von Anselm Oelze
Jahrelang stand auf meinem Schreibtisch eine Postkarte. Ein Freund hatte sie mir geschickt und ich hatte sie neben meinem Bildschirm platziert, sodass ich täglich den Spruch lesen konnte, der darauf stand: „Man muss nicht in der Bratpfanne gelegen haben, um über ein Schnitzel zu schreiben.“ Zugegeben, als Vegetarier interessiere ich mich nicht für Schnitzel. Auch habe ich nie überprüft, ob das Zitat, wie auf der Karte behauptet, wirklich von Maxim Gorki stammt. Aber als Schriftsteller habe ich mich schon öfters glücklich geschätzt, über Dinge, Orte und Personen schreiben zu dürfen, von denen ich nur wenig oder keine Ahnung habe, die ich nicht kannte, aber kennenlernen wollte.
Auch als Lesender teile ich dieses Glück und ich vermute, ich bin nicht allein. Denn zum einen dient Literatur fraglos der Unterhaltung; wer würde schon gerne in einer Gesellschaft leben, in der es keine Geschichten gibt, ganz gleich, ob sie als Texte, Lieder, Filme, Bilder, Theaterstücke oder Ähnliches wiedergegeben werden? Doch zum anderen gibt es neben dieser – nennen wir sie einmal hedonistischen – Begründung von Literatur mindestens noch eine weitere, die als soziale oder politische Begründung bezeichnet werden könnte. Demnach vermögen Romane, Erzählungen, Novellen, Dramen, Gedichte und all die anderen literarischen Textformen denjenigen, die sie lesen, hören, sehen, eine andere Sicht auf die Welt zu vermitteln. Sie ermöglichen es, eine Perspektive einzunehmen, die von der eigenen abweicht und diese vielleicht sogar verändert.
Denn Menschen besitzen die „kognitive Fähigkeit zur deiktischen Projektion“, so die Anglistin Renate Brosch.[1] Oder mit dem simplen Vergnügen eines Autors ausgedrückt: „This is the part which allowed me to be a psychotic nurse for a little while when I was writing Misery.“[2] Diese Begründung mag auf den ersten Blick ebenfalls hedonistisch erscheinen. Es bereitet eben Lust und Freude, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Doch es hat seine Gründe, dass von verschiedenen Seiten zunehmend auf diesen Aspekt hingewiesen wird. So haben laut der Soziologin Eva Illouz Romane das Potential, „Identifikationsprozesse und Einbildungskraft in Gang zu setzen“[3] und bieten „auf je eigene Weise Szenarien an, mittels deren Akteure ihre emotionale Erfahrung kognitiv einüben und darüber nachdenken können, wie andere emotional agieren und sich ausdrücken.“[4]
Es ist also nicht bloß das persönliche immersive Erlebnis, das Eintauchen in erzählte Welten, das für die Literatur zu sprechen scheint, sondern auch der soziale Aspekt, wonach es für eine Gesellschaft von Vorteil sein dürfte, wenn ihre Mitglieder einander verstehen, weil sie sich ineinander hineinversetzen. In seinem jüngsten Beitrag zu den Ost-West-Unterschieden berichtet der Soziologe Steffen Mau geradezu gerührt von seinen Erfahrungen mit Bürgerräten: zufällig, aber demografisch repräsentativ zusammengestellten Beratungsgremien, in denen beispielsweise Menschen, die das Prinzip der Eigenverantwortung verfechten, sich plötzlich „mit der Lebensgeschichte einer chronisch kranken Frau mit Sozialhilfebezug auseinandersetzen musste[n]“ und somit gezwungen sind, ihre „‚Blasen‘ zu verlassen und sich mit anderen Weltsichten zu konfrontieren.“[5] Die Literatur könnte man als einen Bürgerrat in Buchform bezeichnen. Sie ist eine gewaltige Empathie-Maschine, die dabei hilft, andere Standpunkte kennenzulernen und einzunehmen, und so im besten Fall die viel besprochenen gesellschaftlichen Gräben zuzuschütten.[6] Diese Erkenntnis ist natürlich längst in der Buchbranche angekommen. In ihrer Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2024 antwortete Karin-Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, auf die Frage, was die Branche und die Messen in Zeiten gefährdeter Demokratien leisteten, es seien „Bücher und Geschichten, die […] Empathie fördern und dialektisches Denken.“[7]
Nur stellt sich die Frage: Ist es wirklich so einfach? Kann die Literatur leisten, was von ihr verlangt oder zumindest über sie behauptet wird? Kann sie Menschen tatsächlich in die Lage versetzen, die Welt mit anderen Augen zu sehen?
In etlichen Biografien über das Leben Adi Shankaras, dem Gründer der Advaita Vedanta, der größten Unterschule einer der wichtigsten Schulen der hinduistischen Philosophie, taucht die folgende Anekdote auf[8]: Shankara trifft auf ein verheiratetes Philosophenpaar und hält ihnen vor, sie müssten sich, um wahrhaft philosophisch zu werden, vom weltlichen Leben und damit auch von ihrem Leben als Ehepaar lossagen. Die Frau widerspricht: Er könne überhaupt nicht beurteilen, ob Ehe und Philosophie unvereinbar seien. Schließlich handele es sich bei ihm um einen Unverheirateten, der noch nie diese Erfahrung gemacht habe. Shankara nutzt daraufhin seine yogischen Kräfte, um sich in den kürzlich verstorbenen König Amaruka zu verwandeln. Er erweckt dessen Körper zum Leben, macht darin ausgiebige Erfahrungen als Liebhaber und kehrt anschließend zum Ehepaar zurück, um zu verkünden, er habe sich in seiner Meinung bestätigt gefunden: Ehe und philosophische Lebensweise seien nicht zu vereinen. Was an dieser Anekdote mit Blick auf die Frage nach den Fähigkeiten der Literatur interessant ist, ist nicht der Streit über die Vereinbarkeit von Ehe und Philosophie, sondern das Argument der Frau, nur eigene Erfahrung lasse überhaupt ein Urteil zu. Anders als (angeblich) Gorki würde sie also sagen: Man muss in der Bratpfanne gelegen haben, um über ein Schnitzel zu schreiben.
In der westlichen Philosophie des 20. Jahrhunderts gibt es mit Thomas Nagel jemanden, der diese Position argumentativ unterfüttert hat. Seinen wohl berühmtesten Essay stellte er unter die Frage „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“[9] Vernachlässigen wir einmal den Kontext, in dem Nagel diese Frage aufwarf, und konzentrieren wir uns direkt auf den (literarisch) entscheidenden Punkt, nämlich die Frage, ob es möglich ist, zu wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Fledermäuse sind Säugetiere. Sie sind uns phylogenetisch also näher als Bienen oder Schmetterlinge. Allerdings können sie anders als wir aus eigener Kraft fliegen und nutzen zur Orientierung Echolotortung, sprich Schallwellen, die sie aussenden und dann wieder empfangen. Sie sind so betrachtet doch sehr verschieden von uns. Angenommen wir würden aus literarischen Gründen wissen wollen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wie würden wir das anstellen? Wir könnten uns, wenn wir die Sache ernst nähmen (und von ernsthaft Schreibenden sollte verlangt werden, dass sie das tun), mit verbundenen Augen in einen Tunnel stellen und Klicklaute von uns geben. Und wenn wir die Aufgabe sehr ernst nähmen, würden wir uns anschließend noch in einem Flügelanzug von einem Berg stürzen, am besten im Dunkeln und mit dem Mund nach Insekten schnappend, um uns schlussendlich kopfüber an einen Dachbalken zu hängen. Doch selbst dies, so Nagel, würde nicht ausreichen, um zu wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wir wüssten dann, egal ob wir uns diese Dinge nur vorstellten oder sie tatsächlich ausprobierten, immer nur, wie es für uns wäre, (wie) eine Fledermaus zu sein. Wie es jedoch für die Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein, wüssten wir nach wie vor nicht.[10]
Nun lassen sich freilich sofort mehrere Einwände gegen diese Position erheben. Zunächst wäre zu fragen, ob das Problem nicht einfach daher rührt, dass eine taxonomische Grenze überquert wird. Wenn wir nicht gerade Die Verwandlung 2.0 oder eine moderne Version der Lebens-Ansichten des Katers Murr erschaffen wollen, können wir aber innerhalb unserer eigenen Art bleiben. Und wie es ist, Mensch zu sein, wissen wir. Allerdings, so eine mögliche Verteidigung gegen diesen Einwand, sind auch Menschen recht verschieden. Und sollte es bei der Literatur nicht gerade darum gehen, Einblicke in andere, von unserem eigenen Leben verschiedene Leben zu erhalten? Wenn ja, dann können mit Thomas Nagel auch an dieser Möglichkeit begründete Zweifel angemeldet werden.
Er selbst führt das Beispiel einer von Geburt blinden und tauben Person an. Wer sieht und hört, wird selbst mit verbundenen Augen und verstopften Ohren niemals wissen können, wie es für diese Person ist, diese Person zu sein. Der „subjektive Charakter der Erfahrung“ wird immer, ganz gleich in welche Richtung der Versuch des Hineinversetzens unternommen wird, unzugänglich bleiben.[11]
Aber, so ein weiterer Einwand, ist das nicht ohnehin ein bisschen viel verlangt? Reicht es, um einen Perspektivwechsel zu vollziehen, nicht aus, etwas über Erfahrungen zu lesen und zu schreiben, ohne ihren ,subjektiven Charakter‘ zu kennen?
Stephen Kings Misery war eines der erfolgreichsten Bücher der 1980er Jahre, ohne dass er sich dafür in den Körper einer psychotischen (Ex-)Krankenschwester begeben musste, und die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. „Sich in die Gefühlswelt einer literarischen Figur zu versetzen heißt nicht, deren Gefühle selbst zu haben“, wie der Philosoph Gottfried Gabriel unterstreicht.[12] „Kognitive Empathie im Modus des Als-ob“, so Gabriel weiter, „führt dementsprechend nicht dazu, daß man wirklich weiß, wie es ist, sich in einer bestimmten Situation zu befinden.“[13] Und diese Art von Wissen muss die Literatur auch gar nicht liefern, so das Argument.
Allerdings wird der Punkt, den Nagel macht, auch außerhalb des sehr speziellen Zusammenhangs, in dem er seine Position entwickelte – nämlich der Diskussion über sogenannte Qualia, also subjektive Gehalte von Erlebnissen – angeführt. Der Philosoph Robin Celikates weist darauf hin, dass bei den meisten, wenn nicht gar bei allen Menschen „Formen der epistemischen Begrenzung“ existieren.[14] Das heißt, es gibt etwas, das uns daran hindert, bestimmte Dinge überhaupt wahrzunehmen.
Unsere je eigene Lebenssituation – unser Geschlecht, unsere Hautfarbe, die Kultur, in die wir hineingeboren werden und so weiter – prägt unseren Blick und sie limitiert ihn. Das allein ist gewiss keine sonderlich neue Erkenntnis. Doch angewandt auf die Literatur und die Ansprüche, die an sie als ,Empathie-Maschine‘ gestellt werden, hat sie weitreichende Folgen. Denn wenn wir davon ausgehen, dass alle Menschen auf die ein oder andere Weise an epistemischen Begrenzungen leiden, und wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass diese Begrenzungen nur sehr schwer, in manchen Fällen vielleicht gar nicht – denken wir nur an die Fledermaus – aufgehoben werden können, stellt sich die Frage: Was nun? Wie umgehen mit Literatur, die Einblicke in andere Leben und Welten geben, die Perspektivwechsel ermöglichen soll, wenn sie aufgrund epistemischer Begrenzungen fehlerhaft oder gar falsch ist? Was nützt es, wenn Männer über Frauen oder nichtbinäre Personen (und umgekehrt), wenn Weiße über Persons of Colour (und umgekehrt), wenn Ostdeutsche über Westdeutsche (und umgekehrt), wenn Bestsellerautoren, die glauben, mental gesund zu sein, über psychotische Krankenschwestern schreiben, dabei aber Falschheiten verbreiten oder mindestens Stereotype reproduzieren und Klischees festigen?
Die vermutlich radikalste Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit diesem Problem der Literatur ist wohl zugleich auch die älteste. In Platons Dialog Politeia kommen die Gesprächspartner schon kurz nach Beginn ihrer Diskussion über das gute Gemeinwesen auf die Erziehung zu sprechen. Recht schnell sind sie sich einig, dass „wir Aufsicht führen [müssen], über die, welche Märchen und Sagen dichten, und welches Märchen sie gut gedichtet haben, dieses einführen, welches aber nicht, das ausschließen.“[15] Hintergrund dieser Auffassung ist der prägende Einfluss, den Geschichten ihrer Meinung nach gerade auf junge Menschen haben. Wenn vermieden werden soll, dass „unwahre Erzählungen“ einen nachhaltigen Einfluss ausüben, indem sie falsche Weltbilder prägen, besteht Handlungsbedarf.
Nun muss diese sogenannte ‚Dichterkritik‘ nicht zwangsläufig als Berufsverbot für den Literaturbetrieb gelesen werden, wenngleich einige Passagen in der Politeia diese Lesart nahelegen.[16] Zumindest an der zitierten Stelle heißt es ja: Gedichtet werden darf noch, aber eben nur ‚gut gedichtet‘ und ‚gut‘ meint in diesem Falle wahr. Doch selbst dann dürfte es schwerfallen, Platon gegen den Vorwurf des Totalitarismus zu verteidigen. Denn was ist die erwähnte ‚Aufsicht‘ über die Dichtenden anderes als Zensur? Wie eine solche Zensur in der Realität aussieht, davon legen zahlreiche Tagebücher von Schreibenden aus Diktaturen Zeugnis ab und es ist ziemlich zweifelhaft, dass Zensur, selbst wenn sie mit den besten pädagogischen und politischen Absichten ausgeübt wird, eine gute Lösung für das Problem darstellt.
Insofern verwundert es kaum, dass statt dieser Platonischen Lösung in der Regel eher zwei andere Lösungen vorgeschlagen werden, deren erste als Kleist’sche Lösung bezeichnet werden kann, denn hier wird die Literatur gegenüber dem Vorwurf, Falschheiten zu verbreiten, mit Kleists Anekdote „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ in Schutz genommen. In der Literatur, so wird gesagt, geht es ja eben gerade nicht um Wahrheiten, sondern um Wahrhaftigkeiten. Soll heißen: Literatur muss nicht wahr sein. Vielleicht ließe sich sogar noch weiter gehen und sagen: Sie darf nicht wahr sein, sonst wäre sie keine Literatur mehr, sondern Philosophie oder Wissenschaft. Die Wahrheit der Literatur muss, mit dem alten Offizier in Kleists Anekdote gesprochen, lediglich „wahrscheinlich sei[n]; und doch ist die Wahrscheinlichkeit, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer auf Seiten der Wahrheit.“[17] Gute Literatur zeichnet sich dieser Position zufolge gerade dadurch aus, dass sie wahr erscheint, ohne es zu sein.[18]
Diese Haltung ist natürlich reizvoll. Sie bietet eine Art Generalamnestie für die Literatur, die, platt gesprochen, allen möglichen Unfug verzapfen darf, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden, solange dieser Unfug wahrhaftig daherkommt. Im Vergleich zu Platons Zensurlösung mag dies die bessere Lösung zu sein. Aber Platon hat mit seinem Verweis auf den verheerenden Einfluss von Falschheiten doch einen Punkt, der nicht vernachlässigt werden sollte und sich mit folgendem Beispiel illustrieren lässt. Vor nicht allzu langer Zeit hat eine Auswertung des Bundesverbandes der mittelständischen Wirtschaft ergeben, dass in der beliebtesten deutschsprachigen Krimi-Serie, dem Tatort, überdurchschnittlich oft Unternehmer die Mörder sind. Der Bundesverband beschwerte sich über dieses „unrealistische Bild“, das dadurch vom deutschen Unternehmertum gezeichnet werde – und zwar wiederholt, denn schon sieben Jahre zuvor war eine Erhebung zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt.[19]
Darüber mag man schmunzeln. Nur würde eine solche Erhebung im Bereich der Literatur vermutlich Ähnliches zutage fördern. Es mögen dort nicht mordende Manager sein, sondern ,hysterische Frauen‘ (psychotische Krankenschwestern!), menschenfressende Wölfe oder welche Klischees auch immer es noch gibt; ich will sie hier gar nicht nennen (noch dazu möchte ich lieber nicht wissen, wie viele davon ich in meinen eigenen Büchern bereits ausgebreitet habe). Der Kleist’sche Verweis auf Wahrhaftigkeit statt Wahrheit bietet hier keine ausreichende Entschuldigung. Denn wenn Bücher durch unsere Sicht auf die Welt geprägt sind und wenn sie wiederum auch unsere Sicht auf die Welt prägen, dann sind sie in dieser Hinsicht keine Empathie-, sondern Klischeeverfestigungsmaschinen.[20]
Diesem Problem soll nun die Mann’sche Lösung zu begegnen. In ihren Ungeschriebenen Memoiren berichtet Katia Mann über die Arbeitsweise ihres Mannes: „Wenn er ein Buch schrieb, so vertiefte er sich ungeheuerlich in seinen jeweiligen Gegenstand und studierte viel und stets noch, während er daran saß. Er verschaffte sich alles Wissenswerte, beschaffte sich eine Menge Material. (…) Zur Zeit des ‚Doktor Faustus‘ war er, neben anderem, ein großer Musiktheoretiker, zur Zeit des ‚Joseph‘ ein großer Ägyptologe, Orientalist und Religionswissenschaftler, ein Mediziner für den ‚Zauberberg‘.“[21]
Wer schreibt, muss sich nicht für Thomas Mann halten, um sagen zu können: Das mache ich genauso! Und vermutlich unterstellen die meisten Lesenden, dass ein gutes Buch nicht nur gut geschrieben, sondern auch gut recherchiert ist. Wer einen Roman verfasst, der im England des 19. Jahrhunderts spielt, wird sich mit dem England dieser Zeit beschäftigen, etwa um herauszufinden, ob es zu dieser Zeit bereits Glühbirnen gab. Das Problem ist jedoch, die Recherche wird immer nur so weit gehen, wie es für das Erzeugen von Wahrhaftigkeit nötig ist. Kaum jemand wird sich jahrelang in historische Englandstudien vertiefen, bloß um zu ermitteln, welche Lichtquellen ein Haus der damaligen Zeit besaß. Auch Thomas Mann war immer nur so viel Mediziner, Musiktheoretiker, Ägyptologe etc., wie er es sein musste, um glaubwürdige Literatur hervorzubringen.
Aber er war, wie alle anderen Schreibenden, nicht dazu bereit oder in der Lage, bis zum Äußersten zu gehen, also nur die Wahrheit gelten zu lassen. Es greift daher auch an dieser Stelle wieder Nagels Argument: Wer keine Fledermaus ist, wird nicht wissen können, wie es ist, eine zu sein. Wer dennoch ein Buch aus Sicht einer Fledermaus verfasst – oder aus Sicht eines Wesens, das vom eigenen Wesen in welchen Merkmalen auch immer abweicht –, schreibt stets nur über die eigene Vorstellung davon, wie es ist, ein solches Wesen zu sein, niemals aber über das Wesen und seine Erfahrung selbst. Und diese Vorstellung wird fehlerhaft oder klischeebehaftet, mindestens aber unvollständig sein. Sie ist nur eine Außen-, nicht jedoch eine Innensicht. Und wenn sie doch eine Innensicht ist, dann nur eine hypothetische. Es erscheint allerdings problematisch, hypothetische Innensichten zur Grundlage für das Erzeugen von Mitgefühl zu machen.
Nun gibt es gerade in der jüngeren Gegenwartsliteratur einen Ansatz, der auch für dieses Problem eine Lösung parat hat, nämlich die Autofiktion oder, noch spezifischer, die „Autosoziobiografie“.[22] Die autofiktionale oder autosoziobiografische Lösung lautet kurz gesagt: Wer ein Buch über eine Figur X schreibt, sollte mit dieser Figur X so viele Merkmale, Eigenschaften, Erfahrungen und so weiter wie nur möglich teilen. Oder mit dem Literaturwissenschaftler Moritz Baßler ausgedrückt: Es wird eine „autoritative Beglaubigung“ verlangt (Baßler bezieht sich auf Diskriminierungserfahrungen).[23] Der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen spricht sogar von einer „Ethik der Erfahrung, die das Erzählen vor allem durch Erleben legitimieren möchte.“[24] Diese Lösung ist in mehrerlei Hinsicht galant. Erstens trägt sie dem Fledermaus-Problem Rechnung, indem, metaphorisch ausgedrückt, nur noch Fledermäuse darüber schreiben, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Zweitens sorgt sie dafür, dass nicht mehr nur bestimmte Menschen – literaturhistorisch gesehen vornehmlich weiße Männer – schreiben und gelesen werden, sondern auch alle möglichen anderen. Sie löst also zugleich ein Repräsentations- bzw. Gerechtigkeitsproblem, das zweifelsohne in der Literatur genauso wie in anderen Bereichen der Gesellschaft (Führungsetagen, Parlamenten, Universitäten etc.) existiert.
Trotzdem ist auch diese Lösung nicht frei von Schwierigkeiten. Erstens bietet sie keine Gewähr dafür, dass die Literatur wahrer und im platonischen Sinne weniger schädlich wird. Nur weil ein Buch über eine psychotische Krankenschwester von einer solchen geschrieben wurde, müssen die darin geschilderten Erlebnisse noch lange nicht stimmen. Ich bestreite nicht, dass sie mit höherer Wahrscheinlichkeit korrekt sind, also näher an das herankommen, was es wirklich bedeutet, eine solche Person zu sein, als wenn sie von einem Mann geschrieben wurden, der vor seiner Karriere als Schriftsteller lediglich Berufserfahrungen als Englischlehrer und Bügler in einer Wäscherei gesammelt hat. Eine Garantie dafür gibt es aber nicht.
Zweitens bringt diese Lösung natürlich (literatur-)politische Konsequenzen mit sich. Wem besagte „autoritative Beglaubigung“ aufgrund der eigenen Biografie fehlt, dürfte es schwerer haben, gedruckt und gelesen zu werden. Das muss selbstverständlich nichts Schlechtes sein. Im Gegenteil. Literarischen Stimmen Gehör zu verschaffen, die viel zu lange nicht gehört worden sind oder denen verwehrt wurde, sich überhaupt zu äußern, ist wünschenswert und aus Gründen der Gerechtigkeit sogar geboten. Zudem dürfte es bestimmten Erwartungen entsprechen. Bei Lesungen werde ich immer wieder gefragt, weshalb ich als Ostdeutscher eigentlich nicht über Ostdeutschland und die DDR schreibe. Aber wie eingangs erwähnt, besteht der Reiz des Schreibens ja gerade darin, über Schnitzel zu schreiben, ohne in einer Bratpfanne gelegen zu haben.
Drittens – und das scheint mir die wesentliche Schwierigkeit zu sein – bringt auch diese Lösung auf Seiten der Lesenden nicht einfach die Fähigkeit hervor, sich mittels des Gelesenen in andere hineinzuversetzen. Mag sein, dass wir etwas lesen, das uns bis dato völlig fremd war. Mag sein, dass wir dann sogar Mitgefühl entwickeln. Aber werden wir tatsächlich Konsequenzen für unser eigenes Handeln daraus ziehen? Wird der von Steffen Mau erwähnte Verfechter der Eigenverantwortung von seiner Überzeugung abrücken, nachdem er die Schilderung einer chronisch kranken Sozialhilfeempfängerin gehört hat? Das wäre ja nötig, damit es auch wirklich zu politischen Veränderungen kommt. Gerade im Fall literarischer Werke habe ich Zweifel, dass dies eintritt, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen des Umstands, dass wir es nicht mit ‚dem wahren Leben‘, sondern mit Literatur zu tun haben.
Zugegeben, das alles mutet recht pessimistisch an. Und es wäre ja zu wünschen, dass Pessimismus hier fehl am Platz ist. Eine Literatur, die nicht nur eine hedonistische, sondern auch eine soziale Funktion erfüllt, indem sie eben nicht einfach nur unterhält, sondern auch zur gesellschaftlichen Verständigung durch Perspektivwechsel beiträgt, dürfte eine wunderbare Sache sein. Daran zu zweifeln, bedeutet wohlgemerkt nicht, den Wert von Literatur zu bestreiten. Sie erfüllt alle möglichen Funktionen, darunter auch soziale. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder durch gute literarische Unterhaltung glücklicher sind, ist sicherlich auch insgesamt eine zufriedenere Gesellschaft. Und dass Romane und andere literarische Formen ein hervorragendes Korpus darstellen, um etwas über gesellschaftliche Auffassungen zu einer bestimmten Zeit herauszufinden, bleibt der Soziologie und anderen Disziplinen unbenommen. Zudem bleibt das, was Jens Balzer jüngst „die Maxime der gesellschaftlichen Verständigung in einer liberalen Demokratie“ genannt hat, unbestritten: „Man soll niemals aufhören, das eigene Verständnis der Welt […] zu überprüfen.“[25]
Wovon wir uns meiner Meinung nach aber freimachen sollten, ist die Ansicht, Literatur könne einen wesentlichen Beitrag leisten, wenn es darum geht, die für das Zuschütten gesellschaftlicher Gräben nötige Menge an Empathie bereitzustellen. Sie ist, fürchte ich, darin genauso hilfreich wie Urlaubsreisen für die Völkerverständigung. Daher scheint es mir am sinnvollsten, sich in dieser Hinsicht ehrlich zu machen und der Literatur keine Funktion zuzuschreiben, die sie nicht hat. Auch wenn dann am Ende die nüchterne Erkenntnis steht, dass die soziale Begründung von Literatur genau das Gleiche ist wie die Literatur selbst: eine schöne Fiktion.
Anselm Oelze, geboren 1986 in Erfurt, studierte u.a. Philosophie in Freiburg und Oxford. Er veröffentlichte die Romane „Wallace“ und „Pandora“ sowie die literarische Reportage „Die Grenzen des Glücks“. Sein dritter Roman erscheint 2025 im Wallstein Verlag.
[1] Renate Brosch, „Literarische Lektüre und imaginative Visualisierung: Kognitionsnarratologische Aspekte“. In: Claudia Benthien & Brigitte Weingart (Hrsg.), Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Berlin/Boston 2014, S. 104–120, hier S. 113.
[2] Stephen King, On Writing. A Memoir of the Craft. London 2020, S. 226.
[3] Eva Illouz, Warum Liebe weh tut: Eine soziologische Erklärung. Übers. v. Michael Adrian. Berlin 2012, S. 366.
[4] Eva Illouz, Warum Liebe endet: Eine Soziologie negativer Beziehungen. Übers. v. Michael Adrian. Berlin 2018, S. 39.
[5] Steffen Mau, Ungleich vereint: Warum der Osten anders bleibt. Berlin 2024, S. 138.
[6] Dass Literatur, insbesondere der Roman, die Empathie schult, meint etwa Brosch (2014), S. 116.
[7] Karin Schmidt-Friderichs, „Grußwort zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2024“, 20. März 2024, Gewandhaus Leipzig (https://www.boersenverein.de/veranstaltungen-termine/leipziger-buchmesse/eroeffnungsrede-von-karin-schmidt-friderichs/; letzter Aufruf: 14.10.2024).S
[9] Thomas Nagel, „What Is It Like to Be a Bat?“ In: The Philosophical Review 83/4 (1974), S. 435–450. Für den Originaltext mit deutscher Übersetzung siehe Thomas Nagel, What Is It Like to Be a Bat? Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? Englisch/Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Ulrich Diehl. Ditzingen 2018.
[10] Vgl. Nagel (1974), S. 439.
[11] Vgl. Nagel (1974), S. 440.
[12] Gottfried Gabriel, Erkenntnis in den Wissenschaften und der Literatur. Stuttgart 2013, S. 15.
[13] Ebd. (Kursivierung im Orig.)
[14] Robin Celikates, „Moralischer Fortschritt, soziale Kämpfe und Emanzipationsblockaden. Elemente einer kritischen Theorie der Politik“. In: Ulf Bohmann & Paul Sörensen (Hrsg.), Kritische Theorie der Politik. Berlin 2019, S. 397–425, hier S. 409.
[15] Platon, Politeia (Der Staat), 377b. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, bearb. v. Dietrich Kurz. In: Platon, Werke in acht Bänden, Griechisch und Deutsch, Vierter Band. Hrsg. v. Gunther Eigler. 4., unveränd. Aufl. Darmstadt 2005, S. 157.
[16] Siehe Politeia 398a, 595a und 607b.
[17] Heinrich von Kleist, „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“. In: Sämtliche Werke und Briefe, Band II. München/Frankfurt 2010, S. 457–460, hier S. 457. Kleists Prinzip findet durchaus immer wieder Anwendung, man siehe nur Andreas Platthaus’ Verteidigung von Matthias Jüglers Roman Maifliegenzeit: Andreas Platthaus, „Absage einer Lesung: Staunen über den unliterarischen Umgang mit Literatur“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (online), 10.04.2024 („https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/leipziger-lesung-aus-jueglers-maifliegenzeit-abgesagt-19643821.html; letzter Aufruf: 08.08.2024).
[18] Die Lösung könnte genauso gut auch als Aristotelische Lösung bezeichnet werden, denn in seiner Poetik weist Aristoteles ausdrücklich darauf hin, „dass nicht etwa die Aufgabe des Dichters darin liegt, das zu sagen, was geschehen ist, sondern was geschehen könnte und zwar das Mögliche gemäß Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“ (Aristoteles, Poetik I.9, 1451a1–2. Übers. v. Martin Hose. Berlin/Boston 2023, S. 121). Darin liegt für ihn der Unterschied zur Geschichtsschreibung, worauf auch Kleist am Ende seiner Anekdote sicherlich nicht zufällig hinweist (siehe Kleist, „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“, S. 460).
[19] Siehe „Statistische Auswertung: Beim ARD-‚Tatort‘ morden meist Unternehmer, Manager oder Selbstständige“. In: Welt (online), 06.03.2024 (https://www.welt.de/kultur/medien/article250425876/Auswertung-Beim-ARD-Tatort-morden-meist-Unternehmer-Manager-oder-Selbstaendige.html; letzter Aufruf: 08.08.2024)
[20] Entsprechend kritisch äußerte sich Charlotte Brontë über die Darstellung der Landbevölkerung im Roman Sturmhöhe ihrer Schwester Emily: „Ich kann nicht umhin, zuzugeben, daß Ellis Bell [i.e. Emily Brontë] von der Bauernschaft, in deren Mitte sie lebte, kaum mehr praktische Kenntnis hatte als eine Nonne sie von dem Landvolk hat, das gelegentlich an ihrer Klosterpforte vorbeitrabt. […] Woraus sich ergab, daß das, was ihr Geist an Realien sammelte, die jene betrafen, allzu ausschließlich auf solche tragischen & schrecklichen Züge sich beschränkte, die das Gedächtnis, beim gelegentlichen Lauschen auf die geheimen Annalen all dieser rohen Nachbarn, zu speichern nicht umhinkann.“ (Charlotte Brontë, „Vorwort der Herausgeberin zur Neuausgabe von Wuthering Heights“. In: Emily Brontë, Sturmhöhe. Wuthering Heights. Hrsg. und übers. v. Wolfgang Schlüter. München 2016, S. 612–619, hier S. 614f.).
[21] Katia Mann, Meine ungeschriebenen Memoiren. Hrsg. v. Elisabeth Plessen und Michael Mann. Frankfurt 1974, S. 150.
[22] Carlos Spoerhase, „Politik der Form. Autosoziobiographie als Gesellschaftsanalyse“. In: Merkur 71/818 (2017), S. 27–37, hier S. 35.
[23] Moritz Baßler, Populärer Realismus: Vom International Style gegenwärtigen Erzählens. München 2022, S. 216.
[24] Johannes Franzen, „Der Maßstab der Wirklichkeit: Zur Kontroverse um Takis Würgers Roman Stella“. In: Merkur (Blog), 15.01.2019 (https://www.merkur-zeitschrift.de/2019/01/15/der-massstab-der-wirklichkeit-zur-kontroverse-um-takis-wuergers-roman-stella/; letzter Aufruf: 08.08.2024).
[25] Jens Balzer, After Woke. Berlin 2024, S. 29.
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