Reifung und Werdung; brüten, wachsen, ruhen. Und wer weiß: vielleicht hängen ungewöhnlich starke Qualen der Entscheidungsfindung – writer’s block? Schreibblockade? Fest-Stecken? – damit zusammen, dass entweder Sujet oder der Schreibende, womöglich beide, noch nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden haben.

 

Ob es den richtigen Zeitpunkt überhaupt gibt? Eventuell existiert er überhaupt nicht, ist selber nur eine Phantasie, ein Wunschtraum; wie mit einem Kind ist es auch mit einem Roman niemals leicht.

Vielfach habe ich aber Kollegen von diesem Phänomen berichten gehört oder es selber beobachtet und mitverfolgt: wie ein Thema schon greifbar ist, miteinander besprochen wird oder in einer Kurzgeschichte, einem Hörspiel ausprobiert. Teils werden schon langwierige und kostspielige Recherchen unternommen, nur, um das Sujet wieder für ein paar Jahre (in einem Fall sogar für ein ganzes Jahrzehnt) ruhen zu lassen, bis man den Atem, den Willen und die Courage hat, es anzupacken. Der Zeitpunkt war zuvor schlicht noch nicht gekommen.

Was sich jahrelang entzogen hat – weil es zu groß, schwierig, sperrig, enigmatisch, unlösbar, unschreibbar schien – fällt plötzlich wie von selbst auf den rechten Platz. Lange vorher hatte es im Verborgenen sein Eigenleben begonnen. Im besten Fall offenbart sich nun eine zwingende, berückende Logik, die häufig so simpel daherkommt, dass man sich fragt, wie man es all die Jahre zuvor nicht hatte sehen können.

Manchmal enthüllt sich eine Konstruktion, die so souverän scheint, dass man sich unsicher ist: Hat man sie wirklich selber erstellt, oder vielleicht eher unbewusst kopiert, plagiiert, adaptiert? Meistens folgen gründliche Nachforschungen, um diesen Verdacht zu widerlegen. Die Verwunderung darüber, dass „plötzlich“ etwas so einfach war, was vorher so schwierig schien, ist einfach zu groß.

 

Lesen, leben, lernen. Während sich die eigene Biographie abspult, wird unablässig gesammelt und verarbeitet. Wir sammeln Erfahrungen, akkumulieren Wissen, Methoden und Handwerk aus Lektüre. Nicht zuletzt gewinnt man Schreib- und Arbeitserfahrung. Für ein Manuskript dürfte es kaum unerheblich sein, ob es das erste ist, das man verfasst, oder das vierzehnte. Wieviel, was und wie man bereits geschrieben hat – ein wichtiger Faktor, der in jede Entscheidung, in jedes Timing einfließt. Es braucht mindestens zweierlei: ein fruchtbares Zusammentreffen von herangereiftem Thema und geeignetem Zeitpunkt in der eigenen Biographie.

Aber nicht nur die Akkumulation oder die Erfahrungen sind es, die das Eigenleben der Ideen im Verborgenen beeinflussen. Sicherlich auch persönliche Entwicklung und das Lebensalter neigen uns gewissen Themen zu, die Perspektive wird eine andere, mit der man auf Sujets blickt und sie einschätzt.

Was ich der verwirrten Person, die vor zwei Jahren im Geländewagen in einem kasachischen Sumpf feststeckte, gerne sagen würde: Lehn dich zurück, iss einen deiner (zahllosen) Energy-Riegel, genieße den Sonnenuntergang. Ein Manuskript, das über Tiefe verfügt, Eigensinn und Anmut? Braucht Zeit. Braucht Eigen-Leben. Solange kann man in aller Seelenruhe auf den nächstgrößeren Traktor, einen guten Song oder besseres Wetter warten. Die nächste riptide kommt bestimmt – sogar im zentralasiatischen Steppenmeer.

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner