Das endgültige Ende der Kunst?

von Schwartz

Neulich fand ich beim Aufräumen einen Comic, den ich als Kind gezeichnet hatte. Im Alter von 12, um genau zu sein, das war 1993. Damals las ich sehr zum Leidwesen meiner Eltern blutig-brutale Erwachsenencomics – was sich auch in diesem Comic niederschlug. Ich blätterte also mit dieser charakteristischen Mischung aus Rührung und Cringe durch mein knapp 100 Seiten starkes Frühwerk, dessen Handlung im Wesentlichen daraus bestand, wie zwei Typen durch die Gegend zogen, und so sinnlos wie kreativ Leute umbrachten. Schnell stellte ich fest, dass der Stil auf den ersten Seiten noch stark vom französischen Künstler Moebius beeinflusst war, im Verlauf der Handlung allerdings deutlich erkennbar den Zeichenstil von Frank Millers „Sin City“ zu imitieren versuchte, dessen deutsche Übersetzung kurz zuvor erstmals in der Comiczeitschrift „Schwermetall“ erschienen war. Als ich meine Zeichnungen anschaute, teilweise exakte Adaptionsversuche von Millers und Moebius Panels, erinnerte ich mich auch, welchen nachhaltigen Einfluss die Werke meiner Vorbilder damals auf mich hatten. Und wie ich dachte: Das will ich auch!

So gesehen ist meine kindliche Kopie wohl die ursprünglichste und unschuldigste Form der Autorschaft. Ich wollte Miller und Moebius ja nicht plagiieren – ich wollte einfach so zeichnen können wie die Großen. Meine Fineliner-Mimikry war also nichts anderes als das, was die moderne Ästhetik schon lange herausgefunden hat: jedes Kunstwerk, ob Text, Bild, Film oder Musik, wird unter direktem oder indirektem Einfluss geschaffen. Kunst entsteht nie im luftleeren Raum. Behalten wir das im Hinterkopf, wenn wir über K.I.-generierte Kunst sprechen.

Als neulich ein ChatGPT-Prompt auftauchte, mit dem man Bilder im Zeichenstil der bekannten Anime-Produktionsfirma Studio Ghibli generieren und vorhandene Bilder mit entsprechenden Filtern belegen konnte, war der Aufschrei groß. Im gleichen Maße, wie User sich spielerisch an dem Bild-Generator versuchten, traten Kritiker hervor, und überzogen das Tool und alle, die es benutzten, mit harscher Kritik. Die Stadt Köln setzte auf Threads einen Post ab, in dem sie schrieb „Ihr wollt es, ihr kriegt es – Köln im Ghibli-Stil“, gefolgt von einigen entsprechenden Bildern. Die meisten der knapp 500 Replys waren negativ.

KI-Kunst sei „seelenlos“, hieß es darunter; KI sei nichts als massenhafte, automatisierte Urheberrechtsverletzung. „Warum lasst ihr das eine KI anfertigen, statt richtige Künstler:innen dafür zu bezahlen“, fragten andere, und wieso man Hayao Miyazaki, Chef der Ghibli-Studios und erklärter Gegner von KI-Kunst, nicht respektiere. Andere beschränkten sich auf hämische Hinweise der für KI-Bilder typischen Anzeichen, und wieder andere mahnten, ob man denn nicht wüsste wie schädlich KI für die Umwelt sei, wegen des hohen Stromverbrauchs.

Diese teils extreme Wut, mit der die Kommentierenden sich äußern, ist bemerkenswert, ebenso die Kompromisslosigkeit, die sich in Ankündigungen wie „Ich blocke jeden, der KI-Kunst befürwortet“ niederschlägt. Und sie kommt nicht immer nur von Kunstschaffenden. Zwar kann der Ton auf Social Media generell sehr roh und gereizt sein, aber dass bei einem vergleichsweise nischigen Thema die Emotionen derart hochkochen überrascht zunächst. Man könnte anführen, dass die Automatisierung von Arbeitsprozessen seit der industriellen Revolution immer wieder für Wut und Widerstand gesorgt hat – zumeist aus plausiblen Gründen, denn mit der Automatisierung ging häufig auch der Verlust von Arbeitsplätzen einher.

Für die extreme Wut der KI-Kunst-Gegner ist möglicherweise etwas anderes verantwortlich: das Stichwort lautet „seelenlos“. Demnach muss Kunst also eine Seele haben, eine zutiefst menschliche Einrichtung also. Während uns verhältnismäßig egal ist, ob unser Auto von schwieligen Händen oder von Roboterarmen zusammengebaut wird, wollen wir in der Kunst offenbar den Faktor Mensch nicht missen.

Die schöpferische Tätigkeit, Produkt des reinen menschlichen Geistes, geht seit der Antike mit einer gewissen Hybris einher: schon Platon adelte den Künstler als „Nachahmer der göttlichen Natur“, und von der Renaissance bis zur Romantik wurden die Kunstschaffenden nicht müde, ihre künstlerischen Aktivitäten mit denen von Göttern zu vergleichen. Vielleicht ist es also in erster Linie diese gekränkte menschliche Hybris, die aus den wütenden Replys unter dem Ghibli-Post der Stadt Köln spricht: wie können diese tumben Maschinen sich anmaßen, diese urmenschliche Tätigkeit auszuüben?

Man darf aber schon fragen: wo liegt der Unterschied zwischen einem Kind, das begeistert den zeichnerischen Stil seiner Vorbilder imitiert, und einer Maschine, die emotionslos ein Bild im Stil des geprompteten Wunschvorbilds generiert? Ob es nun eine Maschine ist, die „absorbiert und transformiert“, oder mein zwölfjähriger Kopf – das macht ausgehend vom daraus resultierenden Werk zunächst einmal keinen Unterschied.

In seinem vielbeachteten Essay „Der Tod des Autors“ (1968) schrieb Roland Barthes, der Künstler als Urheber sei letztlich nur ein Produkt der Moderne, eine bürgerliche Konstruktion; sein Text sei „kein lineares Produkt eines Autors, sondern ein Gewebe aus Zitaten, entnommen aus zahllosen kulturellen Zentren“. Michael Foucault präzisierte diese Idee in „Was ist ein Autor“ (1969). Er spricht dem Urheber eines Textes lediglich diskursive Funktion zu: der Autor sei nur ein Label, um bestimmten Äußerungen Bedeutung und Macht zu verleihen. Was zutrifft: wir lesen einen Text schließlich anders, wenn wir wissen, dass er von Franz Kafka ist, und nicht von Sebastian Fitzek.

Folgt man diesen Theoretikern, ist der Künstler also kein Schöpfer und erst recht kein Gott, sondern eigentlich nur ein Trichter; ein Werkzeug, das eine Vielzahl bestehender Gedankeninhalte in eine neue Form bringt. Es dürfte kein Zufall sein, dass diese Ideen in den 1960er Jahren entwickelt wurden, nachdem sich die Kunstgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts systematisch und ausgiebig mit der Dekonstruktion und den Grenzen ihrer selbstgeschaffenen Formen und Kategorien beschäftigt hat.

In der Literatur waren es z.B. Anfang des 20. Jahrhunderts die Dadaisten, die mit ihren Nonsense-Gedichten das romantische Image des Dichters demontierten. Die Musik wurde 1952 mit John Cages Musikstück „4:33“ grundsätzlich in Frage gestellt, als sich bei der Uraufführung des Stücks ein Pianist an den Flügel setzte, und viereinhalb Minuten lang nichts spielte: die „Musik“ war laut Cages Intention das unruhige Gemurmel im Zuschauerraum. Marcel Duchamps „Fountain“ (1917) war ein zum Kunstobjekt deklariertes Urinal. Und der Performancekünstler Yves Klein eröffnete 1958 die Galerie „Le Vide“, die aus nichts als einem leeren Raum bestand.

All diese Beispiele zeigen, dass ein Künstler im 20. Jahrhundert nicht mehr primär Schöpfer eines Werks sein musste, sondern vielmehr als Fragesteller und Kontextgeber fungierte; das Werk selbst funktioniert über den Rezipienten, der selbst entscheiden muss, was er damit nun anfangen will. Arthur Danto bemerkte in seinem 1997 erschienenen Buch „The End of Art“, die Kunstgeschichte, verstanden als eine Abfolge von Stilen, Epochen und Fortschritten, sei an ihrem Ende angelangt. Es gäbe keine verbindlichen Kriterien mehr, was Kunst sei und was nicht – das käme nur noch auf den Kontext an.

Dass die Kunstgeschichte am Ende war, hielt die Kunstschaffenden allerdings natürlich nicht davon ab, weiter Kunst zu produzieren. Weil es nun aber nicht mehr möglich war, formal etwas originär „Neues“ zu schaffen, musste man sich folgerichtig darauf konzentrieren, das Vorhandene neu zu kombinieren. Am Augenfälligsten trat dies im HipHop zu Tage. Ursprünglich als reine Partymusik zwischen Disco-Funk und Electro angesiedelt, wurde neben dem Sprechgesang das Sampling, also die Neumontage bereits vorhandener Musikstücke, schnell zum musikalischen Strukturprinzip. Als Höhepunkt kann hier das zweite Studioalbum der Beastie Boys, „Paul’s Boutique“ (1989) genannt werden. Über einen chaotischen Klangteppich, bestehend aus Funk, Country, Break Beats, Jazz und Film-Soundtracks wurden absurdeste Nonsense-Lyrics geschmettert.

Und obwohl eine Änderung im US-amerikanischen Urhebergesetz Anfang der 1990er Jahre die Nutzung fremder Musikstücke stark reglementierte und das Sampling oft aus Kostengründen limitierter eingesetzt wurde, tat dies dem Erfolg der Musikrichtung und dem Neuarrangement bekannter Akkorde und Melodien keinen Abbruch. Heute ist HipHop mit all seinen Spielarten Mainstream. Ein weiteres, moderneres Beispiel ist der weltweit erfolgreiche K-Pop: die koreanische Popmusik wird von Musikwissenschaftlern als handwerklich oftmals brillantes Mashup der unterschiedlichsten popkulturellen Musikstile bezeichnet.

Aber auch in anderen künstlerischen Disziplinen wurde die ästhetische Montage und Rekontextualisierung gängiges Stilmittel. So fotografierte z. B. die US-amerikanische Künstlerin Sherrie Levine die Fotografien berühmter Fotografen wie Walker Evans ab, und stellte sie 1981 unter ihrem eigenen Namen aus. Die Konzeptkünstlerin Barbara Kruger re-fotografierte ebenfalls, und versah die daraus resultierenden Bilder mit politischen Slogans im Stil von Werbeplakaten. Beide Künstlerinnen werden der „Appropriation Art“ zugerechnet, einer Kunstströmung, die das Kopieren eines Kunstwerks zum künstlerischen Akt erhob. Andere Künstler wie Jeff Koons kombinierten in ihren Arbeiten Motive aus der Unterhaltungskunst und der Hochkultur, um die Grenzen zwischen elitärer akademischer Kunst und Popkultur aufzulösen: Koons‘ Skulptur „Michael Jackson and Bubbles“ (1988) zeigt den Popstar mit seinem Affen, zusammengesetzt aus barock anmutenden Materialien.

Die Filmindustrie wurde schon Anfang der 2000er Jahre zu einem gigantischen Kopierwerk, da man sich zunehmend auf Fortsetzungen und Remakes bekannter Werke konzentrierte. Prominentes Beispiel ist „Star Wars: Episode I“ (1999), das 22 Jahre nach dem ersten stilprägenden Science Fiction-Blockbuster erschien. Das Weiter- oder Neuerzählen vorhandenen Materials hatte hier natürlich auch wirtschaftliche Gründe: die bereits bestehende Fanbase war eine sichere Bank. Das Kopieren fand im Kino in den sog. „Mockbusters“ seinen Höhepunkt: Low-Budget-Filme, die durch absichtliche Titelähnlichkeit zu einem Blockbuster dessen Zielpublikum abgreifen sollten. So wurde z. B. Roland Emmerichs Katastrophenfilm „2012“ (2009) von Mockbustern wie „Supernova 2012“ und „2012: Doomsday“ flankiert.

Die unaufhörliche Neukombination vorhandenen Materials wirft naturgemäß auch immer wieder grundsätzliche Fragen bezüglich Originalität und Urheberrecht auf. Viele werden sich an die Debatte um Helene Hegemanns Roman „Axolotl Roadkill“ (2010) erinnern. Als bekannt wurde, dass ganze Passagen des Romans aus Texten des Berliner Bloggers Airen übernommen worden waren, löste das eine Welle von Plagiatsvorwürfen aus. Hegemann konterte mit einem Verweis auf die notwendige Intertextualität: Jeder bediene sich doch irgendwie Jedem.

„Axolotl Roadkill“ war ein bedeutsamer Fall, der dazu diente, eine kulturelle Grundsatzfrage zu diskutieren: Wo endet das Zitat, wo beginnt das Plagiat – und was bedeutet überhaupt Originalität in einer Welt voller Zitate? Als das Internet Anfang der 2000er Jahre zum Massenmedium avancierte, war es für Künstler:innen zunächst einmal ein Segen. Plötzlich entfiel das Gatekeeping durch Verlage, Labels, Galerien und Filmverleihe, und Kunstschaffende konnte sich auf dem neuen Medium ihre eigenen Bühnen schaffen; anfangs mit sperrigen Website-Systemen wie Beepworld und in Internetforen, später auf den Sozialen Medien.

Zugleich war das Internet aber auch ein gigantisches Speichermedium, in das nach und nach Kopien sämtlicher kultureller Artefakte der Menschheitsgeschichte eingespeist wurden, legal wie illegal. Mit Youtube, Spotify und Google Books entstand damit eine Art Universalbibliothek, voll mit immateriellen Kulturgütern. Dadurch entfiel die Zeitgebundenheit, die das Kino, Musikfernsehen und serielles Erzählen bis dato ausgezeichnet hatte. Zwar gab es mit Videokassetten, DVDs, CDs usw. natürlich auch schon in den 1980er Jahren Speichermedien, aber dass man die Intromusik der Lieblings-Anime-Serie aus der Kindheit hören, anschließend „Der Mann mit der Todeskralle“ schauen und danach durch die VIVA Interaktiv-Clips von 1993 skippen konnte, das war erst mit dem Internet möglich. Das ständige Nebeneinander und die permanente Verfügbarkeit suggerierten den Zustand einer totalen Gegenwart.

Dies beeinflusste natürlich nicht nur die Kunst selbst, sondern animierte nahezu jeden User zu kreativer Teilhabe. Fans von Buch- oder Filmreihen begannen in Scharen ihre Lieblingswerke fortzuschreiben und machten so die Fanfiction, ein im analogen Zeitalter eher nerdiges Nischenhobby, zu einer Massenbewegung. Mit Image Macros wurde die Emblematik der Renaissance, eine Kunstform, bestehend aus der Kombination von Text-Bild-Botschaften, in die digitale Gegenwart übersetzt, und zur stilistischen Grundlage der Meme-Kultur. Die Meme-Kultur dürfte eine der interessantesten Formen von kollektiver Alltagskunst sein, ist ihr Hauptmerkmal doch ein ständiger, höchst vitaler Transformationsprozess, der nur durch die Zahl der teilnehmenden User begrenzt wird. In mitunter atemberaubender Geschwindigkeit werden neu entstandene Memes durch die Communities gereicht, neu kombiniert, neu kontextualisiert und umformuliert, sie dienen der Unterhaltung ebenso wie der Kommentierung von politischen Ereignissen und Alltagssituationen.

Sowohl Fanfictions als auch Image Macros haben gemeinsam, dass sie nominell ständige Verstöße gegen das Urheberrecht darstellen – und dass es niemanden zu interessieren scheint. Und wenn sich ein Urheber mal daran stört, wirkt es seltsam anachronistisch: Als Anne Rice, die Autorin des „Vampire Chronicles“-Romanzyklus, Plattformen abmahnen ließ, auf denen Fanfictions ihrer Buchreihe zu finden waren, reagierten die meisten User mit Unverständnis.

Die Frage, wie Kunst im digitalen Raum entstehen und zirkulieren darf, wurde also nicht erst mit KI brisant, sondern mit dem Internet selbst. Lawrence Lessig argumentierte bereits 2004, dass die bestehende Urheberrechtsgesetzgebung nicht mehr zur heutigen Kultur der digitalen Teilhabe und Remixing passe, und initiierte das Creative Commons Licensing, bei dem Urheber ihre Werke zu digitalen Gemeingütern erklären können, ohne den Schutz des Originals gänzlich aufzugeben. So konnte die globale Remix-Kultur fortgesetzt werden – kulturell längst akzeptiert, nun auch halbwegs rechtssicher.

Die massenhafte kulturelle Teilhabe wurde auch durch die vereinfachten technischen Umsetzungsmöglichkeiten in der Kunstproduktion ermöglicht. Dutzendweise erschienen intuitiv bedienbare Tools und Anwendungen, die Musikproduktion, Videoerstellung und Bildbearbeitung auch für Laien leicht erlernbar machen. Mit Apple Pen, iPad und dem Zeichenprogramm Procreate konnte sich jeder am Malen und Zeichnen versuchen, ohne erst einmal in Leinwände, Pinsel und Malerstaffelei investieren zu müssen.

Die Kombination aus technischen und publizistischen Möglichkeiten sorgte schließlich dafür, dass das Internet und seine Konsumenten mit Kunstwerken überschwemmt wurden und werden. Wöchentlich erscheinen etwa 700.000 neue Songs auf Spotify. Auf Saatchi Art, einer der bekanntesten Plattformen für bildende Künstler:innen, waren 2023 bereits 1,4 Millionen Werke zu bestaunen. Bis 2022 sind allein auf Amazon Kindle Direct Publishing 12 Millionen Buchtitel erschienen. Und auf Youtube wird pro Minute 500 Stunden Videomaterial hochgeladen. Natürlich ist nicht alles davon der Videokunst zuzurechnen, aber die Zahlen verdeutlichen, dass unsere Wahrnehmung von Kunst aufgrund der schieren Masse nicht mehr nach den Maßstäben des prädigitalen Zeitalters funktionieren kann.

Längst haben sich aufgrund dieser Begebenheiten neue Mechanismen etabliert. Kritiker monieren seit Jahren, dass die Playlist-Logik der Musikstreamingdienste keinerlei Platz mehr für musikalische Experimente zuließe. Um einen der begehrten Plätzen auf größeren Playlists zu ergattern und sich dort halten zu können, wurden Songstrukturen maximal vereinfacht und auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert. Lange Intros, stilistische Brüche und alles, was den Rezipient irritieren und weiterskippen lassen könnte, ließ man beiseite.

Wer sich am Schreiben eines Romans versuchen wollte, bekam in den zahlreichen Creative Writing-Kursen und Schreibwerkstätten zu hören, er solle sich tunlichst auf ein Genre festlegen und dessen Konventionen einhalten; literarische Experimente würden weder von Verlagen noch von Leser geschätzt. Was die Fakten bestätigen: Autoren aus der Selfpublishingszene berichten, dass sie in ihren jeweiligen Genres keinerlei Experimente wagen, weil jede Abweichung von einer Konventionen prompt mit enttäuschten bis wütenden Rezensionen abgestraft wird – was sich wiederrum unmittelbar negativ auf die Buchverkäufe und Pagereads auswirkt.

Das Gatekeeping der Redaktionen, Verlage und Labels wurde schließlich durch das Gatekeeping der Algorithmen ersetzt: nahezu alle Plattformen bieten kostenpflichtige Möglichkeiten, die eigenen Werke sichtbarer zu positionieren. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung wirken die Argumente der Gegner von KI-Kunst wie aus der Zeit gefallen – und oft ein wenig weltfremd. Die Forderung, statt generativer KI solle man doch lieber richtige Künstler:innen beauftragen, weil deren Arbeit wertgeschätzt gehört, wirkt angesichts des gesellschaftlichen Ansehens von Künstler:innen beinahe hämisch: Allein in Deutschland leben geschätzt zwei Drittel der Kunstschaffenden in wirtschaftlich schlechten Verhältnissen – und die Allgemeinheit findet das völlig okay.

In kaum einem anderen Berufsstand werden Armut, Scheitern und Außenseitertum derart romantisiert. Dass Van Gogh, dessen Gemälde heutzutage Millionenpreise erzielen, zu Lebzeiten nur ein Bild verkauft haben soll, ist zwar ein Mythos, aber es wird gern erzählt, um zu zeigen wie unfair das Leben doch sein kann. Und dass Spotify pro gestreamtem Song 0,003 bis 0,005 Cent auszahlt, findet zwar auch jeder irgendwie unfair, hindert aber offenbar niemanden daran, den Dienst zu nutzen.

Darüber hinaus bekommen Künstler:innen, der sich über sein niedriges Einkommen oder seine Lebenssituation beschwert, in der Regel Sprüche zu hören wie „Geh doch arbeiten“ oder „Selber schuld, hättest du mal was richtiges gelernt“. Dass die Gesellschaft sich ernsthaft um das Wohlergehen ihrer Künstler:innen sorgt, kann man nun wirklich nicht behaupten. Besonders unpassend erscheint dieses Argument übrigens im Zusammenhang mit dem Studio Ghibli-KI-Tool. Studio Ghibli schaltete 2017 eine Anzeige, in der im Rahmen eines neuen Filmprojekts Zeichner für Hintergründe gesucht wurden. Die monatliche Bezahlung lag mit 200.000 Yen, umgerechnet 1.558 EUR, knapp unter Mindestlohn. Eingedenk dessen, wie ablehnend sich Miyazaki über KI-Kunst geäußert hat, sollte man meinen, dass ihm die Arbeit seiner menschlichen Mitarbeiter mehr Wert sein müsste.

Häufiger als die wohlfeile Kritik am armen, ausgebeuteten Künstler hört man, KI würde millionenfachen Diebstahl geistigen Eigentums begehen, wenn es die Werke menschlicher Urheber zum Training benutzt. Das ist in der Tat ein Punkt, den man sich nicht nur aus juristischen Gründen genauer ansehen sollte. OpenAI gab an, dass ihre KI bis 2020 ausschließlich „rechtmäßig zugänglichen“ Werken im Internet trainiert wurde, also mit öffentlich verfügbaren Werken, die unter OpenSource oder Creative Commons Licensing fallen. Das ist nach § 44b UrhG Data Mining und damit gestattet. Allerdings räumte das Unternehmen später kleinlaut ein, dass es „unmöglich“ sei, KI-Modelle ohne die Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke zu trainieren, da das Urheberrecht nahezu alle Formen menschlichen Ausdrucks abdecke.

Spätestens seit jedoch bekannt wurde, dass die AI des Facebook-Konzerns Meta auf LibGen zugreift, eine Schattenbibliothek, in der sonst nur hinter Paywalls verfügbare Literatur zum Gratis-Download angeboten wird, fürchten Urheber, dass ihre Werke ohne ihr Wissen in die KIs der jeweiligen Konzerne eingespeist werden. Inzwischen gibt es Datenbanken wie haveibeentrained.com oder das Search-Libgen-Tool, mittels denen man prüfen kann, ob ein eigenes Werk zum Training von KI benutzt wurde. Über die Zuverlässigkeit dieser Datenbanken lassen sich jedoch keine Aussagen treffen. Auch SearchLibGen räumt ein, dass nur festgestellt werden kann, ob eine KI Zugriff auf ein Werk hatte, und nicht, ob dieser Zugriff auch getätigt wurde – und ebensowenig, ob dieses Werk dann auch tatsächlich zum Training verwendet wurde.

Ziel der KI ist nicht, einzelne Werke oder Inhalte zu imitieren, sondern eine Generalität aus den unterschiedlichsten Strukturen, Mustern und Stilen herauszudestillieren. Das ist übrigens auch außerhalb des maschinellen Lernens ein gängiges Vorgehen. Wer einen Roman schreiben will, dem wird von jedem Creative-Writing-Coach angeraten, erst einmal so viele Romane wie möglich zu lesen, um zu verstehen, wie bestimmte Genres funktionieren, wie man glaubwürdige Figuren und Welten schafft, wie man Dialoge schreibt, Spannungsbögen aufbaut usw. Und wer 500 Romane gelesen hat, und dann seinen eigenen schreibt, wird nicht einen oder mehrere dieser 500 Romane imitieren oder reproduzieren, sondern aus der Lektüre genau diese Fähigkeiten erlernt haben.

Das Herausdestillieren von Strukturen, Mustern und Stilen ist also seit jeher wesentlicher Teil des Lernprozess von Kunstschaffenden – und fördert Interessantes zu Tage. „Star Wars“, „Herr der Ringe“, „König der Löwen“, die „Matrix“-Trilogie, „Avatar“, „Pretty Woman“ oder „Das Schweigen der Lämmer“ – all diese Filme waren extrem erfolgreiche Blockbuster, und gehören zum popkulturellen Basiswissen. Und so sehr sie sich in Genre, Stil und Setting zunächst unterscheiden mögen: das Skelett dieser Geschichten ist gleich.

Alle diese Filme haben eine dramaturgische Grundstruktur, die stets von denselben erzählerischen Motiven, Situationsabfolgen und archetypischen Figuren gekennzeichnet ist. Der irische Schriftsteller James Joyce nannte diese Struktur „Monomythos“; weltbekannt wurde sie unter dem Begriff „Heldenreise“, durch die Arbeit des amerikanischen Publizisten Joseph Campbell. In seinem Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ (1949) wies er nach, dass etliche Märchen, Mythologien und antiken Epen nach stets denselben Mustern funktionieren. Es dürfte nicht verwundern, dass Hollywood sich darauf stürzte; George Lucas benutzte die einzelnen Elemente der Heldenreise als Schablone für den ersten „Star Wars“-Film. Noch heute gehört Campbells Werk zur Pflichtlektüre für angehende Drehbuchautoren.

Die banale Erkenntnis ist also, dass wir uns trotz all unserer unüberschaubar ausdifferenzierten Genres, Stile und Variationen fast immer dieselbe Geschichte erzählen. Eine Geschichte, deren Ursprung man auch in der „Odyssee“ ausmachen kann. Das Epos um den verirrten Seefahrer, der auf seiner Heimreise zahlreiche Abenteuer bestehen muss, ist einer der ältesten Texte der abendländischen Literatur, und hat unsere Art Geschichten zu erzählen geprägt wie kaum ein anderes. Als Urheber gilt Homer, der Legende nach ein blinder Wandersänger aus dem 8. Jhdt. v. Chr.

Da es über diesen keinerlei historisch gesicherte Quellen gibt, war die Frage, ob die Odyssee wirklich von Homer verfasst wurde, schon in frühhellenistischer Zeit ein Streitthema. Heute ist sich die Literaturforschung in der „homerischen Frage“ einig. Da in der frühen Antike Texte mündlich weitergegeben wurden, baute man zahlreiche rhetorische Stilmittel und sprachliche Rhythmuselemente ein, um sich längere Texte leichter merken zu könen. Und da sich alle diese Elemente auch in der Odyssee wiederfinden, geht die Mehrheit der Literaturwissenschaftler davon aus, dass das Epos das Ergebnis einer jahrelangen mündlichen Erzähltradition war, bevor es erstmals schriftlich festgehalten wurde. Homer, sofern es ihn gegeben hat, wäre damit bloß ein Symbol für kollektive Autorschaft, ein Funktionsträger – ganz im Sinne von Barthes und Foucault.

Die Odyssee, die Grundlage unserer abendländischen Dichtung, ist damit das Werk einer unbekannten Gruppe von Autoren, deren jeweiliger Eigenbeitrag nicht nachvollziehbar ist. Das ist ernüchternd. Ebenso ernüchternd wie die Zukunft, die uns erwarten wird, wenn wir die Möglichkeiten von KI-Kunst weiterdenken. Dass die menschengemachte, ausufernde Kunstproduktion, die aktuell das Internet flutet, noch weiter beschleunigt wird, davon ist natürlich auszugehen. Aber wahrscheinlicher ist, dass generative KI uns viel individueller ausgerichtete kulturellen Erfahrungen ermöglicht.

In ein paar Jahren sitzen wir wahrscheinlich abends auf der Couch, und prompten „Hey ChatGPT, ich bin gerade sentimental. Komponier mir bitte ein Lied, das mich an den 3. Dezember vor zwei Jahren erinnert. Aber mach diesmal die Hihat nicht so laut. Achso, und morgen abend hab ich ein Date, also generier doch schonmal eine kurze visuelle Liebesszene, mit Prinz und Prinzessin, realistisch, aber mit so ‘nem Glowfilter. Und verfass mir doch gleich ein Gedicht im Minnesangstil, das ich dazu vortragen kann.“

Eine Vorstellung, so reizvoll wie gespenstisch. Ob so etwas dann noch als Kunst bezeichnet werden kann – das wird man diskutieren, wenn es soweit ist. So, wie das schon immer gemacht wurde. Und natürlich wird es zu dieser Art der sinnlichen Dienstleistung Backlashs geben, in denen Güter mit den Prädikaten „händisch hergestellt“ und „haptisch erfahrbar“ angeboten werden. Die Geschichte hat gezeigt, dass gerade im Kunstbereich technische Neuerungen nie Ersatz, sondern Ergänzung waren. Weder hat die Fotografie die Landschaftsmalerei ersetzt, noch die Schallplatte das Konzert, noch der Film das Theater oder die Serie das Buch.

Viel wichtiger aber ist, dass trotz aller Automatisierung der Kunstproduktion die Inspiration nicht ausbleiben wird. Jede:r echte Künstler:in weiß, was für ein wunderbares, einzigartiges Gefühl es ist, einen Gedanken zu haben, der sich neu anfühlt, aufregend, und der, begleitet von einem unvergleichbaren Endorphinrausch, weitere, darauf aufbauende Gedanken lostritt, die schließlich die Idee formen, wie genau etwas aussehen, klingen oder lauten muss. Inspiriert zu sein, das wird vermutlich jede:r Künstler:in bestätigen, ist das beste Gefühl, das man haben kann. Und vermutlich nehmen deswegen auch so viele Kunstschaffende die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse oder die Missachtung ihrer Werke in Kauf.

Und so wird es auch trotz KI immer diese Menschen geben, die, getrieben von den galoppierenden, inspirierenden Gedanken in ihrem Kopf, an einer Staffelei oder einem Klavier Platz nehmen, ein leeres Dokument öffnen oder die digitale Drum Machine starten. Und dann mit diesem seltsam beseelten, hyperfokussierten Blick dasitzen, kaum ansprechbar, nicht mehr wirklich präsent in der physischen Welt. Und die dann eben Kunst schaffen.

Genau so wie ich, damals mit 12, als ich den Comic gezeichnet habe. Wie jede:r echte Künstler:in.

Beitragsbild erstellt mit OpenAI. Prompt: „K.I., die die Kunst auffrisst“.

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