[Atelier NRW] Ans Ende schreiben: Die Autofiktion und ihr Verhältnis zum Tod

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff
Über das Leben der Ideen im Verborgenen von Sabrina Janesch
Nabelschau von Yannic Han Biao Federer

Von Gunther Geltinger

I.

Die geistigen Strömungen einer Epoche geben der Literatur, die aus dieser hervorgeht, ihre Namen. Die Aufklärung schafft mit dem Sturm und Drang den Topos des Genies als Urbild des höheren Menschen. Die neue Empfindsamkeit des literarischen Helden führt in der Romantik zur Hinwendung an den Traum und an das Magische der Natur. Dem erteilt der Realismus eine Absage und erklärt die Wirklichkeit zur unbedingten literarischen Referenz, von den Schreibenden wird Objektivität und Wissenschaftlichkeit verlangt. Der Schock des ersten Weltkriegs sprengt die bürgerliche Ästhetik, die Expressionisten wenden sich den seelischen und gesellschaftlichen Deformationen zu. In Frankreich zerschlägt der Poststrukturalismus die Entität des erzählenden Subjekts, Roland Barthes proklamiert in seinem Essay den Tod des Autors und schafft damit eine Rezeptionsfigur, die den literarischen Text von seinem Urheber als Bezugspunkt der Interpretation befreien und die Lektüre selbst in diese Schlüsselposition heben soll: Der Tod des Autors ist der Preis für die »Geburt des Lesers«, der alle kulturellen Spuren, aus denen sich ein Text zusammenfügt, vereinigt.

In der Verbannung der Person des Autors aus dem literarischen Werk sieht Roland Barthes’ Zeitgenosse Michel Foucault eine Verwandtschaft des Schreibens mit dem Tod: Im griechischen Epos stirbt der Held jung, damit sein durch den Tod erhöhtes Leben in die Unsterblichkeit eingehe. Auch den Geschichten aus Tausendundeine Nacht diene das Nichtsterben als Motivation und Vorwand des Erzählens: »[M]an erzählte bis zum Morgengrauen, um dem Tod auszuweichen, um die Frist hinauszuschieben, die dem Erzähler den Mund schließen sollte.« In der heutigen Kultur erfährt das Erzählen, das den Tod aus dem Leben fernhalten soll, einen Bedeutungswandel. Es sei nun »an das Opfer gebunden, selbst an das Opfer des Lebens; an das freiwillige Auslöschen, das in den Büchern nicht dargestellt werden soll, da es im Leben des Schriftstellers selbst sich vollzieht. Das Werk, das die Aufgabe hatte, unsterblich zu machen, hat das Recht erhalten, zu töten, seinen Autor umzubringen.«

Die Theorien der Subjektkritiker müssen vor dem Hintergrund der französischen Erzähltradition gelesen werden, die sich in den 1950erjahren mit dem Aufkommen des Nouveau Roman und dessen grundlegender Skepsis gegenüber personell gebundenen Wirklichkeitsbildern von der Biographie des Autors und ihrem Einfluss auf das literarische Werk abwendete. Ausgerechnet Roland Barthes veröffentlichte zehn Jahre nach Erscheinen seines Essays eine – sogar bebilderte – Autobiographie mit dem Titel Roland Barthes par Roland Barthes (deutsch: Roland Barthes, Über mich selbst), in der sich der Erzähler aus Fragmenten und Momentaufnahmen seines Lebens zu einem fiktiven Subjekt zusammenfügt – wie sich vielleicht grundsätzlich eine literarische Epoche dadurch ans Ende schreibt, dass sie zu ihren Ausgangspositionen zurückgehrt und diese unter den Maßgaben des Zeitgeists neu erfindet: In Frankreich in den Achtzigerjahren, im deutschsprachigen Raum anderthalb Jahrzehnte später entwickelt sich aus dem autobiographischen Schreiben eine literarische Gattung mit neuem Namen: die Autofiktion.

Misst man eine literarische Strömung an ihrem kommerziellen und kulturellen Erfolg in der Zeit, in der sie wirkt, könnte die Autofiktion einmal als der Begriff gelten, der die Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts prägt. Sie ist der Neologismus einer Schreibweise, die bereits Augustinus in seinen Confessiones praktizierte, in deren Zentrum allerdings weniger die persönliche als die religiöse Erfahrung steht. So war auch Jean Jacques Rousseaus »Unternehmen, welches beispiellos dasteht und bei dem ich keinen Nachahmer finden werde«, nicht mehr ganz neu, als er 1765 in Bekenntnisse verkündete, der Welt »einen Mann in seiner ganzen Naturwahrheit [zu] zeigen«.

Von ihren linguistischen Konstituenten ausgehend, ist die Autobiographie das Ansinnen eines menschlichen Subjekts (autos), sein gelebtes Leben (bios) in einer Erzählung zu verschriftlichen (graphein). Philippe Lejeune definiert sie 1975 in Der autobiographische Pakt als »rückblickende[n] Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person über ihr eigenes Leben erstellt«. Der »Pakt« mit dem Leser besteht in dessen Erwartung, dass Autor und Erzähler bzw. Hauptfigur identisch sind. In der zeitgenössischen Autofiktion, wie der Literaturwissenschaftler Peter Gasser sie beschreibt, gelten hingegen alle  Formen von Identität – einschließlich die des Autors – als fiktional: »Was Lebenssinn ist, ist nicht mehr in der Selbsterzählung eingeschrieben und zu entdecken, sondern erst durch das Erzählen zu erfinden, zu konstruieren und im dreifachen Sinne des lateinischen Verbs fingere zu formen, sich vorzustellen und zu erdichten.« An die Stelle der Hauptfigur, die für die »Wahrheit« des Erzählten bürgt, tritt der Schreibprozess selbst, in dem sich Autor und Figur gegenseitig bespiegeln.

In der Metaisierung wird die Diskrepanz zwischen gelebtem und geschriebenem Leben zu einer sprachlichen Inszenierung der eigenen Absenz. Der oder die Schreibende zieht sich aus seiner/ihrer Biographie an einen Ort zurück, der nur im Text selbst sichtbar wird: Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, eine der bekanntesten Vertreterinnen des zeitgenössischen autobiographischen Schreibens, erforscht in ihrer Erzählung Erinnerung eines Mädchens den »Abgrund […] zwischen der ungeheuren Wirklichkeit des Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.« Ausgangspunkt dieser Selbsterkundung ist hier eine tief empfundene Unfähigkeit der Erzählerin, über das sexuelle Trauma zu schreiben, das ihr als Mädchen widerfahren ist. Der Gedanke, dieses Mädchen könnte aus dem Bewusstsein der Welt verschwinden, wird zum Motor eines Schreibprozesses, der sich an der Vorstellung des eigenen Todes entzündet:

»Die Zeit vor mir wird kürzer. Irgendwann wird es ein letztes Buch geben, so wie es einen letzten Geliebten gibt und einen letzten Frühling, aber vorher deutet nichts darauf hin. Der Gedanke, ich könnte sterben, ohne über das Mädchen geschrieben zu haben, das ich sehr früh »das Mädchen von 58« genannt habe, lässt mir keine Ruhe. Eines Tages wird es niemanden mehr geben, der sich erinnert. Das, was dieses Mädchen erlebt hat, niemand sonst, wird unerklärt bleiben, umsonst gelebt.«

Ernaux dezentralisiert in diesem Text das erzählende Ich durch wechselnde Perspektiven, historische Reflexionen und Einschübe wie Chansontexte und Erinnerungen an Lektüren. »[D]as Kennzeichen des Schriftstellers«, schreibt Michel Foucault in seinem Aufsatz Was ist ein Autor? »ist nur noch die Einmaligkeit seiner Abwesenheit; er muss die Rolle des Toten im Schreib-Spiel übernehmen.« Das Ende des autobiographischen Erzählens ist Ernaux’ Text gleichsam intrinsisch eingeschrieben; stirbt die Erzählerin, wird das Erinnern auf die Leserinnen und Leser übertragen, es wird Aufgabe einer Gesellschaft oder einer ganzen Kultur. Erinnerung eines Mädchens wird so zu einer Art Soziologie sexueller Gewalt und Kulturgeschichte der Scham. Der antizipierte Tod der Erzählerin bildet die Membran, an der das Autobiographische in die Allgemeingültigkeit des literarischen Texts übergeht.

Versucht man, eine Ökonomie der Autofiktion zu beschreiben, ein System aus einem Soll und einem Haben an Leben, nährt sie sich aus dem Defizit, aus einem grundsätzlichen Fehlen des Lebendigen, das durch die Kraft der Imagination zu literarischer Fülle wird. Autofiktion entsteht ex negativo, aus der Unmöglichkeit, ein Leben zu erzählen oder es überhaupt erst zu führen, sie entsteht aus dem Versagen des Erinnerns, aus einem Mangel an Lebenssinn oder an Liebe, aus der Sprachlosigkeit. Das schreibende Ich wird produktiv, indem es das physische aufzehrt, das eine gelingt durch das Scheitern des anderen, die Fiktion wächst an, das Leben schwindet, eine Dichotomie von Schöpfen und Erschöpfung, im steten Widerspruch mit der Zeit, wie Augustinus ihn beschreibt: »Wenn also die gegenwärtige Zeit nur dadurch Zeit wird, daß sie in Vergangenheit übergeht, wie können wir dann sagen, sie sei, da doch der Grund ihres Seins der ist, daß sie nicht sein wird?«

Im Moment ihrer Entstehung verwandelt sich die Autofiktion in ein postumes Werk; sie kondensiert aus der biographischen Vergangenheit eine erzählerische Gegenwart, die während der Niederschrift von der Lebenszeit eingeholt wird.

»Ich habe mich bisher nicht umgebracht also sucht nicht nach/ früheren Fällen/ Was bis jetzt geschah war erst der Anfang/«. In 4.48 Psychose, dem letzten Theaterstück der britischen Dramatikerin Sarah Kane, gibt es keine Personenbezeichnungen und keine Hinweise auf Lebensläufe, nur die Zustandsbeschreibungen eines namenlosen Ichs. Der Text handelt von einer psychischen Erkrankung, die im realen Leben der Autorin zum Suizid führte: »Bitte schneidet mich nicht auf um herauszufinden woran ich/ gestorben bin/ Ich werde euch sagen woran ich starb/ Einhundertfünfzig Lofepramin, fünfundvierzig Zopiclon/ fünfundzwanzig Temazepam und zwanzig Melleril/«.

Zum Zeitpunkt der Uraufführung des Stücks im Jahr 2000 war Sarah Kane bereits tot, und es ist diese Koinzidenz, die den Suizid der Autorin zur Folie für die Lesart des Texts machte – und 4.48 Psychose zu ihrem bekanntesten und meistgespielten Stück. Der Krieg des Bewusstseins, der darin in einer hochemotionalen Sprache nachgezeichnet wird, ist umso eindringlicher, als dass er keinem leidenden Subjekt zugeordnet werden kann. Der Austragungsort ist der Leser bzw. Zuhörer selbst, der den rhythmischen Monolog mit seinen dichten Bildern, den Zahlenfolgen und protokollarischen Notizen in das Leben der Autorin projiziert. Doch wer spricht in diesem Text? Wirklich Sarah Kane? Oder der an Depressionen leidende Theatergast, die psychotische Gesellschaft? Um 4.48 Uhr nachts, wenn die Wirkung der Medikamente nachlässt und »die Klarheit vorbeischaut«, ist das Ich »für eine Stunde und zwölf Minuten […] ganz bei Vernunft« – und schreibt. »Um 4 Uhr 48« heißt es, »werde ich schlafen«. Auf die Frage, ob der Tod der damals achtundzwanzigjährigen Autorin Teil der Poetologie dieses Stückes sein sollte, wird es keine Antwort mehr geben. Welchen Stellenwert hätte es in Sarah Kanes Biographie, wenn es nicht ihr letztes gewesen wäre? So hat das Werk die Autorin ans Ende geschrieben, und nicht umgekehrt.

Wie Tod und Schreiben sich gegenseitig formen, zeigt auch der Roman Le livre brisé des Autors Serge Doubrovsky, der in Frankreich als der Begründer der „l’autofiction“ gilt. Der Ich-Erzähler Serge versucht sich eine prägende Episode aus seiner Kindheit ins Gedächtnis zu rufen und stellt fest, dass er auf elementare Bestandteile seines Lebens nicht zurückgreifen kann. Stattdessen beschäftigt er sich – wie schon in den vorherigen Romanen Doubrovskys – mit der Rekonstruktion seiner Liebesbeziehungen. Hier greift Doubrovkys Frau Ilse in den Schreibprozess ein: Sie fordert von ihrem Mann einen Roman, in der ihr selbst, nicht einer anderen Frau, die zentrale Rolle zukommt. Ab hier wird der Roman zur kritischen Auseinandersetzung zwischen Serge und Ilse, die nun ihre eigenen Erinnerungen als Co-Autorin des Texts gegen die ihres Mannes stellt: eine schonungslose Analyse ihrer Beziehung, die auch Ilses Depressionen und ihr Versinken im Alkoholismus zur Sprache bringt. Serges und Ilses Leben ereignet sich von nun an parallel zum Schreiben, und umgekehrt: »Elle s’était lancé ce défi allègre et douloureux: que nous entrions ensemble, vivants, dans l’écriture.«[1]

Der letzte Teil des Romans eröffnet mit Ilses Tod. Sie hat sich – im realen Leben des Serge Doubrovksy – in Paris das Leben genommen, während er selbst in New York weilte. Serge versucht das Unfassbare dieser Tat zu verarbeiten und kommt, nicht ganz frei von Larmoyanz, zur Einsicht, dass es seiner Frau Ilse gelungen sei, durch ihren Tod sowohl die Einheit des Romans als auch die seines Autors Doubrovsky zu zerbrechen: »Je ne perçois pas du tout ma vie comme un tout, mais comme des fragments èpars, des niveaux d’existence brisé.« [2] Serge Doubrovsky beteuert im Roman und öffentlich seine Unschuld am Tod seiner Frau, wiederum fallen Fakten und Fiktion zusammen – medienwirksam. Der als Provokation verfasste Text polarisiert, überschreitet Schamgrenzen und wird mit dem Prix Mèdicis ausgezeichnet. Es bleibt streitbar, ob der Erfolg des Romans auf seine formale Radikalität oder auf den Skandal zurückzuführen ist, den er aus- beziehungsweise einlöste – als ein Pfand des Textes an das Leben. »Die Literatur handelt, das Buch kann töten«, fasst Ivan Farron in seinem 2003 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen Artikel Fallen der Vorstellungskraft, einer kritischen Auseinandersetzung mit der Gattung der Autofiktion, die Wirkung des Romans zusammen. Er wirft die Frage auf, ob Le livre brisé, statt eine Form zu finden, in der das in sie Eingegangene über sich selbst hinausweist, nicht vielmehr exemplarisch die »Opfer fordernde und kannibalische Seite« der Autobiographie illustriere.

Frank Reiser, Romanist an der Universität Freiburg, formuliert es in seiner Analyse des Romans anders: Er sieht die Herausforderungen eingelöst, die die Postmoderne an das autobiographische Schreiben stellt. In Doubrovkys Roman zeige sich der »schmerzhafte Verlust totalisierender Mimesis eines Lebens« gerade dadurch, dass der von Ilses Tod erzeugte Bruch im zweiten Teil des Romans das Scheitern des autofiktionalen Projekts markiert und die angestrebte »lebendige Erzählung« zu einer Art »Thanatografie« verkehrt. Die Selbstdarstellung findet hier nicht mehr im geschützten Bereich der Autobiographie statt, sondern im vielstimmigen Dialog mit einem vom Tod erschütterten Außen: »Die Moderne hätte sich wohl auch des literarischen Scheiterns schuldig gemacht, nicht aber eines Todesfalls.«

Für Peter Gasser belegt Serge Doubrovskys Gesamtwerk, dass die Autofiktion sich aus einem grundlegend produktiven Prinzip speist, dem Ansinnen des Schreibenden, in der Selbsterzählung ein anderer zu werden, als er ist. In ihrem vitalen Verweis auf eine vakante, noch zu erschaffende Existenz ist die Autofiktion per Gattungsbegriff ein Gegenentwurf zum Nichtsein. Und vielleicht liegt darin auch der derzeitige Erfolg einer Schreibweise begründet, die seit jeher praktiziert, von den Lebensbedingungen des 21. Jahrhunderts aber neu definiert wird. In einer Zeit, in der Identität – ob kulturelle, psychologische oder geschlechtliche – zunehmend als konstruiert gilt, lassen sich Lebensläufe nicht mehr in dem Maße als sinnstiftende Biographien darstellen wie noch vor hundert Jahren. Die Autobiographie des 21. Jahrhunderts steht im Kontrast zum Bildungs- und Entwicklungsroman, der die Geschichte eines Individuums linear und teleologisch erzählt, ausgerichtet auf ein möglicherweise metaphysisches Ziel. Diese Erzählung erfährt im ausklingenden 20. Jahrhundert einen Paradigmenwechsel. Die Kultur des Kapitalismus, so beschreibt es der amerikanische Soziologe Richard Sennett, erfordere den flexiblen Menschen, der sich allzeit neuen Aufgaben stellt und sich ständig wechselnden wirtschaftlichen Bedürfnissen bedingungslos anpasst. Seine Biographie habe nicht mehr die Qualität einer Erzählung, »bei der ein Ereignis zum nächsten führt und dieses bedingt.«

Ilma Rakusa verweist in ihrer Stefan-Zweig-Poetikvorlesung Autobiographisches Schreiben als Bildungsroman auf Henrik Karle Nielsen, der im Erfolg der literarisierten subjektiven Lebensgeschichte in der spätmodernen Gesellschaft den »Ausdruck eines allgemeinen, immer stärker akzentuierten Bedürfnisses nach selbstgeschaffenem Sinn und Kontinuität im Leben des Einzelnen« sieht. Je haltloser das Individuum in unserer Zeit werde, desto drängender auch sein Bedürfnis nach »kompensierender Gestaltung von Überblick und Verbindungslinien durch die Erzählung.«

Die Autofiktion schafft für dieses Bedürfnis ein Erfüllungsmodell, indem sie Biographie für ein schöpferisches literarisches Spiel mit der Endlichkeit des eigenen Lebens freigibt. Der unbedingte Wille, es durch Schrift zu gestalten, stellt die Nähe zum Tod her. In der nur gedachten Lebensfülle wird die Vergeblichkeit dieses Unterfangens sichtbar. Unsterblichkeit bleibt das Privileg der Götter. Aber wer schreibt, stirbt noch nicht.

II.

Noch immer bringt mich die Frage, was an meinen Büchern »ich« sei, in Verlegenheit. Nach drei Romanen mit autobiographischen Motiven (franz. motif: Beweggrund, Anlass), sollte ich eine professionelle Antwort parat haben, doch ich gerate ins Stottern. Nicht weil ich mich in der Öffentlichkeit oder vor einer fremden Person zu meinen Defiziten und Unzulänglichkeiten bekennen muss, was ohnehin zur täglichen Routine des Schreibens gehört. Auch fürchte ich nicht den Blick meines Gegenübers, in dem ich das Urteil über einen zu lesen glaube, der sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, wo es doch in unserer Welt an allen Ecken und Enden brennt; die Welt brennt in mir, möchte ich dann erwidern, doch das würde abermals zu der Frage und diesem Blick führen – und so weiter. Die Frage selbst ist die Antwort, sie ist in ihrer rhetorischen Ausrichtung die autofiktionale Form, und es ist die Enttäuschung im Gesicht meines Gegenübers, die mich dann stocken lässt, die Beschämung über einen Dialog, der hier abzubrechen droht. Ein Moment der Fremdheit entsteht, der die Kluft zwischen mir und den anderen sichtbar macht. Mein Text, das wäre vielleicht eine Antwort, die zumindest einen Teil der Wahrheit trifft, ist ein Versuch der Annäherung.

Als Antwort auf die zweite häufig gestellte Frage, ob mein Schreiben eine Art Selbsttherapie sei, möchte ich hier Adolf Muschg aus seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Literatur als Therapie? zitieren: »Das Schreiben hat mein Leben nicht entlastet. Es hat nur den Riss verdeutlicht, der durch meine Geschichte geht. […] Was an meiner Schreibarbeit entwicklungsfähig und auch für den Leser, wie es scheint, brauchbar geworden ist, lebt nun gerade vom mehr oder weniger dunklen Gefühl des Lebensmangels; des unzureichenden Kontaktes der Figuren zu sich selbst und zueinander.« Eine Therapie verleiht dem, was einen am Leben hindert, eine Form; im Sichtbarmachen des Verborgenen, im Prozess der Sprachfindung für das nicht Artikulierbare kann sie im besten Fall zum Leben befähigen. Mein Schreiben verhilft mir zu einer Sprache für das, was in meinem Leben unbewältigt bleibt, weil es sich den gangbaren Formen, der so genannten Wirklichkeit, entzieht: Liebe und Glück, Trauer und Trauma, der Tod. Form schafft nicht nur die Fähigkeit zur Reflexion, sie bildet auch einen Raum, der den anderen zur Partizipation einlädt. Durch die Imagination, die diesen Raum öffnet, kann das, was mir an mir selbst ohne diese Teilhabe unheilbar erscheint (und nichts ist unheilbarer als das Sterben), zu einer heilsamen Erfahrung werden, im besten Fall für mich und meine Leser*innen.

Ich bin an meinem Schreiben bisher weder genesen noch zugrunde gegangen. Was nicht ausschließt, dass mich bereits der nächste Satz in die eine oder in die andere Richtung lenkt. In meinen drei Romanen Mensch Engel, Moor und Benzin stehen die Protagonisten am Ende jeweils an dieser Weggabelung. Gut möglich, dass Leonard Engel hinter dem Doppelpunkt des letzten Satzes, mit dem er ankündigt, weiterhin um sein Leben zu schreiben, die nächste Depression nicht überlebt. Kann sein, dass der Körper, der im letzten Kapitel von Moor über den Meeresgrund treibt, der Leichnam von Dion ist, der vor dem Wiedersehen mit seiner Mutter Marga am Strand von Sylt ins Wasser gegangen ist. Und wenn man mich fragt, ob Vinz, der Schriftsteller aus dem Roman Benzin, am Ende seiner Afrikareise wirklich in den Sambesi steigt und auf die Fallkante der Victoriafälle zutreibt, sage ich nicht nein. Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht. Würde mich der Tod als Plot Point interessieren, schriebe ich vielleicht erfolgreiche Krimis. Es gäbe eine Fülle von Themen, die mir aus den gesellschaftlichen und politischen Diskursen zufallen, doch auch für den Journalismus taugt mein Schreiben nicht, es stolpert haltsuchend entlang meiner Lebenslinie, und die, soviel ist gewiss, wird an meinem Tod enden – wann und wie, wird vielleicht später für mein »Werk« von Bedeutung sein, auf mein Schreiben heute aber hat es keinen Einfluss. Das speist sich aus den Formen, durch die ich mich in meinem täglichen Leben bewege; aus meiner Tagesform und der unserer Welt – die seit März diesen Jahres aus den Fugen gerät, schneller als je zuvor in meinem Leben und dramatischer, als ich es mir in einem Roman hätte erdenken können.

Mehr als die Sorge, an einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus zu sterben (ich gehöre zur so genannten Risikogruppe), treibt mich in diesen Tagen die Frage um, wie sich die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen, die zurzeit die etablierte Ordnung der Welt ins Wanken bringen, auf mein Schreiben auswirken werden – auf jene Systeme, die mein Selbst- und Weltverständnis prägen. Mein autofiktionales Erzählen wird nun umso mehr von der Kraft meiner Imagination abhängen, bisherige Erfahrungen mit den möglichen von morgen zu einer Gegenwart zu verschmelzen, die in ihrer literarischen Form über die Grenzen meiner eigenen Lebenswelt hinausweist. Gelingt es, bleibt meine Literatur mit den Worten Adolf Muschgs »entwicklungsfähig und für den Leser brauchbar«, fällt sie hinter die rasanten Veränderungen unserer Zeit zurück, wird sie von den globalen Dynamiken womöglich bald verschlungen werden.

Es sind nicht nur die Zweifel an seiner Lebens- und Liebesfähigkeit, die Vinz, den Protagonisten aus Benzin, in der letzten Szene an das Ufer des Sambesi treiben. Während sich im Land ein politischer Umsturz anbahnt, scheinen seine erzählerischen Mittel im Angesicht einer Wirklichkeit, die er nicht entziffern kann und die ihn sprachlos auf sich selbst zurückwirft, an ihre Grenzen zu stoßen. Die Möglichkeit, dass der Fluss ihn tötet, wird zur Bedingung für die Wahrhaftigkeit seines zukünftigen Schreibens, in ihr formuliert sich sein Wunsch, die autofiktionale Form, die ihn umschließt wie ein Kokon, zu durchbrechen. Nein, möchte ich antworten, Vinz stirbt nicht, aber notwendigerweise der Teil, der ihn am Leben hindert.

Ich schreibe diesen Teil des Essays knapp ein halbes Jahr nach unserer Zusammenkunft im NRW-Atelier in Bad Driburg im Oktober 2019. Einige der teilnehmenden Autorinnen und Autoren beschäftigten sich mit Fragestellungen zum autobiographischen und autofiktionalen Erzählen. Würden wir heute die eine oder andere These anders formulieren? Können wir die Romane, an denen wir damals gearbeitet oder zu arbeiten geplant haben, noch mit dem gleichen Selbstverständnis – Verständnis unserer Selbst – weiterschreiben? Wie gehen wir mit der Unsicherheit um, ob unsere meist auf mehrere Jahre angelegten Schreibprojekte im Zuge der nicht vorhersehbaren derzeitigen Entwicklungen möglicherweise ihre »Gültigkeit« verlieren? Wird es komplementär zum Bestreben der Literatur, eine Nähe zwischen einander entfernten oder sich fremden Menschen herzustellen, durch einen veränderten, von Abstandsgeboten geprägten Status Quo des sozialen Miteinanders eine neue »Schreibweise der Distanz« geben? Oder werden die aktuellen Anstrengungen von Politik und Gesellschaft, ein Massensterben gefährdeter Personen zu verhindern, der Literatur von morgen nur einen Nebensatz wert sein? Zur Erinnerung: Die Aidskrise forderte in den Jahren 1985-2005 allein in Deutschland ca. 26.000 Menschenleben, vor allem in der Randgruppe der Homosexuellen, was vielleicht mit ein Grund ist, warum die Toten dieser Zeit in der zeitgenössischen Literatur kaum vorkommen. In Frankreich zählte zu den Opfern auch Michel Foucault.

Crisis, die lateinische Wurzel des Wortes Krise, bedeutet Entscheidung. Vielleicht wird sich durch die Folgen der Pandemie – retrospektiv – zeigen, dass der Erfolg der zeitgenössischen autofiktionalen Form an die Paradigmen einer Zeit gebunden war, in der das Dasein mehr oder weniger gesichert schien und wir unsere Fragen nach Identität unter der Prämisse stellten, dass die Welt, über die wir heute schreiben, morgen noch die gleiche ist. Dass wir leben werden. Während die Autofiktion in der Bugwelle der spätkapitalistischen Epoche entstanden sein mag, die jetzt einen tiefen Einschnitt erfährt, wird sich die Literatur der Coronavirus-Phase (wenn es sie überhaupt geben wird) – wie jede Literatur der großen Umbrüche – im Kielwasser der globalen Veränderungen bilden. Die Literatur der Nachkriegszeit hat bedeutend dazu beigetragen, dass Biographien aufgearbeitet, die Traumata des zweiten Weltkriegs kulturell und gesellschaftlich bewältigt werden konnten. Die Verdienste der Autorengenerationen vor mir sind die Grundlage dafür, dass ich heute so schreiben kann, wie ich schreibe. Sie sind der Beweis, dass Heilung – im künstlerischen Sinne – möglich ist. Gegen mein drohendes Verstummen hier noch einmal Adolf Muschg: »Die Therapie ist nicht Kunst, aber sie dient der Kunst als Bürgschaft für die Verbindlichkeit, für die Gangbarkeit der lebensverändernden Phantasie. Beide arbeiten im Gleichgewichtssinn einer sich selbst bedrohenden Menschheit. Aus beiden ist die Einsicht zu schöpfen, dass Überleben erst dann keine Sorge mehr sein wird, wenn wir leben gelernt haben.«

Die Autofiktion kann dem Leben nicht vorgreifen, das ist ihr Dilemma, aber auch ihre Chance. Sie ist der Gegenwart verpflichtet, weil sie Biographie nicht nur darstellt, sondern Biographie ist. Doch wenn der Tod des Autors sie einmal eingeholt hat – und das ist ihre Hoffnung -, war die Literatur ihm vielleicht um das entscheidende Wort voraus.

Literatur:

Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Vollständige Ausgabe, eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme. Zürich, 1982.

Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Dietzingen, 2000.

Serge Doubrovksy: Le livre brisé. Paris, 2012.

Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens. Berlin, 2018.

Ivan Farron: Die Fallen der Vorstellungskraft, in: Neue Zürcher Zeitung vom 31.5.2003, https://www.nzz.ch/article8VLW2-1.259501, aufgerufen am 15.3.2019.

Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Dietzingen, 2000.

Peter Gasser: Autobiographie und Autofiktion. Einige begriffskritische Bemerkungen, in: » … all diese fingierten, notierten, in meinem Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs«. Autobiographie und Autofiktion, hrsg. von Elio Pellin und Ulrich Weber. Göttingen, 2012.

Sarah Kane: 4.48 Psychose, in: Sämtliche Stücke. Reinbek bei Hamburg, 2019.

Adolf Muschg: Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main, 1981

Ilma Rakusa: Autobiographisches Schreiben als Bildungsroman. Stefan-Zweig-Poetikvorlesung. Wien, 2014.

Frank Reiser: Autobiografie nach der Postmoderne: Serge Doubrovsky, Le livré brisé. http://www.gradnet.de/papers/pomo02.papers/serge.pdf, aufgerufen am 20.03.2020

Jean Jacques Rousseau: Bekenntnisse. Frankfurt am Main, 1985.

[1] »Sie hatte sich diese energische und schmerzhafte Herausforderung gestellt: wir sollten zusammen lebend in die Schrift übergehen.« (Übersetzung: Frank Reiser)

[2] »Mein Leben stellt sich mir nicht als Einheit, sondern als verstreute Fragmente, gebrochene Daseinsebenen dar.« (Übersetzung: Frank Reiser)

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