Liebes Tagebuch,
wir kommen in eine kleine, halbdunkle, über 1400 Jahre alte Kirche, am Eingang verkauft ein Mönch Opferkerzen in unterschiedlichen Preisklassen; ein paar Frauen singen im Hintergrund wunderschön und sauber mehrstimmige orthodoxe Gesänge, ein Geistlicher und ein Lektor psalmodieren dazu vor sich hin, Weihrauch, Bienenwachs, sich bekreuzigend geht ein unablässiger Strom jeder Art von Menschen ein und aus. Dazwischen Touristen, dazwischen wir, und mein erster Gedanke: So etwas ist doch das, woran Leute denken, die uns tradierte und angeblich nicht vollständig reflektierbare kulturelle Identität als den neuen heißen Scheiß verkaufen wollen.
Der Ort ist das Dschwari-Kloster über der alten Hauptstadt Mzcheta, an einer Flussmündung, wo man die verschiedenfarbigen Wässer nebeneinander sieht wie bei Donau, Inn und Ilz, und die Aussicht ist natürlich wieder atemberaubend. Im Tal steht ein Gebäude des georgischen Geheimdienstes, dessen Lamellenfassade ihm die Form einer überdimensionalen mathematischen Skulptur gibt, hinter einer der nagelneuen futuristischen, vollverglasten Polizeistationen. Ich muss an die Ballettprobe gestern denken und daran, wie wenig Volkstanz an diesem Volkstanz ist, genauso wenig, wie Volkslied an deutschen Volksliedern ist, und mitten in der Kirche steht ein Tisch mit einem Berg Opfergaben, darunter eine 2-Liter-Familienflasche Cola, abgepacktes Gebäck, die verschiedensten haltbaren Lebensmittel, alles immer mit einer Wachskerze gekrönt.
Man kann das sehr einfach nehmen. Die Küche (Georgiens Nationalgericht ist übrigens ein Salat, erstaunlich), der Wein, die Kirche, die Gebirgslandschaft, die Schwefelquellen und die Landesgeschichte greifen ineinander, wir sind hier fromme Orthodoxe, langlebige Salatesser und fröhliche Weintrinker, die Frauen schön, die Männer mutig, all das seit Jahrtausenden hier zuhause, vielfach erobert, nie ausgelöscht. Ich muss daran denken, dass ein Außenstehender mit genügend unscharfem Blick vielleicht Baden, Ostthüringen oder Oberbayern genauso sehen könnte. Auf der anderen Seite sind da Übergriffe auf LBGTQ*-Personen und religiöse Minderheiten, die traumatische Erfahrung des Zusammenbruchs nach 1991, als es plötzlich keine Arbeit, keine Heizung und keinen Strom mehr gab, die Kriege (»fünf Kriege in zwanzig Jahren«, sagte uns jemand), die Oligarchen, der klare Wille zu Modernität und zu Befreiung in der jungen Literatur, von der wir hier hören, die uns alle miteinander sagen: Das hier ist keine naturwüchsige Kultur-als-Pflanze, man müsste gewissenlos sein, um es den Deutschen oder irgendwem als Werbung für das zu verkaufen, wovon es sich selbst ganz offensichtlich nicht dominieren lassen will.
Die Stadt Mzcheta hat etwas von Rüdesheim und von Altötting, ein paar Gassen, die nur aus Souvenirständen bestehen, und in der Mitte eine wieder einmal uralte Kirche, die Kathedrale, in der die Könige der Bagratiden-Dynastie begraben liegen. Wieder Wachskerzen, Kopftücher, Fresken, mit dem iPad filmende Fernsehjournalisten. Auf dem Weg zum Essen gehen wir an gepanzerten Fahrzeugen der georgischen Armee vorbei, beklettert von Kindern, es ist Unabhängigkeitstag. Eine 2004 den Tschechen abgekaufte Panzerhaubitze vom Typ DANA hat ihr Rohr (zufällig oder absichtlich?) sehr genau auf das alte Dschwari-Kloster ausgerichtet, das hoch oben aus dem Berg zu wachsen scheint, als wollte jemand damit sagen: Wir können unsere eigene Vergangenheit mit einem Schuss vernichten.
– Das Restaurant in Mzcheta, in dem wir zu Mittag essen, hat den Charakter einer Jagdlodge in einem Luxusresort, ein mit Trinkhörnern und alten Waffen dekorierter neo-folkloristischer Bau in einem Garten aus englischem Rasen und Steinskulpturen, der ein wenig wie eine Parzelle der Bestatterbranche bei einer Landesgartenschau aussieht. Hier gibt es im Zuge eines wieder brachial üppigen Menüs auch das andere Nationalgericht, Chinkali, Teigtaschen, aus denen man der Tradition zufolge die Brühe zuzeln muss, so dass es nicht tropft.
Bei der Rückfahrt brauchen wir gefühlt eine Stunde für einen Kilometer, weil unser Bus in einer Einbahnstraße Gegenverkehr bekommt und sich zurückarbeiten muss. Es ist Unabhängigkeitstag, der 100., die halbe Stadt ist gesperrt. Wir trinken Bier am Pool und tippen, machen bei Hitze und Regen eine Expedition zu einem Supermarkt, um georgischen Brandy und Tee zu kaufen. (Der Hauptexport des Landes vor Wein ist übrigens Altmetall – liegt es daran, dass nach all den Jahren immer noch Schrott aus der Sowjetunion exportiert wird, oder hat, was ich vermutet habe, Georgien aufgrund seiner Lage und der niedrigen Löhne eine informelle Recyclingindustrie?)
Abendessen gibt es in einer Art Chalet über der Stadt. Diesmal gibt es Amphorenwein, scheint mir, die orange Flüssigkeit steht in großen Kannen auf dem Tisch wie auch der Rotwein, der Wein schmeckt harzig und herb, aber er ist so gefährlich süffig wie die anderen Weine, die wir hier zum Essen bekommen haben. Das Huhn schwimmt im Knoblauch, es gibt Käse-Bohnen-Fladen in Filoteig, zu allem Tkemali, eine Sauce aus Alycha, unreifen Kirschpflaumen (das Nationalobst, natürlich; die InstagrammerInnen unter uns sind sich einig, man könnte die Dinger dort problemlos als den neuen Detox- oder Irgendwas-Trend verkaufen und damit groß machen), und irgendwann kommen, gerade zu dem Zeitpunkt, als einige meinen, sie könnten jetzt einfach ein paar Fritten gebrauchen, als eigenständiges Gericht auch noch kleine Teller mit Pommes frites, die das Personal auf die Serviettenspender stellen muss, weil auf dem Tisch selbst kein Platz mehr ist.
Vom Raucherbalkon aus sieht man Klumpen aus Wohnhochhäusern, von denen wir nicht sagen können, ob sie vor oder nach dem Ende der Sowjetunion entstanden sind. Mir gegenüber sitzt die Begründerin der modernen weiblichen Literatur in Georgien, und ich rede mit ihr nur über das Essen, wenn überhaupt. Ich war, liebes Tagebuch, am Ende dieses letzten Abends in Tiflis zu ausgelaugt zum Feiern und habe ein schlechtes Gewissen, nur wenig mit den AutorInnen geredet zu haben. Andere Mitreisende haben ein Interview nach dem anderen geführt, ich habe mich hauptsächlich mit anderen Deutschen unterhalten, wenn ich mich überhaupt unterhalten habe. Immerhin kenne ich jetzt auch einige georgische Sachbücher, die ich vielleicht einmal für 54books rezensieren möchte.
Der Bus zum Flughafen fährt nachts um halb drei! Mit dieser erschreckenden Kunde und den liebsten Grüßen verbleibt
Dein Matthias