(Interview von Bror Axel Dehn für die Zeitschrift Vagant, aus dem Dänischen übersetzt von Matthias Friedrich)
In Meine Arbeit (Mit arbejde, 2020) treibt Olga Ravn ihre Kritik an den sozialen Verhältnissen weiter als je zuvor. Auf 420 Seiten, die sich aus Prosastücken, Dramatik, Gedichten und Tagebucheinträgen zusammensetzen, kämpft die Erzählerin des Romans mit ihrer Rolle als Mutter. Szenen aus dem Geburtsvorbereitungskurs finden sich neben Katastrophengedanken aus dem Tagebuch. Anna, die Protagonistin, muss einsehen, dass sie sich – nach der Geburt ihres ersten Kindes – nicht in den gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen wiedererkennen kann; infolgedessen nähert sie sich einem psychischen Zusammenbruch. Denn wie umgehen mit der Scham, die entsteht, wenn man sich in einem einengenden sozialen Normenverständnis nicht wiederfinden kann? Ein paar Tage lang schickten Olga Ravn und ich Mails hin und her. Wir sprechen darüber, was passiert, wenn eine Frau „auf eine spezielle Denkart, auf einen Wertemaßstab hin abgerichtet und krank wird“. Wenn wir einen besseren Gesellschaftsentwurf wollen, dann muss jemand Zeugnis ablegen.
Olga Ravn, mit Meine Arbeit versuchen Sie, einige der vorherrschenden Denkweisen zu problematisieren, die heutzutage an die Rolle als Mutter geknüpft sind. Handelt Ihr Roman von Befreiung?
Ja, ich stelle mir das Buch tatsächlich als einen Befreiungsschlag vor! Ich wollte gerne untersuchen, was für eine Figur eine Mutter ist, die auf den Arbeitsmarkt kommt und wie sie für die unbezahlte Reproduktionsarbeit steht. Beim Schreiben habe ich eine ganze Menge Bücher über Kindererziehung und Elternschaft gelesen. Jedes einzelne davon entwirft sein eigenes Zeitbild. Die Wahrheit über die „richtige“ Kindererziehung wandelt sich fast jährlich. Mir ging auf, dass die Moralvorstellungen der jeweiligen Periode durch die Mutter am deutlichsten hervortreten. Man erwartet von ihr, dass sie alle persönlichen Charakterzüge und Ansichten zur Seite legt, um blind einer Autorität zu folgen, die abwechselnd die Behörden, der Mutterinstinkt, die Natur oder etwas Viertes sind.
Die schwangere Person wird von der Gesellschaft gegängelt bis zum Geht-nicht-mehr?
Im Laufe meines Lebens habe ich oft sogenannte Gesinnungsschnüffelei erlebt, aber niemals derart übergriffig wie während meiner Schwangerschaft. Man versteht sehr schnell, dass man nicht mehr sich selbst gehört, sondern der Gemeinschaft. Fremde kommen zu einem hin und berühren den Körper, überall bekommt man Ermahnungen zu hören. Es ist klar, dass Eltern – und, aus historischer Sicht, vor allem Mütter – Arbeitskräfte und wahlberechtigte Bürger*innen produzieren. Es liegt im Interesse der Gemeinschaft, dass diese zukünftigen Bürger*innen nach einem Wertemaßstab erzogen werden, der den Status quo aufrechterhalten soll. Die Verantwortung für ein Kind innezuhaben, gehört für mich zu den politischsten Dingen überhaupt.
Wohl aus ebendiesem Grund ist es wichtig, dass jemand diese Erfahrung literarisch bearbeitet?
Mich empört, dass der Geschichte der Reproduktion in der Literaturhistorie nicht mehr Platz eingeräumt wird. Heute habe ich etwa gelesen, dass im ICE (Anm.: US Immigrations and Customs Enforcement) inhaftierten Migrantinnen ohne ihre Zustimmung die Gebärmutter entfernt wird. Vor ein paar Monaten kam dann die Nachricht, dass Schwarze US-Amerikanerinnen in einem Gefängnis sterilisiert wurden – und das alleine deshalb, weil es billiger ist, als für eine medizinische Behandlung der Schwangeren, für Binden und dergleichen aufzukommen. Aber so lässt sich die Bevölkerung eben genau kontrollieren. Die italienische Philosophin Silvia Federici hat es einmal so formuliert: Fangen die Behörden mit einer solchen Überwachung an, dann wächst die Frauenfeindlichkeit der Medien. Es wird deutlich, dass der Staat die Reproduktion aufmerksam im Blick behält; er will mehr von den richtigen Kindern, also weißen Kindern der Mittelklasse. Wenn es darum geht, wer Mutter werden darf und wie, welche Kinder man sich wünscht und unter welchen Gegebenheiten, dann darf man nicht übersehen, dass große wirtschaftliche und politische Interessen auf dem Spiel stehen.
In Meine Arbeit scheitert Anna an einigen der Erwartungen, die an die Rolle als Mutter geknüpft sind, weil sie sich in ihnen nicht wiedererkennen kann. Handelt dieser Roman auch von innerer Zerrissenheit?
Das literarische Doppelgänger-Motiv, das ich auch in Celestine (2015) verwendet habe, interessiert mich schon seit längerer Zeit. In Meine Arbeit wollte ich zeigen, wie eine Frau auf eine spezielle Denkart, auf einen Wertemaßstab hin abgerichtet und krank wird. Auch das kann zu dem Eindruck beitragen, dass man eine Doppelgängerin ist, auf der Bühne der Gesellschaft eine Rolle als Frau spielt und sich darin vielleicht manchmal völlig abhandenkommt – allerdings finden sich im Leben der Frau noch unbeleuchtete Teilbereiche. Die gespaltene Frau, die versucht, die Erwartungen an sie zu erfüllen und sich gleichzeitig dagegen zur Wehr zu setzen – dieses Motiv kann man in der Literatur sehr häufig beobachten. Emily Dickinson spricht von „Horror’s Twin“. Ebenfalls könnte man auf Charlotte Brontës „madwoman in the attic“ verweisen.
Sie sind nicht nur Schriftstellerin, sondern vermitteln Literatur auch durch Übersetzungen, u. a. von Joan Didion und Sylvia Plath. Früher haben Sie im Verlag Gyldendal die Skalaserie mitherausgegeben, eine Reihe übersehener Klassiker. Was bedeutet Vermittlung für Ihr eigenes Schreiben?
Das Gespräch über gute Literatur hängt für mich untrennbar mit dem Schreiben zusammen – an welche Literatur man sich erinnern, welche man analysieren und welche man lesen sollte. Müsste ich ausschließlich den gültigen Kanon lesen, wäre ich zum Schreiben erst gar nicht in der Lage. Deswegen musste ich daran arbeiten, mein Verständnis von Klassikern zu erweitern, denn sonst hätte mein eigenes Schreiben keinen Platz gefunden. Klar, womöglich ist es ziemlich seltsam, auf den Schultern einer großen Literaturgeschichte zu schreiben, die die meisten Leser*innen nicht kennen. Hier denke ich hauptsächlich an das akademische Milieu, Kritiker*innen etc. Gewöhnliche Leser*innen sind im Allgemeinen recht vertraut mit meinen Referenzen. Sie haben Tove Ditlevsen, Doris Lessing, Kirsten Thorup, Sylvia Plath usw. gelesen.
Einen Kanon anders zu denken, das heißt wohl auch, dass wir die Geschichte, die wir kennen, bloß erschaffen haben – und es viele alternative Geschichten gibt?
Ja. Ich fände es sinnlos, einen gültigen Kanon gegen einen neuen einzutauschen. Eher geht es darum, die Vorstellungen über ein bedeutsames Buch, über das Bild eines Menschen oder einer Wirklichkeit zu erweitern. In Meine Arbeit widersprechen viele der Kapitel einander. Ich wollte deutlich machen, dass ein Leben nicht nur eine einzige biographische Wahrheit hat. Um eine etwas schlappe Metapher zu bemühen, man könnte sagen, ich will keine Bücher aus dem Regal entfernen, sondern welche dazustellen. Außerdem meine ich, wir sollten uns einigen der unbequemen Diskussionen über unsere Klassiker hingeben, eben damit wir sie weiterhin lesen können.
In den letzten Jahren wurde in den Medien oft darüber diskutiert, die Literatur dänischer Autorinnen sei zu privat. Wie stehen Sie zu dieser Debatte?
Als ich in die Kopenhagener Schreibschule ging, stieß ich mit dem, was man als „weibliche Erfahrung“ oder „Bekenntnisliteratur“ definieren könnte, auf recht heftigen Widerstand. Das empörte mich, tut es immer noch. Søren Ulrik Thomsen hat viele wunderbare Gedichte geschrieben, aber auch eines darüber, wie satt er die Frauen hat, die über ihr Leben als Frau schreiben. Bei so etwas – diesem herablassenden, jovial-heimeligen Tonfall – verliere ich komplett die Fassung. Einerseits wird man zwingend zur Frau gemacht, andererseits aber, wenn man versucht, diese Erfahrung zu verstehen, wird man gedemütigt. In Lars Frosts Roman Kongskilde NS5100 (2013) sagt der Protagonist, dass es Amalie Smith, Ida Marie Hede und Josefine Klougart an Temperament fehlt und er nicht versteht, was sie mit ihrer Literatur bezwecken. In einem Interview mit Vagant sagt Frost dann auch, dass die Literatur dieser Schriftstellerinnen in einem sterilen Raum spielt, in dem man gerade geputzt und die frischgewaschenen Barbiepuppen aus der Waschmaschine geholt hat. Das ist so dermaßen bekloppt frauenfeindlich. Just saying, ich würde ja gerne mal ein Buch lesen, das von nichts weiter handelt als von den frischgewaschenen Barbiepuppen eines jungen Mädchens.
Haben Sie eigene Erfahrungen mit Frauenfeindlichkeit gemacht?
Dass andere Frauen Misogynie ausgesetzt werden, entspricht auch meiner eigenen Erfahrung, denn sie werden aufgrund ihres Geschlechts angegriffen. Deshalb ist das ein Angriff auf alle Frauen, auch auf mich. In der Schreibschule verfasste ich einmal einen Text über eine Vergewaltigung, und ich erinnere mich, dass mein Mentor sagte: „Ich verstehe ja, dass viele einen Text über ein junges Mädchen lesen wollen, das mal einen dicken Schwanz abkriegt.“ Ich wurde wütend, auf ihn, aber auch auf das Mädchen im Text. Mühsam auf andere Stimmen der Literaturgeschichte hinzuweisen und sie anzupreisen, ist wohl mein Ausweg aus dieser vertrackten Situation. Oft höre ich das Argument, Frauen hätten nicht gut genug geschrieben, aber das ist eine Lüge. Wer glaubt, dass das längst der Vergangenheit angehört, soll bitte mal aufwachen. Noch im August trug die Buchbeilage der Zeitung Politiken die Schlagzeile „Die Frauen bleiben eben“. Man stelle sich vor, weibliches Schreiben sei eine erwähnenswerte Nachricht. Zwischen den Zeilen steht ja: Wann lassen sie’s bleiben?
Würden Sie meinen, es braucht Widerstand, um schreiben zu können?
Nein. Aber ich glaube auch nicht, dass es so etwas wie ein Leben ohne Widerstand überhaupt gibt. Allerdings gehe ich davon aus, dass einen zu viel Widerstand am Schreiben hindern kann. Ich habe es umgekehrt gemacht und Widerstand in einen Antrieb verwandelt.
Wieso? Würden Sie Ihre eigene Arbeit als einen Kampf beschreiben?
Nein, das will ich nicht. In meiner Arbeit möchte ich in erster Linie an einen Ort vordringen, von dem ich meine, dass es ihn gibt, um dann zu sagen, was es heißt, zu leben. Meine Arbeit stelle ich mir als Wechselwirkung zwischen Veränderung und Bewahrung vor. Mit dem Kampf als treibender Kraft kann ich mich nicht aussöhnen. Ich will ganz nah an der Literatur sein, an ihrer wunderbaren, transformativen Kraft. Im Haus der Literatur erzählen mir viele Werke und Ideen, dass ich dort nicht sein darf. Also muss ich um meinen Platz darin kämpfen.
Wollten Sie schon mal alles hinschmeißen?
Ich stand schon oft kurz davor, das Schreiben aufzugeben. Ich glaube, das ist eine grundlegende Erfahrung für Schriftsteller*innen. Finanziell ist es sehr schwer. Und es ist schwer, auf so viel Widerstand zu stoßen. Es ist schwer, nie Erfolg zu haben. Das Schreiben kann einen an Orte führen, an denen man nicht sein mag. Ich glaube, dass man immer ein Wagnis eingehen muss. Immer wieder klammere ich mich an das angenehme Gefühl, dass da etwas in mir ist, von dem ich selbst nichts weiß, oder dass das Schreiben seine eigene Show abzieht. Das ist wunderbar. Das wird niemals verschwinden.
Olga Ravn, geboren 1986, zählt zu den wichtigsten Autorinnen Dänemarks und ist neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin auch als Übersetzerin tätig, u. a. von Ann Jäderlund. Seit ihrem Lyrikdebüt im Jahr 2009 veröffentlichte sie drei weitere Gedichtbände; Den hvide rose (2015) erscheint demnächst unter dem Titel Rose werden in Übersetzung von Alexander Sitzmann im deutsch-dänischen Nord Verlag, der Roman De ansatte (2018) ist seit kurzem in Martin Aitkens englischer Fassung erhältlich (The Employees, Lolli Editions). Mit arbejde ist Ravns insgesamt dritter Roman.
Photo von Sharon McCutcheon