Liebes Tagebuch,
was soll ich, der von sehr geringem belletristischem Verstand ist, dir über eine Pressereise für Literaturblogger nach Tiflis schreiben? Gut, dass wir gar nicht so viel Belletristik-Content hatten, nämlich zuvörderst ein literaturgeschichtliches Langreferat des großartigen Davit Gabunia, der uns die wichtigsten historischen Dichterfürsten und aktuellen Autorinnen (und auch ein paar Autoren) der georgischen Literatur vorstellte. Aus seiner Darstellung habe ich vor allem mitgenommen, dass ich bei Gelegenheit einmal Aka Mortschiladses Santa Esperanza lesen möchte, einen nichtlinearen phantastischen Roman über ein fiktives Archipel im Schwarzen Meer.
Nach dem Einführungsvortrag im Goethe-Institut (früheres Konsulat des Deutschen Reichs) sahen wir auch das alte Hauptgebäude der Nationalbibliothek (früheres Bankgebäude im österreichischen Ringstraßenstil) und konnten dort verschiedene internationale Lesesäle besichtigen. Das Magazin mit den vier Millionen Bänden georgischer Literatur ist wohl anderswo untergebracht, ich darf aber beglückt berichten, dass es in Tiflis offensichtlich mindestens ein gutes deutschsprachiges Metaphysik-Handbuch gibt. Es gibt übrigens viele politische Parallelen zu Estland (ich war 2012 mal zehn Tage in Tallinn), z.B. auch, dass man das Land als seit dem Ersten Weltkrieg unabhängig betrachtet und die Sowjetzeit als Besatzung ansieht. Wir werden am Sonnabend, wenn ich das Programm recht erinnere, die Feierlichkeiten zum 100. Unabhängigkeitstag erleben. Eine recht rigide Sprachpolitik erinnert an Québec: Ähnlich, wie dort keine englischsprachige Inschrift ohne eine deutlich größere französischsprachige stehen darf, müssen hier öffentliche Schilder und Logos immer auch in georgischen Buchstaben gehalten sein, weswegen H&M hier ein riesiges georgisches Logo hat; das uns bekannte findet sich deutlich kleiner darunter.
Tiflis ist eine ungeheuer sympathische Stadt, relativ ruhig und dezent beleuchtet, in einem Talkessel mit wahnsinnigen Aussichten, mit einem gewaltigen kulturellen Erbe, aber auch einer Ader für radikal moderne Architektur, die befremdlich anmutet, wenn man aus Deutschland anreist, und zu der ich sowohl online als auch unter den Mitreisenden sehr unterschiedliche Meinungen gehört habe. Es gibt eine Oberstadt mit Gassengewirr, vielen Treppenstraßen, historischen Kirchen und einer Festung drüber, sogar eine schief gepflasterte steile Straße, die linksrum hochführt – als alter Marburger fühlt man sich da sofort zuhause. Wir haben bei einer langen und kompetenten Stadtführung viel gesehen, und ca. 20 Katzensichtungen durfte ich auch verbuchen. Allen Vorurteilen zum Trotz findet man nicht an jeder Ecke ein schnelles freies WLAN, aber immer mal wieder gibt es eins – mehr, als man von vielen deutschen Städten sagen kann (das Jenaer Stadt-WLAN z.B. kriege ich auf einem iPhone einfach nicht ans Laufen, sorry, aber ich sage nur wie es ist, liebe Jenaer Stadt-IT).
Unser Stadtführer, Abo Iaschagaschwili, ist Bergführer und erfolgreicher Schriftsteller – selbst erfolgreiche Schriftsteller brauchen bei einem so kleinen Büchermarkt (das Land hat eine Bevölkerung von ca. 4,5 Mio.) immer einen Hauptberuf, haben wir mehrfach gehört. In den letzten vier Jahren hat die georgische Literaturszene und der Büchermarkt einen kleinen Boom oder zumindest einen großen Anschub dadurch erlebt, dass der Gastlandstatus bei der Buchmesse seinen Schatten voraus warf – man macht sich als naiver Deutscher gar keine Gedanken darüber, welche Bedeutung dieses Ereignis offenbar haben kann.
Das georgische Essen ist exzellent trotz oder gerade wegen großen Koriandereinsatzes und hat, wie auch das Sichbegrüßen mit Küsschen und die Weinkultur, etwas geradezu Französisches: Zu Mittag gab es Brot mit unterschiedlichen Dips, verschiedene hervorragende Salate, eine Hühnersuppe mit enorm viel Fleischeinlage, Gemüseschmorgerichte mit und ohne Fleisch, zu Abend ein gewaltiges Buffet mit u.a. dem salzigsten Käse der Welt, verschiedenen Quiches und Patés usw. Das Brot wird tandoorimäßig frisch gebacken, indem man Teig an die Wand eines großen heißen Tongefäßes klatscht. Man hat den Eindruck, dass das Land, sofern man nicht arm ist, was Lebensstil angeht, so schnell hinter keinem zurückstecken muss. Zu den sicherlich umstritteneren gastronomischen Innovationen gehört der eisgekühlte Minzkaffee – ich persönlich finde den gut, ich bin aber auch ganz allgemein ein großer Freund der Minze.
Zum guten Schluss noch eins: Es gibt unter Forenbros, aber auch unter gestandenen deutschen (v.a. männlichen) Kulturbetrieblern den stabilen Mythos, dass außerhalb Deutschlands, vor allem aber in der ehemaligen Sowjetunion und in Sonderheit in Georgien, die Frauen, auch und insbesondere die Akademikerinnen und die erfolgreich berufstätigen, sich in besonderer Weise »ihre Weiblichkeit bewahrt« hätten, d.h. unter allen Umständen und immer (und natürlich nur aus freier Entscheidung und für sich) geschminkt, hochhackig und elegant aufgetakelt unterwegs seien, so dass chevalereske Heteromänner guten Gewissens ihre Körper mit Blicken wegkonsumieren könnten. Das ist zumindest in Tiflis allem Anschein nach überhaupt nicht so, und das ist auch gut so. (Obwohl Georgien, wie wir gehört haben, nach wie vor ein sehr patriarchales Land ist, in dem Schwule, Lesben, queere Menschen oder auch nur Frauen, die Bücher machen, mit vielen Problemen zu kämpfen haben.) Ebenfalls erkennbar schien, dass feiernde Georgierinnen und Georgier relativ leise sind und einen sehr gesitteten Eindruck machen; ob das etwas mit der angeblichen traditionellen Verachtung für öffentliche lärmende Trunkenheit zu tun hat, ist unklar, aber eine Mitreisende, selbige ihr ganzes Leben in Berlin wohnhaft, hat große Sympathie dafür geäußert, wie wenig hier gegrölt wird.
Wie geht es weiter? In Georgien stellt man seit angeblich 8000 Jahren Wein auf traditionelle Weise her, indem man Most in eine riesige Amphore tut, diese eingräbt und vergisst. (Wie beim Brot ist ein gewisses Grundmuster erkennbar: In Georgien fängt man anscheinend viele Projekte an, indem man erst einmal eine Amphore eingräbt.) Wer die Amphoren wiederfindet und wann, habe ich nicht verstanden, aber offensichtlich passiert es relativ häufig, denn Wein ist hier allgegenwärtig. Uns steht insofern noch eine Weinprobe bevor.
Immer vorausgesetzt, nehme ich an, dass sie noch wissen, wo sie die Dinger eingebuddelt haben, freut sich darauf, liebes Tagebuch, bereits
Dein Matthias
P.S.: Den Titel dieses Beitrags habe ich bei einer Wegbeschreibung aufgeschnappt; er ist sicherlich das Großartigste, was beim Versuch, »die erste Kreuzung nach der Unterführung« zu sagen, herauskommen kann. – M.
P.P.S.: Ich weiß, das sind Pithoi und keine Amphoren, liebe Graecumsmäuse. – M.
P.P.P.S.: Ja, richtig, es muss heißen: mindestens ein Buch, das von mindestens einer Seite wie ein Metaphysikhandbuch aussieht – M.
Die Pithoi heißen übrigens Qvevri und komplett vergessen werden sollten sie nicht, dann einmal am Tag muss man den Wein umrühren. Das für uns engewöhnliche: Da kommt die Traube mit allem drum und dran rein. Über den Geschmack lässt sich vortrefflich streiten…
Ich kann an dieser Stelle nur soviel dazu beitragen, weil ich mich gerade mit einer Sendung über Georgien beschäftige. Leider war ich selbst noch nicht in Georgien und verfolge deshalb mit viel Interesse die verschiedenen Beiträge.
Vielen Dank dafür.