Stummfilmästhetik auf TikTok – Attraktion und Narration

von Christian Albrecht

 

#Bippidyboppidyboo war Anlass für über 84 Millionen Aufrufe im sozialen Video-Netzwerk TikTok. Folgt man dem Hashtag, führt er zu Videos, die stets ähnlich gestrickt sind: Ungeschminkte, verschlafene und/oder frisch geduschte Menschen stehen in Bademantel, Pyjama oder Jogginghose vor dem Smartphone und schwingen zum Lied ‚Bibbidi-Bobbidi-Boo’ aus Disneys Zeichentrickfilm Cinderella einen imaginären Zauberstab. Ein Sprung in die Luft – und mit der Landung vollzieht sich die wundersame Verwandlung vom unordentlichen Aschenputtel-Ich in das ausgehfertige, selbstbewusste Alter Ego; statt des Gesangs der guten Fee nun Audi von Smokepurpp oder Lalala  von bbno$.

Auf den ersten Blick entspricht #Bippidboppidyboo dem typischen TikTok-Content. Zumeist junge Menschen beteiligen sich an einer sogenannten ‘Challenge’, indem sie kurze Filme nach einem bestimmten visuellen und auditiven Muster drehen und unter einem gemeinsamen Hashtag teilen. Diese Form der medialen Kommunikation ist charakteristisch für das Netzwerk, das wie kaum ein anderes die Prinzipien der ‚Kultur der Digitalität‘ [1], wie Felix Stalder sie identifiziert hat, in sich vereint:  Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität. Inzwischen hat die Plattform eine genuine TikTok-Ästhetik entwickelt und zu neuen Sehgewohnheiten geführt.

Auf den zweiten Blick führt dieser extrem gegenwärtige Umgang mit digitalen Filmschnipseln zurück in die Anfänge der Filmkultur. Denn #Bippidboppidyboo zeugt auch von einer Ästhetik, die bereits 120 Jahre zuvor unter anderem in George Méliès’ Cinderella ganz ähnlich beobachtet werden konnte. Méliès stoppte während des Filmdrehs die Kamera und kleidete das Aschenputtel um, bevor er die Aufnahme erneut startete. Dieser als ‚Stop-Action‘ in die Filmgeschichte eingegangene Filmtrick ist nur eines von vielen Phänomenen, die sich sowohl in den Filmen des frühen Kinos von 1895 bis 1917 als auch auf TikTok finden lassen. Der Frage, wie und warum sich diese Parallelen herausgebildet haben, kann sich mit Bezug auf den gemeinsamen Nenner genähert werden: die Grenzen des Mediums.

Spiel mit den Grenzen des Mediums

In der Frühphase des Kinos waren die Grenzen des Mediums vor allem materielle und technische Beschränkungen. Das ‚Mobile Device‘ der Brüder Lumière, die neben anderen als Erfinder des Films gelten, war der relativ kompakte, leichte, mit einem tragbaren Stativ versehene und so an verschiedenen Drehorten einsetzbare Kinematograph, der Aufnahme- und Abspielgerät zugleich war. Allerdings fasste die Filmkassette der Kamera nur etwa 17 Meter Rohfilm, was ungefähr einer Minute Laufzeit entsprach.

Auf TikTok sind die filmischen Grenzen nicht technisch determiniert, sondern konzeptioneller Natur und von der App vorgegeben. Sie sind jedoch ganz ähnlich gelagert: Maximal 60 Sekunden Filmlänge erlaubt die App ihren Nutzer:innen. Diese Einschränkung hat dazu geführt, dass sich bestimmte ästhetische Phänomene des frühen Stummfilms auf TikTok reproduziert haben. Denn wie schon die Filmleute des frühen Kinos müssen sich auch die TikToker:innen genau überlegen, wie sie innerhalb des gegebenen Rahmens wirkungsvolle Ergebnisse erzielen können. Die Akribie, die etwa hinter der Wahl des Standorts, des Aufnahmewinkels und des Bildausschnitts der Smartphonekamera steckt, ist bei der TikTokerin Caroline Kalmbach ähnlich ausgefeilt wie einst bei Louis Lumière.

TikTok der Attraktionen

Da das wohl wichtigste narrative filmische Mittel – der Filmschnitt bzw. die Montage – in der Anfangsphase des Stummfilms noch fehlte, konnten komplexe Geschichten in der zur Verfügung stehenden Zeit kaum erzählt werden. Gleichzeitig wollte man aber die Zuschauer:innen in die Wander- und Ladenkinos und Lichtspieltheater locken bzw. für Edisons Kinetoskopen begeistern. Gelingen sollte dies mit dem Versprechen des visuellen Spektakels, mit einem ‚Kino der Attraktionen‘. [3]

Da die ungeschnittenen Single-Shot-Filme wirklichkeitsnah wirkten, erfreuten sich vor allem die Genres großer Beliebtheit, die von Authentizität besonders profitierten. Die aufgrund ihrer dokumentarischen Wirkung als spektakulär empfundenen Reisebilder, Lokalaufnahmen, Alltagsszenen und Wissenschaftsfilme sowie theatral-performative Aufnahmen mit eher rudimentärem narrativem Gehalt wie ‚Dumme-Jungen-Streiche’ bestimmten folglich das Kinoprogramm. Eine wichtige Rolle für die Begeisterung über das neue Medium spielte daneben die schlichte Abbildung von Bewegung, die für sich genommen schon eine Faszination darstellte. Besonders gut ausdrücken ließ sich diese im tänzerischen Film, denn: „What moved better than dancing?“ [2]

Dass auch 126 Jahre nach der ersten öffentlichen Filmvorführung die Faszination für die Bewegung und die authentische Abbildung von Wirklichkeit nicht nachgelassen hat, zeigt die Konsistenz  stummfilmtypischer Genres und Sujets auf TikTok – auch wenn die Authentizität mancher TikToks unter dem Wunsch nach viraler Verbreitung hin und wieder zu leiden droht.

Die Rezeption der ersten Stummfilme war von Wiederholungen geprägt. In den Guckkasten-Salons wurden sie in Endlosschleife und in den Ladenkinos bzw. Nickelodeons in großer Anzahl hintereinander vorgeführt, weshalb die Regisseur:innen darauf achteten, dass ihre Werke unter den gegebenen Bedingungen nicht langweilten oder Erwartungen enttäuschten. Dies führte in vielen Fällen zu einer Erzählstruktur, in der Anfang und Ende des Films in einem kohärenten, symmetrischen Zusammenhang stehen, etwa wenn im Film La partie de cartes der Kartenspieler am Ende der Partie eine weitere Münze auf den Tisch legt und so eine neue Runde ankündigt oder wenn im Film La Sortie de l’usine Lumière die Tore der Fabrik zu Beginn des Filmes geöffnet und am Ende wieder geschlossen werden (und ein Arbeiter noch schnell hineinhuscht).[4]

Auf TikTok sehen sich die Creator:innen vor ähnliche Herausforderungen gestellt. Was langweilig wirkt, wird weggeswiped, was dagegen vollständig oder sogar mehrmals gesehen wird, wird vom Algorithmus – quasi dem Filmvorführer von TikTok – mit größerer Reichweite belohnt. TikTok vereint dabei die Endlosschleife der Kinetoskope mit der Vorführpraxis der Ladenkinos. Der Feed zeigt fortlaufend neue Clips, die in der App automatisch wiederholt werden, wenn nicht weitergewischt wird. In der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie des Netzes sind also die Filme besonders erfolgreich, die zur mehrmaligen Rezeption motivieren, indem sie den Loop als ästhetisches Mittel verstehen und Anfang und Ende der kurzen Clips entsprechend anschlussfähig gestalten. Wenn die Filme auch rückwärts funktionieren, lässt sich der Loop-Effekt zusätzlich verstärken – ein Phänomen, das sich schon im Film Démolition d’un mur der Lumières wiederfindet.

TikTok der Narration

Während zu Beginn von TikTok vor allem die Attraktion in Form von Tanz- und Lipsync-Clips dominierte, hat sich mittlerweile ein ‚TikTok der Narration‘ herausgebildet, das von einer vielfältigen Ästhetik und neuen Erzählformen zeugt. Diese Entwicklung ermöglichten nicht zuletzt die filmspezifischen auditiven, visuellen und narrativen Gestaltungsmitteln, die die App seinen Nutzer:innen anbietet und die auch schon das frühe Erzählkino vom Kino der Attraktion emanzipierte: Während z.B. im Stummfilm der fehlende Bildton durch Live-Begleitmusik kompensiert wurde, stehen den TikToker:innen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, die visuelle Ebene des Films auditiv zu ergänzen.

Die App bietet eine Vielzahl an Sounds, die einerseits nach Genre, andererseits nach Stimmung ausgewählt werden können. Kategorien wie ‚Traurige Songs‘, ‚Liebeslieder‘ oder ‚HAPPY!’ erinnern an ‚thematic cue sheets‘ oder an Kinotheken, die als Filmmusikanthologien von Stummfilm-Musiker:innen genutzt wurden, um die passende musikalische Untermalung für die Leinwandbilder auszuwählen. Zusätzlich war es gerade in der Anfangsphase des Stummfilms nicht unüblich, dass Filmerklärer:innen narrative Leerstellen für das Publikum ergänzten. Mit dem Aufkommen von Texttafeln, die zwischen die Einstellungen montiert wurden, wurden sie jedoch mehr und mehr überflüssig.

Auf TikTok finden Conférenciers und Texttafeln ein audiovisuelles Revival. Das Voice-over übernimmt die Funktion der Filmerklärer:innen und geht gleichzeitig darüber hinaus. Schrifttext wird direkt in das Bild integriert, um wie im Stummfilm Dialoge abzubilden – was mitunter zu einem ähnlich szenisch-gestischen, theatralen Duktus führt –, Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt der gefilmten Personen zu ermöglichen oder kontextuelle Einordnungen und meta-narrative Kommentare, teilweise mit ironisierender oder – “wait for the end 😱” – spannungserzeugender Funktion, vorzunehmen.

Auf der visuellen Ebene wird auf TikTok Licht und Farbe (bzw. der Verzicht darauf) gezielt für den Ausdruck von Emotionen eingesetzt, was an die Technik und Funktion der Virage, Hand- oder Schablonenkolorierung im Stummfilm erinnert. Besonders effektiv erweitern zudem Experimente mit der Bildführung und Montage den narrativen Spielraum. Dies erfolgt zum einen auf der filminternen Ebene der Rahmen- und Binnenerzählung, zum anderen auch clipübergreifend, indem etwa Filme in verschiedenen Teilen veröffentlicht oder kollaborativ als Fortsetzungsgeschichte weitererzählt werden. So wie im frühen Kino kurze, wöchentlich vorgeführte Serials mit einem festen Personal ein wichtiger und charakteristischer Bestandteil der Filmlandschaft waren, finden sich auch auf TikTok etliche Fortsetzungsgeschichten: Zahlreiche TikToker:innen veröffentlichen in regelmäßigem Abstand aus der Perspektive ihrer im Netzwerk etablierten Kunstfigur Szenen aus deren Leben.

Referentialität und Gemeinschaftlichkeit

Viele TikToks basieren auf einem interaktiven Bezug zu den Zuschauer:innen, etwa indem die TikToker:innen die sogenannte vierte Wand durchbrechen und direkt mit der Kamera agieren, indem sie auf Kommentare reagieren oder mit Hilfe der Duett– und Stitch-Funktion den Content anderer in ihre eigenen Videos montieren und kreativ weiterverarbeiten. Dieser niedrigschwellige Übergang von der Rezeption zur Produktion bietet die Möglichkeit, Inhalte in immer neue Bedeutungszusammenhänge zu stellen und gleichzeitig das eigene Verhält­nis zur Welt und die subjektive Position in ihr mit­zubestimmen.

In solchen Formen der Referentialität und Gemeinschaftlichkeit zeigen sich Rezeptionsphänomene der frühen Stummfilmzeit, in der die Direktadressierung genuiner Teil des Filmerlebnisses und gebräuchliches Stilmittel war: Der junge Gärtner in The Biter Bit blickt komplizenhaft in die Kamera, bevor er seinem Chef einen Streich spielt, der Banditenanführer schießt in The Great Train Robbery mit dem Revolver auf das Publikum, und über auf Glasscheiben projizierte ‚illustrated songs‘ wird das Publikum während bestimmter Filmvorführungen zum ‚Community Singing‘ aufgefordert. Da ist der Weg zu den digital gemeinsam gesungenen Shanties Anfang des Jahres nicht weit.  Gleichzeitig wird im Stummfilm wie auf TikTok deutlich, dass sich die Filmenden ihr Publikum als physisch „präsentes Kollektiv“ vorstellen, womit sich die „Stil- und Darstellungsmittel des Performativen“ [5] erklären lassen.

Medienkulturelle Tradition junger Netzphänomene

Der medienkulturgeschichtliche Vergleich zwischen der Frühphase des Films und TikTok ist gleichermaßen faszinierend wie aufschlussreich, denn er verdeutlicht, dass selbst die jüngsten Netzphänomene nicht unabhängig von einer medienkulturgeschichtlichen Tradition stehen. In diesem Sinne kann TikTok als synkretistisches Phänomen verstanden werden, indem Funktionen, Erzählpraktiken und Ästhetiken des Stummfilms reproduziert, neu kombiniert und schließlich den eigenen Bedürfnissen und den spezifischen Netzkontexten entsprechend erweitert werden. Blickt man mit einer solchen filmhistorischen Brille auf die Medienpraxis und Ästhetik von TikTok, öffnet das die Augen für die Innovationskraft, die Kreativität und die mediale Tradition und Bedeutung eines Netzwerks, das oft immer noch als „reines Entertainment von höchster Banalität“ missverstanden wird.

 

Literatur

[1] Stalder, Felix (2017): Kultur der Digitalität. 2. Auflage. Berlin: Suhrkamp, S. 95ff.

[2] Billman 1997, S. 17; zit. n. Köhler, Kristina (2017): Der tänzerische Film. Frühe Filmkultur und moderner Tanz. Marburg: Schüren, S. 88.

[3] Gunning, Tom (1986): The Cinema of Attractions: Early Film, Its Spectator and the Avantgarde. In: Wide Angle 8, 3-4, S. 63-70.

[4] Elsaesser, Thomas (2002): Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels. München: edition text + kritik, S. 57ff.

[5] Elsaesser 2002, S. 80.

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