Der Promi-Thriller als Wunscherfüllung – Hendrik Streecks Prosadebüt „Das Institut“

von Angela Heider-Willms

Vince Brickle ist Detektiv in Boston und einem mysteriösen Killervirus auf der Spur. Vince Brickle verträgt keinen Kaffee, wohnt über einem Nagelstudio und weiß nicht viel über Wissenschaft. Vince Brickle, das ist der Protagonist des Thrillers “Das Institut”, erschienen 2025 im Piper-Verlag und geschrieben von Hendrik Streeck. Der Leiter des virologischen Instituts in Bonn wurde in den ersten Jahren der Coronapandemie vor allem durch die umstrittene COVID-19-Case-Cluster-Study oder auch “Heinsberg-Studie” bekannt und ist seit Kurzem Beauftragter für Sucht- und Drogenfragen der deutschen Bundesregierung. Und mit Vince Brickle hat er das geschaffen, was ich aus der Fanfiction als “Self-Insert” kenne.

Gelernt habe ich diesen Begriff in den Online-Fanspaces der frühen 2000er. Diese Ära wird manchmal als die Zeit des freien Netzes voller kreativer Entfaltung verklärt. Für mich und viele andere, geboren in den 1980er Jahren und vor der Verbreitung des Internets groß geworden, war es die Tür in eine völlig neue Welt, in der jedes noch so obskure Interesse seinen Platz zum Austausch hatte. Und es war auch die Zeit des Internets, das noch nicht von Social Media, Clickbait, Werbung und Monetarisierung dominiert war. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es kaum Moderation oder Begleitung gab und Altersbeschränkung schon gar nicht. Wer ins Netz hineinstolperte, tat dies meist unbedarft und ohne Anleitung. Alles war erlaubt, und so musste auch mit allem gerechnet werden. Die ungeschriebenen Regeln der bestehenden Subkulturen lernten Newbies oft auf die harte Tour. 

Das Wort “Fanfiction” begegnete mir 2001 das erste Mal, obwohl das Schreiben von Fangeschichten so alt wie die Geschichte des Romans ist. Schon zu den Zeiten von Arthur Conan Doyle und Jane Austen gab es unautorisierte Adaptionen von Fans. Trekkies schickten sich ihre Geschichten über Kirk und Spock in den 1970er Jahren gegenseitig per Post zu. Im Internet genügt heute ein Klick, um sie einem weltweiten Publikum vorzustellen. Portale wie Archive of our Own und Wattpad haben Millionen von Usern und besonders beliebte Fanfictions waren der erste Schritt manch einer erfolgreichen Autor*innenkarriere. Die Romanserien “The Mortal Instruments” von Cassandra Clare und “Fifty Shades of Grey” von E. L. James, beide inzwischen auch von Hollywood verfilmt, fingen als Fanfictions an, auch wenn die Autorinnen sich schnell bemühten, diese digitalen Spuren zu verwischen.

Literatur zweiter Klasse

Denn auf Fanfiction als Genre wird oft herabgesehen, manche Kritik geht so weit, sie als geistigen Diebstahl zu bezeichnen. Dabei ist die kreative Auseinandersetzung mit existierenden Werken eine gängige literarische Praxis. John Milton ließ in “Paradise Lost” den biblischen gefallenen Engel Lucifer zu Wort kommen. Tom Stoppards Theaterstück “Rosenkrantz and Guildenstern are dead” ist die Geschichte zweier Nebenfiguren aus Shakespeares “Hamlet”. Es liegt wohl nicht an der angeblich mangelnden Originalität, dass Fanfictions literarisch nicht ernstgenommen werden, sondern vielleicht eher daran wo und von wem sie veröffentlicht werden: Eine Umfrage unter über 16.000 User*innen von Archive of our Own ergab 2024 ein Durchschnittsalter von 26 Jahren. Über 81 Prozent der Befragten zählten sich zur LGBTQ+-Community, rund 58 Prozent gaben ihr Geschlecht als weiblich an. 

Ein weiterer Grund für den schlechten Ruf von Fanfictions ist das Fehlen von Qualitätskontrolle. Alle können sie veröffentlichen, unabhängig von Schreiberfahrung oder -talent. Zum guten Ton gehört ein Lektorat von freiwilligen “beta readers”, verpflichtend ist es jedoch nicht. Von den Millionen an Geschichten sind viele unbeholfen, zuweilen kaum lesbar und unfreiwillig komisch. 

Gerade in den Anfangszeiten von Plattformen wie dem 1998 gegründeten Fanfiction.net gab es ganze Communities, die sich über diese “Badfics” lustig machten. Die vor Sarkasmus triefenden Verrisse wurden in englischsprachigen Fanspaces “Sporkings” oder “MSTs” genannt. Eine Spork ist ein Löffel (spoon) mit Zinken einer Gabel (fork). Die entsprechende Badfic zu lesen soll damit als ähnlich schmerzhaft bezeichnet werden, wie sich mit einem solchen Essbesteck in die Augen zu stechen. MST steht für die Serie “Mystery Science Theatre 3000”. Hier livekommentieren der Astronaut Mike und die Roboter Tom und Crow, sichtbar als Silhouetten in einem Kinosaal, B-Movies satirisch. 

Die Entstehung der Mary Sue

Auch ich habe damals einige solcher Verrisse geschrieben – inzwischen würde ich das nicht mehr tun. Erste schriftstellerische Gehversuche dürfen ungelenk sein und sollten von Spott verschont bleiben. Wo, wenn nicht im Internet, kann man sich schließlich ausprobieren und verbessern? Gerade junge Anfänger*innen kann man durch diese Art von Verriss sehr effektiv aus dem Hobby vergraulen. Doch damals boten diese Geschichten ein leichtes Ziel – insbesondere wenn sich deren Autor*innen sich die eine unverzeihliche Todsünde leisteten: Die Erschaffung einer Mary Sue. 

Der Name stammt aus einer Parodie in einem Star-Trek-Fanzine von 1973, die sich über eine bestimmte Art von Fanfiction lustig machte. Deren Protagonist*innen zeichnen sichdurch allumfassende Perfektion aus und sind allen anderen Figuren in der Geschichte in jeglicher Hinsicht überlegen. Diese anderen Figuren sind nur dazu da, Mary Sue und ihr später erfundenes Pendant Gary Stu zu bestaunen, sich in sie zu verlieben oder zumindest ihre besten Freund*innen zu werden. Haben Mary oder Gary zudem auch noch Ähnlichkeiten mit ihren Erschaffer*innen, wie zum Beispiel das Alter, ist das Self-Insert geschaffen, die fiktionale Erfüllung aller Fanträume, ohne alle lästigen Makel der Realität. Literatur wird zum Schutzraum hemmungsloser Selbstinszenierung.

Ein Virologe spielt Detektiv

Und hier sind wir wieder bei Detektiv Vince Brickle. Der Vorwurf des Self-Inserts käme vielleicht gar nicht erst auf, würde ihn die Figur nicht wiederholt selbst abstreiten. Brickle, erschaffen vom Virologen Streeck, ermittelt im Mordfall einer Virologin, findet wissenschaftliche Texte in ihrer Wohnung, spricht in einem virologischen Institut mit wissenschaftlichem Fachpersonal. Seine Reaktion ist grundsätzlich völliges Unverständnis. Vom “Fachchinesisch” versteht er “nur Bahnhof”, er zuckt die Schultern, lässt ganze Stapel an Beweismitteln liegen, weil sie etwas mit Wissenschaft zu tun haben. Brickle weiß so wenig, dass er in einer Unterhaltung ungläubig gefragt wird: “Ach, kommen Sie! Ein Atom kennen Sie aber, oder?” Das vielleicht – aber von Virologie versteht Vince Brickle nun einmal nichts. Das wiederholt festzuhalten, darauf legt der Autor großen Wert, wie ein Kind, das noch mit den Fingern im Bonbonglas sein Interesse an Süßigkeiten abstreitet.

In dem Roman “Das Institut” geht es aber nun mal um Viren und so führt Brickles Unwissen irgendwann in eine narrative Sackgasse. Heraus manövriert Streeck die Lesenden durch einen Perspektivwechsel. Der junge deutsche Wissenschaftler Frank Munters freundet sich mit Brickle im Lauf der Ermittlungen an und wird zum zweiten Protagonisten und Erzähler. Die personifizierte Wunscherfüllung, Detektiv zu spielen, wird so mit einer Figur ergänzt, die neben den Charakteristiken auch die Kompetenzen und weitere Eigenschaften des Autors mitbringt: Munters ist in der Nähe von Köln aufgewachsen, hat in Süddeutschland studiert und seinen Postdoc in Boston gemacht. Streeck promovierte in Bonn (in der Nähe von Köln) und ging als Postdoktorand zur Harvard Medical School in Boston.

Anders als Vince darf Frank mit virologischem Fachwissen glänzen, und das gleich seitenweise. Beide Figuren finden sich zudem auch noch äußerst sympathisch. Wie Narziss blicken sie in das eigene Spiegelbild und finden Gefallen an dem, was sie sehen: “Ich mag Frank. Auch wenn er manchmal etwas kauzig ist. Oft kommentiert er banale Alltäglichkeiten mit einer analytischen Objektivität, die eine unbeabsichtigte Situationskomik in sich birgt.”

Zweierlei Maß

Ist es verwerflich, sich selbst in einen Roman zu schreiben und das gleich zweimal? Streeck ist hier in der guten Gesellschaft einer Tradition des autobiografischen Schreibens. Ein Self Insert macht ein Werk nicht grundsätzlich schlecht, auch wenn diese Charaktere manchmal nicht die beliebtesten sind. Es kommt auch in diesem Fall darauf an, wie es gemacht ist, und ob das autofikionale Spiel irgendwann in offene Eigenliebe eskaliert. Geschieht das, wird es für die Leserschaft schnell unangenehm.

Horrorautor Stephen King machte häufig Schriftsteller, oft mit Alkoholproblemen, zu Helden seiner erfolgreichsten Romane wie “The Shining”. Doch als er sich in “The Dark Tower” selbst als zentrale Figur auftreten lässt, deren Beseitigung durch einen tatsächlich vorgefallenen Autounfall von dunklen Mächten orchestriert wird, hat das schon etwas arg Selbstgefälliges. Und auch das Star-Trek-Universum hat sein eigenes Self Insert. Der junge Fähnrich Wesley Crusher, ein überdurchschnittlich intelligentes Wunderkind, trug den Zweitnamen von Star-Trek-Erfinder Gene Roddenberry und war so verhasst bei Fans, dass sein Darsteller Wil Wheaton Jahre darunter zu leiden hatte. 

Kapitel wie Matrjoschkapuppen

Nun ist Vince Brickle als Self Insert leider längst nicht das einzige Problem, das der 432 Seiten starke Thriller des Prosadebütanten Streeck aufweist. Die Abenteuer des Vince Brickle erinnern an einen Groschenroman, wie er einst an der Supermarktkasse verkauft wurde. Warum das Buch nicht einmal die Kriterien einer Detektivgeschichte erfüllt und über die Problematik des darin vermittelten Bildes von wissenschaftlicher Arbeit habe ich gemeinsam mit Lennart Rettler ausführlicher in einer Podcastfolge gesprochen, die hier nachgehört werden kann. Um das Positive hervorzuheben: Die eigenen schriftstellerischen Fähigkeiten stehen nach der Lektüre von “Das Institut” gleich in einem besseren Licht da. Dort kann man Sätze lesen wie: “Ihre Bäckchen waren dauerhaft gerötet, und ihre Augen wurden von den Bäckchen zu kleinen Schlitzen nach oben gedrückt.” 


Das Zitat ist auch keinesfalls ein stilistischer Ausrutscher. Es ist schwierig, fast unmöglich zu beschreiben, wie unlesbar der Roman ist. Mein Mitrezensent Lennart drückte es so aus: “Den Gedanken Vince Brickles zu folgen ist etwa so angenehm, wie ein Stück Holz zu verzehren.” Der ganze Aufbau des Romans sorgt für eine frustrierende Leseerfahrung. Ein Beispiel ist das, was ich im Podcast die Matrjoschka-Kapitel nenne, verschachtelt wie die russischen Spielzeugpüppchen. Zwei Figuren gehen in einen Dialog, der aber eigentlich ein Monolog ist, in dem wiederum Dialog eingebaut ist. Hier ist Frank, der Vince erzählt, wie er das Mordopfer Donna kennengelernt hat.

“Ich war mir nicht sicher, ob ich Donna nun attraktiv fand oder nicht. Eigentlich war sie nicht mein Typ, aber irgendwas reizte mich an ihr. Während ich sie so musterte, lächelte sie mich an und sagte: ›Hi, Frank, ich bin Donna. Willkommen an Bord !‹

›Hi Donna‹, grüßte ich sie etwas schüchtern.”

Das Ganze erstreckt sich – mit wenigen Zwischenfragen des “jungen Columbo”, wie Frank Vince beschreibt – über eine Zeichenzahl, die etwa den Umfang dieses Artikels hat. Und es ist bei Weitem nicht das letzte Mal. Dagegen sind die unfreiwillig komischen Einblicke in Vince Brickles Persönlichkeit (“Ich habe einmal ein Video auf YouTube gesehen, wo jemand sich einen großen Pickel ausgequetscht hat”) und Franks wiederholt absurd lange Aufzählungen (“Zur Familie der Beuteltiere zählen neben den Koalas und Kängurus auch das Opossum, Mausopossum, der Tasmanische Teufel, Beutelwölfe und einige andere.”) sogar noch unterhaltsam. Ärgerlich sind platte rassistische und sexistische Klischees und in den Raum gestellte Verschwörungstheorien.

Würde es sich bei “Das Institut” um eine Fanfiction oder einen selbstpublizierten Roman handeln, könnte man dies als erste, stolpernde Versuche eines ambitionierten Hobbyautors abtun. Das Buch wurde allerdings von einem renommierten Verlag ins Programm genommen, prominent in den Auslagen Bonner Buchhandlungen platziert und landete auf der Spiegel-Bestsellerliste. Auf der Litcologne las es Jan-Josef Liefers vor. Inzwischen gibt es eine neuneinhalbstündige Hörbuchversion. Ein Film oder eine Serie ist zwar noch nicht angekündigt, aber angesichts dieser Publicity und zahlreichen wohlwollenden Kritiken nicht unrealistisch. 

“Hendrik Streeck – so gut ist sein Thriller” heißt es im Bonner General-Anzeiger. “Unangenehm plausibel” schreibt die Süddeutsche Zeitung, die Welt am Sonntag zeigt sich Streeck gegenüber gar “dankbar”. Bis ich auf Zeit Online die Kritik von Ronja Wirts las, die ebenfalls die endlosen Monologe und flachen Charakteren des Buchs bemängelte, fragte ich mich, ob die Kolleginnen und Kollegen vielleicht ein anderes Rezensionsexemplar bekommen haben als ich. Auch der künstlerische Wert und die handwerkliche Qualität von Büchern und Filmen wie “Fifty Shades of Grey” können sicherlich diskutiert werden. Aber ihre zuvor völlig unbekannten Autor*innen haben sich immerhin erst ein Publikum erschrieben und so auf sich aufmerksam gemacht. Bei “Das Institut” scheint der Name auf dem Buchdeckel mehr zu zählen, als das, was sich dahinter befindet. 

Immerhin: Auf Archive of our Own gibt es aktuell über 15 Millionen Fanfictions, doch die Textsuche nach “Vince Brickle” ist ergebnislos. Manches kann auch ein berühmter Name nicht erzwingen.

Foto von CDC auf Unsplash

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