von Simon Sahner
Der deutsche Undergroundautor, Übersetzer und Literaturagent Carl Weissner (1940–2012) war kein guter Schriftsteller. Das liegt nicht zuletzt an seinem Anspruch an das eigene literarische Schreiben: „Eigentlich will ich einen permanenten Overload erzeugen, so dass man dauernd angespannt ist und denkt, jeden Augenblick fliegt die Sicherung raus.“ Man merkt Carl Weissners literarischen Texten diese Haltung an. Insbesondere die kurzen Erzählungen der 70er Jahre zeugen in erster Linie vom sprachlichen und inhaltlichen Übermut des Autors, dem alles andere aufgeopfert wird. Die Hauptsache ist, dass es knallt. Da wird „eine Bombe von einem Joint“ geschwenkt, jemand ist „schwul wie die Nacht“, ein anderer „kotzt ins Goldfischglas“ und das allein auf wenigen Seiten.
Hätte Weissner, der heute 80 Jahre alt geworden wäre, nur die wenigen experimentellen Arbeiten mit der Cut-up-Methode aus den späten 60ern (vor allem in Zeitschriften, die fast nur noch in Archiven zu finden sind), ein paar Short Stories in den 70ern und gegen Ende seines Lebens noch drei Bücher bei kleinen Verlagen veröffentlicht, er wäre vermutlich nicht mal eine Fußnote in der deutschen Literatur nach 1945 geblieben. Sein schmales Werk ist von einem literarischen Standpunkt her kaum beeindruckend, auch wenn er als Mitherausgeber im Vorwort der Zeitschrift Gasolin 23 (alle Ausgaben) das eigene Literaturverständnis zum non plus ultra erklärte. Es ist ein häufiges Missverständnis, dass diejenigen, die am lautesten verkünden, die Literatur revolutionieren und von den Fesseln der Konvention befreien zu wollen, auch tatsächlich gute Literat*innen sind. Nicht selten sind es schlicht der Furor, mit dem altes über Bord geworfen wird, die sprachliche und thematische Provokation und die demonstrative Erneuerung, die dafür sorgen, dass Rebell*innen im Literaturbetrieb und dem Feuilleton Aufmerksamkeit bekommen und auch noch Jahrzehnte später bekannte Namen sind. Das ist per se auch nicht verwerflich, der literarische (und literaturhistorische) Mehrwert eines Werkes bemisst sich nicht grundsätzlich an den Wertungsmaßstäben, die Kritiker*innen anlegen. Doch vermutlich hätte bei Carl Weissner nicht einmal der laute Widerstand gegen den Literaturbetrieb ausgereicht, um ihm Nachruhm zu sichern.
Dass er dennoch einen festen Platz in einem bestimmten Bereich des literarischen Feldes in den letzten fünfzig Jahren einnimmt, hat zwei Ursachen: Erstens hat er einen Teil des amerikanischen literarischen Undergrounds und der Beatliteratur als Herausgeber und Mitarbeiter mehrerer Zeitschriften in Deutschland und den USA (Klactoveedsesteen 1965–1967, San Francisco Earthquake 1967/68, UFO 1971/72 und Gasolin 23 1973–1978) publiziert und als erster in einer adäquaten Form übersetzt. Dabei brachte er unter anderem große Teile des Werks von William S. Burroughs ins Deutsche und machte quasi im Alleingang Charles Bukowski in Deutschland bekannt. Zweitens war Weissner vermutlich derjenige im deutschen Literaturbetrieb, dem die amerikanischen Größen der Beat- und Undergroundliteratur am meisten Respekt zollten und den sie am ehesten als einen von ihnen anerkannten. Deswegen umwehte sein Auftreten immer die Aura eines lässigen Amerikaners – ein Umstand, der ihm vermutlich selbst bewusst war und von ihm unterstützt und am Leben erhalten wurde. Weissner inszenierte sich in seinen Texten als Kenner der amerikanischen Szene, als Insider und authentischer Berichterstatter. Unser Mann im amerikanischen Underground sozusagen. Jetzt ist anlässlich seines 80. Geburtstags der Band Aufzeichnungen über Außenseiter mit gesammelten Reportagen und Essays erschienen, die genau das bezeugen wollen. Bereits der erste Satz im ersten Text der Anthologie, Buk Sings His Ass Off, mit dem Weissner Charles Bukowski dem deutschen Lesepublikum 1970 vorstellte, rückt nicht nur den amerikanischen Schriftsteller, sondern allen voran auch Weissner selbst ins Blickfeld:
Ich hatte mit Bukowski schon einige Jahre Kontakt, ich kannte ihn aus unzähligen Briefen, aus seinen Büchern, aus seinen Manuskripten die er mir für Klacto/23 schickte, und als ich ihn im Sommer 1968 zum ersten Mal in Los Angeles besuchte, hatte ich auch die „Bukowski-Legende“ kennengelernt.
Bevor Weissner überhaupt näher auf das eigentliche Thema seines Textes eingeht, erfahren die Leser*innen erst einmal, wie gut er Bukowski kennt; so gut nämlich, dass er Briefe und Manuskripte von ihm bekommt und ihn besucht hat. Auch in Weissners Vorwort zu Bukowskis Gedichtband Gedichte, die einer schrieb bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang steht nicht nur der Dichter, sondern auch sein Übersetzer selbst im Zentrum des Interesses. Im Ton einer Kurzgeschichte erzählt Weissner darin von seiner ersten Begegnung mit Bukowski.
Weissners Essays und Reportagen sind ebenso wie seine kurzen Erzählungen, die oft eher wie faktuale Erlebnisberichte wirken, immer auch demonstrierte Augenzeugenschaft. In seinen Notizen aus anderthalb Jahren in den USA, die sich ebenfalls in der Anthologie finden, stößt man auf große Teile der amerikanischen Gegenkultur der 60er Jahre: Weissner besucht spontan Allen Ginsberg, der in der Nachbarschaft wohnt, schaut auf einer Lesung von Diane Di Prima im Greenwich Village vorbei und geht bei den Dichter*innen auf der Lower East Side von Manhattan ein und aus. In Last Exit to Mannheim aus der ersten Ausgabe von Gasolin 23 geht der Ich-Erzähler, der unverkennbar Weissner selbst ist, mit dem Beat-Verleger Lawrence Ferlinghetti auf eine Party, auf der unter anderem Janis Joplin und Linda Kasabian, ein Mitglied der Manson Family, anwesend sind und fährt dann noch mit Bukowski zu Ferlinghettis Haus, der neben der Band Canned Heat wohnt. In Die Eingeschlossenen von der Lower East Side lebt er mit dem Beat-Dichter Ray Bremser zusammen und in einem Interview mit einer amerikanischen Zeitschrift sagt Weissner über diese Zeit: „I was living in the neighborhood, on the Lower East Side, East 6th and Avenue C, and my roaches were the same as theirs.“[1]
Aus all dem spricht immer auch ein gewisser Stolz darüber, dass viele seiner amerikanischen Vorbilder für ihn zu guten Bekannten und Freund*innen wurden. Ein Grund dafür ist vermutlich, dass Weissner das Stereotyp der amerikanischen Lockerheit mit dem der deutschen Gründlichkeit und Ordnung verband. In seinem Nachlass finden sich ordentlich geführte Notiz- und Adressbücher, unzählige offizielle Korrespondenzen mit deutschen Verlagen, in denen er Angelegenheiten seiner amerikanischen Freund*innen vertrat, detaillierte Übersetzungsmanuskripte mit Anmerkungen und Unterlagen aus fast fünfzig Jahren als Literaturagent, Übersetzer und Herausgeber. Wie sehr diese Akribie und Gründlichkeit auf der anderen Seite des Atlantik geschätzt wurde, davon zeugen etliche Briefe: Jack Kerouacs Tochter Jan bittet ihn um Hilfe, Ray Bremser gibt ihm uneingeschränktes Veröffentlichungsrecht, Allen Ginsberg besteht teilweise allein auf ihn als Übersetzer und Charles Bukowski bittet ihn um Hilfe bei der Steuererklärung und ist prinzipiell davon überzeugt, dass er ohne Weissner nicht überleben würde: „Without Carl I would be dead or near dead or mad or near mad, or driveling into a slop pail somewhere, mouthing gibberish.“[2]
Diese Aussage von Bukowski klingt vielleicht übertrieben, aber man darf nicht unterschätzen, wie viel Weissner für den amerikanischen Dichter nicht nur als enger Freund, sondern auch als Agent in beinahe ganz Europa und Südamerika und vor allem als Übersetzer ins Deutsche getan hat. Bei Weissners Übersetzungsarbeit für Bukowski etwa handelte es sich um ein annähernd symbiotisches Verhältnis zwischen den beiden. Während Weissner durch seine Übersetzungen einen deutschen Bukowski erfand und dem Amerikaner damit in Deutschland größeren Erfolg bescherte als in den USA, sorgte Bukowski mit seinem Werk dafür, dass sich Weissner einen Platz in der Literaturgeschichte sichern konnte. Entscheidend für die Popularität Bukowskis in Deutschland war nicht zuletzt der Umstand, dass Weissner alle Fäden in der Hand hielt und Bukowski ihm gleichzeitig auch freie Hand im Umgang mit seinen Texten ließ. Das führte dazu, dass Weissner eine deutsche Version des Werkes von Bukowski nach eigenen Vorstellungen schaffen konnte, die sich nicht immer ganz mit dem Original deckte, die aber in Deutschland einen außerordentlichen Erfolg hatte und immer noch hat.
Der Duktus der deutschen Übersetzungen durch Weissner erinnert gerade in den frühen Jahren manchmal an das sogenannte Schnodderdeutsch der Synchrondrehbücher von Actionkomödien mit dem Schauspieler-Duo Bud Spencer und Terence Hill, wobei Weissners Bukowski oft wie Terence Hill klingt: „Die Uhr funktionierte noch, der alte Wecker, Gott sei’s gescheppert,“ heißt es da in Weissners Übersetzung, während bei Bukowski lediglich steht „the clock was working, the old alarm clock, god bless it“. Ein anderes Mal fürchtet Bukowskis Erzähler „demands on the soul or anything like that“ von seiner Freundin; statt „Anforderungen an das Seelenleben“ hat er bei Weissner aber Angst vor „Fisimatenten von wegen Seele und so.“
Es sind diese Veränderungen im Tonfall einer fingierten Mündlichkeit, die aus einer lakonischen Erzählstimme einen schnoddrigen Jargon machen, der in den extremsten Fällen den Charakter des Originals eklatant verändert. Charles Bukowskis Erzählerfiguren sind oftmals lakonische, manchmal vulgäre Männer, die angesichts eines Lebens am Rande der Gesellschaft resignieren. Nach einem langen und harten Arbeitstag äußert einer von ihnen: „I got out of what remained of the suit and decided that I’d have to move again.“ Weissner macht aus dieser Resignation angesichts der Lebensumstände eine scheinbar sorglos übermütige Rastlosigkeit: „Ich pellte mich aus dem, was von der Klamotte noch übrig war, und beschloß, daß ich mal wieder die Tapete wechseln musste.“ Doch nicht nur der Tonfall der Erzählstimme verändert sich, sondern auch die Haltung. Nicht, dass Charles Bukowski als feministischer Autor bekannt wäre, eher im Gegenteil, aber aus „some beautiful woman“ auf Deutsch „ein elegantes Flittchen“ zu machen, verstärkt den Sexsimus noch einmal deutlich.
Angesichts dieser Beispiele kann man von einem deutschen Bukowski sprechen. Interessant ist aber, dass viele andere Übersetzungen durch Carl Weissner, beispielsweise von William S. Burroughs‘ Naked Lunch oder Allen Ginsbergs Howl tatsächlich sehr gute Übertragungen sind, die einen deutschen Soziolekt als Äquivalent für die amerikanische Szenesprache des Originals aufweisen und die Wirkung dieser Texte besser in einen anderen Sprach- und Kulturraum versetzen als es andere Übersetzer*innen geschafft haben.
Warum also bei Bukowski dieser überzogen lässige Jargon? Es bleibt Vermutung, aber vieles deutet darauf hin, dass Weissner Bukowski zu nahe war, um ihn ebenso professionell übersetzen zu können, wie er das bei Burroughs und Ginsberg tat. Auch diese beiden kannte Weissner gut, aber das Verhältnis zu Charles Bukowski überragte die unzähligen anderen Freundschaften, die Weissner in die USA pflegte. Die Korrespondenz zwischen den beiden umspannte beinahe drei Jahrzehnte und dutzende Briefe pro Jahr. Die Zuneigung und emotionale Nähe, die darin zum Ausdruck kommen, zeugen von einer engen Verbundenheit, die weit über das professionelle Verhältnis zwischen Übersetzer/Agent und Autor hinausgeht. In Das Ende des Suicide Kid, dem vielleicht besten und sicher persönlichsten Text in Aufzeichnungen über Außenseiter, beschreibt Weissner die Beerdigung Charles Bukowskis, auf der er 1994 selbst einer der Sargträger und Redner war. In diesem und anderen Texten über seinen Freund zeigt sich, wie sehr er Bukowski als Mensch und als Schriftsteller verehrte. Seine Übersetzungen können als Versuch angesehen werden, diesem übermächtigen Autor und Freund gerecht zu werden, einen Ton zu finden, der das transportieren sollte, was Weissner in Bukowski sah: Einen Mann,
der weiß, daß er auf der Kippe steht: jeder Satz kann sein letzter sein, aber der Ton bleibt cool, gelassen, konzentriert; beinahe ereignislose Stories, die mancher nicht für berichtenswert halten würde; entnervende Stories, die mancher andere lieber verdrängen würde […]: alltägliche Stories vom Leben in einer Stadt, die er einmal „die größte bewohnte Ruinenlandschaft der Welt“ genannt hat.
Während sich dieser coole Ton bei Bukowskis aber in Lakonie und Reduktion ausdrückt, wird er bei Weissner zum schnoddrigen Plaudern. Die Lässigkeit, die daraus entsteht, ist eine andere, eine demonstrative Nonchalance, wie man sie eben in den synchronisierten Rollen eines Terence Hill findet. Der amerikanische Charles Bukowski wirkt im Original eher wie die Figuren von Bud Spencer: wortkarg, sarkastisch und manchmal lakonisch.
Vom ökonomischen Standpunkt eines Literaturagenten hat Carl Weissner dann jedoch alles richtig gemacht. Die Romane, Gedichte und Erzählbände Bukowskis haben sich in den Übersetzungen von Weissner mehrere Millionen Mal verkauft. Dass Carl Weissner heute zu seinem 80. Geburtstag, acht Jahre nach seinem Tod, Ehrungen, eine Anthologie, diesen und andere Texte erhält, hängt mit diesen Übersetzungen und den zahllosen anderen zusammen. Ambros Waibel schrieb in einem Nachruf für Weissner, es sei einfacher zu fragen, wen aus der „US-Avantgarde“ er nicht übersetzt und herausgegeben habe – die Übersetzungen reichen von J. G. Ballard bis Frank Zappa. Aber auch seine Vorzeigefunktion als Deutscher unter Amerikanern ist ein Grund für die anhaltende Bekanntheit und zeigt beispielhaft, dass Nachruhm im literarischen Feld nicht immer etwas mit schriftstellerischem Können zu tun hat. Carl Weissner, das war der Amerikanistikstudent in Heidelberg, der von Burroughs in der Heidelberger Altstadt besucht wurde, der für Literaturzeitschriften in den USA arbeitete, der Bukowski Briefe schrieb und mit ihm in seiner Mannheimer Wohnung trank, Weissner war der, den Ginsberg als seinen Übersetzer wollte, der mit Janis Joplin feierte und mit Sean Penn den Sarg von Bukowski trug. Die Texte in der Anthologie Aufzeichnungen über Außenseiter zeigen daher vor allem eines: Es gibt viele Gründe, warum Carl Weissner bekannt und interessant ist, sein literarisches Werk ist nur einer davon, vermutlich der geringste.
Übersetzungen:
[1]„Ich lebte in der gleichen Gegend auf der Lower East Side, Ecke East 6. und Avenue C, und meine Kakerlaken waren dieselben wie ihre.“
[2] „Ohne Carl wäre ich tot oder wenigstens fast; oder verrückt oder jedenfalls beinahe verrückt; oder ich würde in irgendeinem Abwassereimer rumsabbern und unverständliches Zeug labern.“
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