von Gerrit Wustmann
Vor genau drei Jahren, am 31. Oktober 2021, starb Doğan Akhanlı. Genau drei Jahre nach seinem viel zu frühen Tod im Alter von 64 Jahren liegt nun der Roman, den er kurz davor fertiggestellt hatte, in der Übersetzung von Recai Hallac auf Deutsch vor: „Sankofa“.
Würde Doğan noch leben, dann hätten wir inzwischen längst zusammengesessen und über Lesungen gesprochen. Oft haben wir die Bühne geteilt in den knapp zehn Jahren, die wir einander kannten, haben aus seinen Büchern vorgetragen (oder aus meinen – er hat zu einem, „Istanbul Bootleg“, das Vorwort beigesteuert, wofür ich ihm bis heute sehr dankbar bin), über Literatur gesprochen und immer wieder auch über Politik, denn seine Literatur war stets so politisch wie sein Leben, und das obwohl er über Literatur viel lieber sprach, denn die Literatur war seine erste große Liebe, und sie blieb bei ihm bis zum letzten Tag. Diese Liebe zum geschriebenen, zum freien Wort, zu Gedicht und Roman und allem dazwischen, haben wir geteilt.
Aber diesmal wird es anders laufen. Ich werde ohne Doğan auf der Bühne sitzen und aus „Sankofa“ vortragen, werde Doğan meine Stimme leihen und die seine im Ohr haben. Ich weiß, dass ich ihm dabei nicht gerecht werden kann. Aber ich kann es versuchen.
Wenn ich also dieser Tage an Doğan denke, dann denke ich oft zugleich an unsere erste wie an unsere letzte Begegnung. Zum ersten Mal begegneten wir uns 2011. Doğan kam zu meiner Lesung. Ich las Gedichte, auch Gedichte über Istanbul, die in Istanbul entstanden waren, und Doğan saß in der ersten Reihe. Er lächelte. Er hörte sehr aufmerksam zu. Und ich dachte: Was soll ich dir schon erzählen? Es müsste umgekehrt sein, ich müsste deinen Worten lauschen, nicht du meinen.
Doğan war gerade erst wieder aus dem Gefängnis raus. Im August 2010 war er, obwohl seit 1999 ausgebürgert, in die Türkei gereist, um seinen todkranken Vater ein letztes Mal zu sehen. Doch dazu kam es nicht mehr. Er wurde umgehend inhaftiert. „Es war August. Es war heiß. Und die grüne Einsamkeit des Bosporus ließ nicht nur meine Haut, sondern auch mein Herz frieren“, schrieb er drei Jahre später in dem bereits erwähnten Vorwort, in dem er diese Ankunft, diese Verhaftung, diese Eiseskälte mitten im August noch einmal rekapitulierte. Vier Monate hielt man ihn fest. „Zwölf Tage vor meiner Freilassung blieb das Herz meines Vaters stehen. Zwölf Tage lang schäumte ich vor Wut. Nicht nur mein Geburtsland, auch die Sprache dieses Landes habe ich erbrochen.“ Und dennoch schrieb er in dieser Sprache weiterhin seine Texte. Das war seine Rache. Aber das werden die, die ihn sein Leben lang verfolgt haben, wohl nie begreifen. Denn das sind Menschen, die keine Bücher lesen, sondern Bücher verbrennen.
Zum ersten Mal wurde er 1975 für zwei Monate inhaftiert, nachdem er eine linke Zeitschrift gekauft hatte. Sowas genügte damals. 1985 wurde er unter konstruierten Vorwürfen erneut angeklagt, man inhaftierte ihn für mehr als zwei Jahre, folterte ihn, und auch nach der Haft und, obwohl die Vorwürfe längst widerlegt waren, gingen die Repressionen weiter. Anfang der Neunziger floh er nach Deutschland, nach Köln, wenige Jahre später entzog ihm die Türkei die Staatsbürgerschaft. Zum Schriftsteller wurde er, der Geschichte und Pädagogik studiert hatte, erst im Exil. Mit seinem Roman „Die Richter des jüngsten Gerichts“ thematisierte er als erster türkischer Autor überhaupt den in der Türkei bis heute geleugneten und totgeschwiegenen Genozid an den Armeniern. Als Geburtslüge der türkischen Republik hat Doğan das mal sinngemäß bezeichnet. Die völkisch-nationalistische Ideologie dahinter herrscht in dem Land bis heute und steht jedem demokratischen Fortschritt im Weg.
Erst wurde Doğan verfolgt, weil er unbequem war, ein Linker, später dann wegen seiner Bücher (die übrigens in der Türkei frei verkauft werden dürfen, dort werden weniger die Texte zensiert als vielmehr deren Autoren eingeschüchtert und bedroht). Weil er sich stets stark machte für die Freiheit des Wortes und gegen jede Geschichtsklitterung. Gegen Rassismus und Antisemitismus, gegen Islamismus und Repression. Doğan war einer jener Schriftsteller, die nicht nur sprachliche und stilistische Glanzleistungen erbracht und lesenswerte Geschichten erzählt haben, sondern auch bei jeder Gelegenheit den Finger in politische und gesellschaftliche Wunden legte.
Schriftsteller wie Doğan Akhanlı sind für Despoten gefährlich, weil ihre Werke und Stimmen das Fundament jeder demokratischen Idee sind. Deshalb geraten sie auch stets als erste ins Schussfeld, wenn Staaten ins Autoritäre und Antidemokratische kippen. Weshalb er auch bis zum Schluss nicht in Ruhe gelassen wurde. Anfeindungen und Hetzkampagnen in türkischen Medien oder von türkischen Nationalisten und Rechtsextremisten flammten immer wieder auf, auch in Deutschland, wo diese Leute und ihre eng mit dem türkischen Staat verwobenen Verbände leider geduldet werden.
2017 wurde er aufgrund einer von der Türkei initiierten Interpol-Fahndung im Urlaub in Spanien abermals festgenommen. Weil Freunde und Kollegen und Politiker bis hin zum damaligen Außenminister Sigmar Gabriel umgehend intervenierten, wurde er rasch freigelassen, blieb aber bis zur endgültigen Klärung in Spanien. Er nutzte die Zeit, um sein Buch „Verhaftung in Granada“ zu schreiben, einen langen autobiografischen Essay. Alles, was die türkischen Behörden mit dem erneuten Versuch, ihn mundtot zu machen, erreichten, war, dass seine Bücher wochenlang ausverkauft waren und er ein Interview nach dem anderen gab. Und ein neues Buch schrieb. Aber ich glaube, selbst da haben sie es nicht begriffen. Wohl auch, weil es ja durchaus Schriftsteller und Künstler gibt, die sich von so einer permanenten Willkürbedrohung einschüchtern lassen und schließlich einknicken. Aber mit Doğan hatten sie sich mit dem falschen angelegt. Er ließ ihnen kein noch so kleines Stück Genugtuung. Als er nach der Inhaftierung zum ersten Mal vor die Kameras trat, lächelte er, als wollte er sagen: Ich bin hier, was kümmern mich diese Leute, die es nötig haben, einen wie mich zu drangsalieren?
Am Schluss dieser Lesung im Jahr 2011 stand Doğan auf, trat auf mich zu, umarmte mich und sagte: Danke! Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe, vermutlich erstmal gar nichts, wahrscheinlich war ich nur sprachlos. Aber danach kamen wir ins Gespräch. Und ziemlich genau zehn Jahre später, mitten in der Pandemie, wollten wir im September 2021 im Kölner NS-Dokumentationszentrum unsere im Vorjahr aufgrund des Lockdowns ausgefallene Lesung aus seinem an Sabahattin Ali angelehnten Roman „Madonnas letzter Traum“ endlich nachholen (die letzte gemeinsame Lesung, die nicht im Rahmen von Zoom oder Teams stattfand, war unmittelbar vor dem Corona-Ausbruch in Köln-Ehrenfeld gewesen, und wir sehnten uns bereits danach, mal wieder vor einem richtigen Publikum zu stehen). Wir hatten, nicht zuletzt aufgrund der pandemiebedingten Distanz und weil er in Berlin und ich in Köln war, zu jener Zeit nur selten Kontakt, aber ich wusste, dass er im Krankenhaus war, war mir aber nicht über die Ernsthaftigkeit seiner Erkrankung bewusst oder verdrängte es, weil ich mir eine Welt ohne Doğan weder vorstellen konnte noch wollte. Jedenfalls rief ich ihn im August an, um schonmal über die anstehende Lesung zu sprechen, doch er sagte sofort und ohne Umschweife: „Ich komme nicht mehr nach Köln. Ich werde sterben.“
Man hört oft diese Wendung, etwas ziehe einem den Boden unter den Füßen weg. Als Doğan diese wenigen Worte sagte, spürte ich, was damit gemeint ist. Und das Gefühl wiederholte sich, als ich knapp fünf Wochen später von einer gemeinsamen Freundin erfuhr, dass er gestorben war. Ich ging weder zur Aufbahrung noch zur Beerdigung, sondern saß in jenen Tagen stattdessen in meiner Wohnung und las in Doğans Büchern. Weil mir das half, es besser zu verarbeiten? Oder weil ich es verdrängen wollte? Das weiß ich bis heute nicht.
Was ich weiß ist, dass ich bis heute regelmäßig in Doğans Büchern lese, wenn mir seine Stimme fehlt. Seinen finalen Roman „Sankofa“ habe ich inzwischen zweimal gelesen. Zum ersten Mal im Frühjahr, als ich vom Verlag vorab die Übersetzung bekam, und dann nochmal im Oktober, als das Buch endlich erschien.
Der Sankofa ist ein mythischer Vogel aus Ghana, der im Flug stets nach hinten blickt. In der Betrachtung der Vergangenheit sieht er die Zukunft. Der Sankofa könnte das Motto für alle von Doğans Büchern und anderen Werken sein. Was immer er schrieb, stand im Bewusstsein kultureller und historischer Bildung. Wer das Gestern nicht kennt und nicht versteht, kann weder das Heute verstehen noch die Gefahren sehen, die im Morgen drohen. Die heutige Türkei kann man nicht verstehen ohne etwas über das Ende der Osmanen, über die Jungtürken und über den Armeniergenozid zu wissen, genau so wenig wie man das heutige Deutschland verstehen kann, wenn man nichts über seine Geschichte und insbesondere die Zeit des Naziregimes, des Holocaust und dessen Nachwirkungen auf die folgenden Jahrzehnte weiß. Alles, was geschieht, hat historische Wurzeln. Geschichte und Gesellschaft stehen nie in luftleeren Räumen.
Der Roman „Sankofa“ beginnt mit dem namenlosen Protagonisten, der stets nur ‚Oberleutnant‘ genannt wird, wie er in seiner Kölner Wohnung sitzt und Fotos sortiert in Vorbereitung seiner Ausstellung, die ebenfalls ‚Sankofa‘ heißen soll. Dieser Oberleutnant lebt längst sein zweites Leben, eigentlich schon sein drittes. Die letzten dreißig Jahre ist er als Pressefotograf von Kriegs- zu Krisengebiet gereist und hat all die menschlichen Gräuel des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts dokumentiert. Stets an seiner Seite: Seine deutsche Frau, die Journalistin Lisa. Vor diesem neuen Leben war er Oberleutnant in Anatolien, und sein letzter Auftrag war es, den entflohenen Todestrakt-Häftling Tayfun Kara zu finden und in die Haftanstalt zurückzubringen. Tayfun Kara, ein Linker, hat sich für Arbeiterrechte stark gemacht und gemeinsam mit einem Freund Theaterstücke inszeniert, doch nach dem Militärputsch von 1980 gerät er in die Mühlen der Willkürjustiz (und nein, das ist keineswegs die einzige Gemeinsamkeit, die Kara mit seinem Autor hat).
Bis ihm 1987 gemeinsam mit sieben anderen Häftlingen eine spektakuläre Flucht gelingt, schreibt er täglich Briefe an seine Frau Gülsen. Und der Oberleutnant liest sie, alle knapp 2400 Briefe. Und über die Lektüre gibt er seinen Beruf auf und geht nach Deutschland, nach Köln. Ohne zu wissen, dass auch Tayfun Kara dort inzwischen lebt. Es soll fünfundzwanzig Jahre dauern, bis er Kara während einer Demonstration vor dem Dom in der Menge erblickt und wiedererkennt. Doch da ist es schon fast zu spät, denn Tayfun Kara wird nicht mehr lange unter den Lebenden weilen. Und es sind flüchtige, oft zufällige Begegnungen, Kreuzungen von Lebenswegen so willkürlich wie die Machtjustiz despotischer Staaten, aus denen Doğan seine Geschichten zieht. Er wechselt zwischen seinen Figuren hin und her, und einige dieser flüchtigen Begegnungen stoßen neue Geschichten an, Lebenswege verschränken sich ineinander wie die Finger von Liebenden oder die Schwerter von Feinden. Als Bindeglied nutzt er Lisas Reportage über den NSU-Prozess in München, der zugleich zu einer Anklage wird – einer Anklage an das Desinteresse der Deutschen an den Menschen, mit denen sie Tür an Tür leben ebenso wie zu einer Anklage der Blindheit dem alltäglichen mörderischen Rassismus gegenüber ebenso wie einer Anklage gegen eine Justiz, die ganz offensichtlich nicht gewillt ist, den NSU-Terror wirklich aufzuklären, insbesondere die Verwicklung des Verfassungsschutzes, der bekanntlich bis heute so tut, als hätte er mit all dem nichts zu tun gehabt, obwohl das so schmerzhaft offensichtlich nicht stimmt.
All das macht nur einen kleinen Teil des Romans aus, seinen Kern, seinen roten Faden. Zwischendrin lernen wir eine Frau kennen, die aus einer fundamentalistisch-islamischen Familie und der Hölle einer Zwangsehe flieht und unter den Fittichen von Tayfun und Gülsen landet und ihrerseits ein neues Leben beginnt; wir begegnen dem Regisseur Kunduz Akar, der sich für sein hochpolitisches Theater aufopfert und wir lernen Saxarat kennen, der mitten im Jahr 2015, als so viele Menschen nach Deutschland flüchten, den umgekehrten Weg einschlägt und zu Fuß von Köln in sein Heimatdorf geht, was wiederum der Oberleutnant fotografisch festhält; und wir begegnen May, der Tochter von Kunduz, die Schauspielerin ist und mit einem alternden Regisseur, dem sie viel zu verdanken hat, das Leben ihres Vaters inszenieren möchte, während zugleich ihr Lebensgefährte Tom in Alabama auf der Suche nach seiner leiblichen Mutter ist, als gerade die Black-Lives-Matter-Demonstrationen das Land und die Welt aufrütteln.
Doğan erzählt von echten Menschen, von komplexen Charakteren, die zum Spielball von Politik und Geschichte werden, die Grauenhaftes durchleben müssen und dabei eine Gemeinsamkeit, einen gemeinsamen Nenner haben, der sie trotz aller Unterschiede eint: Sie bewahren sich ihre Menschlichkeit. Sie lassen sich nicht zerstören und nicht von Wut und Hass mitreißen. Und so ist am Ende auch „Sankofa“ wieder ein Roman, der Hoffnung aufblitzen lässt vor dem Hintergrund kaum zu ertragender Verwerfungen. Und das ist es, was Doğan selbst stets ausgemacht hat: Die Hoffnung nicht zu verlieren, einfach im richtigen Moment zu lächeln, um den Despoten dieser Welt klarzumachen: Am Ende werdet ihr verlieren.
Und bei Doğan war das keine Pose. Er war wirklich so: einer der herzlichsten, intelligentesten und liebenswürdigsten Menschen, die mir je begegnet sind, und ich bin auf ewig dankbar, ihm begegnet zu sein, dass wir einander über den Weg gelaufen sind, als wären wir Figuren in einem seiner Bücher, und dass daraus mehr als einmal etwas Wunderbares entstanden ist, etwas, das Hoffnung stiftet. Und sei es nur eines unserer vielen Gespräche über Literatur.
Foto von Michael Behrens auf Unsplash