von Benita Berthmann
Eine Gruppe prätentiöser Student*innen an einem Elite-College in Vermont; ein Griechisch-Professor, der an einen Guru erinnert; eine ordentliche Menge erotischer Spannungen, Drogen und Mord. Das sind die Voraussetzungen für Donna Tartts The Secret History, dem Roman, den sie – so zumindest die Legende – ihren eigenen College-Erfahrungen nachempfunden hat. Und obwohl ihre Geschichte in den 1980er Jahren spielt, findet sie auch im Jahr 2023 immer neue Leser*innen. Das geschieht nicht zuletzt auf der Plattform TikTok, die die Autorin – 30 Jahre nach dem Erscheinen des Romans – zur Königin jener morbiden Ästhetik erhebt, die als Dark Academia bezeichnet wird. Die Nutzer*innen preisen nicht nur das Buch selbst an, sondern haben auch Empfehlungen für dazu passende Musikplaylisten, die Ästhetik widerspiegelnde Kleidung, Dekoration und weitere, in eine ähnliche Kerbe schlagende Romane und Filme wie Kill Your Darlings parat. Sie sollen die Vibes des verschworenen akademischen Freundeskreises evozieren, in den der Ich-Erzähler Richard Papen hineingezogen wird.
„Schönheit ist Schrecken“
Was genau macht dieses ästhetische Programm aus? Es stützt sich auf das Elitäre, Bildungsbürgerliche, auf die Romantisierung der akademischen Arbeit. Es geht darum, das Leben dem Lernen, Lesen und Schreiben zu widmen, ein Geistesmensch zu sein. Und das ganze bei Kerzenschein, vor einem Bücherregal voller Klassiker, auf dem Tisch ein überquellender Aschenbecher nebst weiteren Stimulanzien, die Kreativität, Innovation und Tatendrang fördern sollen. Ihre Anhänger*innen glorifizieren geschlossene Welten, Internate und Colleges, weit weg von (elterlichen) Einflüssen, von denen man sich zu emanzipieren sucht. Es geht um die Zurückgezogenheit, darum, sich ganz der geistigen Arbeit zu widmen – und vielleicht auch den dunklen Seiten der menschlichen Existenz, die den düsteren Teil des Lebens nach den Prinzipien der Dark Academia bilden.
Diese Verbindung von Dunkelheit, von Sünde und Schuld, nobler und feinsinniger Kultur verordnet der so seltsame wie mit seinem immensen Wissen und kulturellen Kapital beeindruckende Professor Julian Morrow programmatisch für das Leben seiner exklusiven Anhängerschaft. Neben Richard Papen besteht sie aus dem Anführer der Gruppe Henry Winter, den Zwillingen Charles und Camilla Macauley, dem reichen Bonvivant Francis Abernathy, und aus Edmund Corcoran, genannt Bunny, dessen gewaltsamer Tod durch seine Freunde herbeigeführt wird – ein Mord, der schon im ersten Satz des Romans offenbart wird.
„Schönheit ist Schrecken“, heißt es, „was immer wir schön nennen, wir erzittern davor.“ Und das funktioniert auch umgekehrt. Dem Schrecklichen wohnt eine Schönheit inne, die elektrisiert. Von Bunnys gewaltsamen Tod geht eine Faszination aus, der wir uns als Leser*innen nicht entziehen können. Wir finden Gründe und Entschuldigungen, warum Henry einen nahezu perfekten Plan ausheckt, wie er seinen früheren Freund Bunny aus dem Weg räumen kann. Wie verzeihen der Gruppe ihre Fehler – zumindest über ziemlich weite Strecken.
Einem Teil der Rezipient*innen scheint nicht klar zu sein, dass diese Romantisierung des zurückgezogenen Gelehrtendaseins, immer haarscharf am Abgrund des Bösen vorbeischrammend, nur bedingt trägt. Zu gerne lässt man – auch ich – sich vom ätherischen Charme der Figuren einlullen und vergisst dabei, die Klischees, die Vorstellungen, die der Roman entwirft, mit der Realität abzugleichen. Dabei ist es doch ziemlich offensichtlich, dass Tartt – sobald der perfide Mordplan an Bunny umgesetzt ist – auch die Dekonstruktion dieser Kulisse vornimmt, die Fehler und die Folgen einer solchen Tat offenbart. Enthüllungen wie Charles‘ Alkoholproblem sind als Demaskierung zu lesen, als klares Statement, dass weder der Geniegedanke funktioniert noch die Beschwörung eines engen Zirkels, den das gemeinsame Verbrechen vereint.
Diese Desillusionierung, die in der Struktur des Romans angelegt ist, wird aber nicht von allen gegenwärtigen Rezipient*innen wahrgenommen. Auf Tiktok kann vor allem Henry Winter, als Mastermind der Gruppe, weibliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er ist ein Mörder und breitet sein extremes Charisma trotzdem auch auf die Leser*innen aus. So wird der weniger charmante Teil seines Charakters überlesen und bewusst ignoriert „because he’s smart and hot.“
Es ist cool und aufregend und erfüllt natürlich auch ein Bedürfnis danach, anders zu sein, wenn man die vielen Red Flags absichtlich übersieht, die Henry mit sich bringt – es ist ein bisschen gefährlich, Angstlust stellt sich ein, aber auch ein Gefühl von „I can fix him“: „He’s a ten but is a pathological liar, killed his best friend, refused to take the SAT because it didn’t match his aesthetic, performs rituals after murder, didn’t finish high school, plans to live off his parents money, and speaks 8 languages.“
Vielleicht liegt der Reiz einer solchen Figur auch darin, dass man sich mit ihr einer Fiktion hingeben kann, die gerade deshalb so aufregend ist, weil sie sich unmöglich in die Realität übersetzen lässt. Henry kann sich – ohne jegliche Verpflichtung zu irgendeiner Glaubwürdigkeit – Dinge herausnehmen, die uns als Leser*innen verwehrt bleiben. Kein normaler Mensch kann sich entscheiden, die SATs, also das amerikanische Abituräquivalent, aus „ästhetischen Gründen“ nicht zu schreiben. Henry ist eine fiktionale Figur, auf die sich das Bedürfnis projizieren lässt, frei von schulischen oder notenbedingten Zwängen, vielleicht auch frei von Druck, den andere einem machen und nur durch eigenen Antrieb ein intellektuelles Leben zu führen.
Die snobistische Überheblichkeit, die er, auch im Vergleich zum Rest des Freundeskreises nochmal besonders überhöht, an den Tag legt, erscheint für einen Studenten unplausibel . Der Geniegedanke umfasst dabei nicht nur Henry, sondern auch die Autorin, die ebenso zurückgezogen lebt wie das Griechischseminar: Nur alle zehn Jahre kommt ein neues Buch von ihr, das macht auch sie rätselhaft und geheimnisvoll. Man kann sie idolisieren, weil man ihr gar nicht so nahekommen kann, dass man einen möglichen „fatal flaw“ bemerken müsste.
In dieser Glorifizierung und Ästhetisierung von einer Art kollektiven Fehllektüre zu sprechen, geht allerdings zu weit. Der Begriff „Fehllektüre“ impliziert ja schon, dass es eine korrekte Lesart geben könnte. Man muss sich aber fragen, ob man Menschen wirklich vorwerfen kann, dass sie falsch lesen. Wäre nicht auch das eine Art der Überheblichkeit, zu sagen, nur ich habe dieses Buch wirklich verstanden? Lesen ist ein individueller Prozess, aber es scheint sich hier doch eine Art kollektiv vorgegebene Lesart abzuzeichnen, wenn man auf die sozialen Medien schaut. Der soziale Einfluss gibt eine Rezeptionshaltung vor, man weiß schon, wie man zu lesen und was man zu erwarten hat. Man findet dort Einschätzungen wie diese: Bunny verdient es zu sterben und Henrys umfassende Bildung ist hot, die ästhetischen Werte sind wichtiger als die moralischen.
Damit wird ein Distinktionsbedürfnis erfüllt, das wiederum FOMO kreiert, die natürlich durch die Perpetuierung in den sozialen Medien noch gesteigert wird. Das Buch nur zu lesen, reicht nicht mehr, die Lektüre muss zu einer immersiven Sinneserfahrung werden, die von Musik, Kleidung und einer unbedingten Orientierung an den Geisteswissenschaften getragen wird. Das zeigt auch der Trend auf TikTok, der unter dem Signum „You forgot your Colleen Hoover book“ firmiert – es werden Bücherstapel gezeigt, die klarmachen sollen, dass die betreffende Person natürlich auf keinen Fall, niemals ein Buch von Colleen Hoover lesen würde, insinuierend, dass das selbstverständlich nicht den eigenen Ansprüchen und dem Niveau genügen würde. Stattdessen werden Tartt, Camus, Dostojewski in die Kamera gehalten, die zeigen sollen: Ich grenze mich vom Lesepöbel ab, ich bin klug genug, den schwierigen Kanon zu lesen, Romance Novels sind unter meiner Würde, ich bin belesen.
„I am nothing in my soul if not obsessive“
Darüber hinaus unterläuft Tartt Genrekonventionen. Ihr Roman widersetzt sich dem klassischen Schema eines Whodunnit. Sex und Mord finden größtenteils außerhalb der erzählten Handlung statt. Wir sind Richards Innenwelt und damit seiner doch eingeschränkten Sicht verpflichtet, die von Anfang an eine Außenseiterperspektive ist. Richard, der aus einer kleinbürgerlichen Familie aus Kalifornien stammt, und der seiner eigenen obsessiv-akademischen Natur gegen den erklärten Widerstand seiner Eltern folgt, stößt im ländlichen Vermont auf einen schon bestehenden Kreis aus Griechischstudierenden. Er wird zunächst widerwillig und auch nur oberflächlich aufgenommen: Die Gruppe verbirgt Geheimnisse und schließt Richard ständig aus. Dem Grund dafür kommen wir nur langsam auf die Spur.
Der Kreis der Fünf ist freundlich, doch ihre Reserviertheit tritt uns auf jeder Seite entgegen. Wir ahnen, zusammen mit Richard, dass etwas nicht stimmt. Dass die faszinierenden Philosophien, die sie mit ihrem Lehrer Julian teilen, nicht nur Gedankenspiele sind. Tartt führt uns in ihrem Roman Schritt für Schritt an die Schattenseiten dieser morbiden Ästhetik heran. Wir haben verstanden, dass der, der sich dem „fatal flaw“, der im Deutschen nicht so ganz treffend mit „Keim des Verderbens“ übersetzt wird, dem „morbiden Verlangen nach dem Pittoresken um jeden Preis“ verschreibt, diesen Weg auch bis zum Ende, bis zum Äußersten gehen muss. So wie Richard. „I am nothing in my soul if not obsessive”, gibt er uns schon von Beginn seiner Geschichte an zu verstehen, ein Satz, der sich in der deutschen Übersetzung so merkwürdigerweise nicht findet.
Die Autorin hat reiche Charaktere geschaffen, jede Figur hat eine eigene Story im Hintergrund, keine ist nur Komparse. Alle, die auftreten, haben eine Aufgabe in der Geschichte, noch die geringste Nebenfigur ist fast physisch greifbar, wie die heimliche Heldin Judy Poovey. Mit ihr zieht Richard einige Lines Kokain auf dem Burger-King-Parkplatz, sie ist die Trailer-Park-Princess, die das Gegenteil zur ätherisch-elitären Camilla darstellt und für ihn das Brückenstück zum restlichen, zumindest ein wenig normaleren College-Leben bildet. Hampden College wird so zu einem lebendigen Paralleluniversum, in dem wir uns verlieren, in dem wir an die Macht von Worten, von Literatur und an ihre berückende Kraft glauben können.
„Weil es gefährlich ist, die Existenz des Irrationalen zu ignorieren“
Wir wissen aber, dass dieses Märchen nicht gut ausgehen kann. Tartt verrät uns alles, was normalerweise die Spannung eines Kriminalromans, eines Whodunnit ausmachen würde. Und genau das ist die Stärke von The Secret History. Die Geschichte lässt sich nicht in ein Genre pressen, sie ist Krimi und Bildungsroman zugleich, enthält Elemente der griechischen Tragödie und der Nietzscheanischen Philosophie. Selten schaffen es Autor*innen, noch dazu mit ihrem Erstlingswerk, so eine eigenständige, wiedererkennbare und doch auch mitreißende Sprache zu entwickeln. Auf den etwa 700 Seiten gibt es auch nach mehrfacher Lektüre immer noch einen perfekten Nebensatz zu entdecken, der sich in neuem Licht offenbart. Vielleicht ist auch das ein Grund, weshalb sich das Buch nun schon dreißig Jahre halten kann.
Da kann die literarische Mode, die sich aus dem Hype spinnt, nur bedingt mithalten. Ein Buch wie If We Were Villains kopiert stumpf die Prämisse der Secret History, ist aber nicht in der Lage, die Rätselhaftigkeit und den sprachlichen und figürlichen Reichtum des ‚Originals‘ nachzuahmen. Dennoch funktioniert der Trend, vor allem für jene Leser*innen, die nach Schemata lesen: Comfort Reader wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie ein Buch kaufen, das als Dark Academia vermarktet wird. Der Buchmarkt freut sich. Ob die Nachahmer mit dem Blueprint in literarischer Hinsicht mithalten oder nicht, ist egal. Wenn es so vermarktet wird und dann auch noch auf einer TikTok-Empfehlungsliste für DA-Bücher auftaucht, wird es gekauft.
Warum hat diese Ästhetik des Gelehrten und gleichzeitig in Abgründe des Moralischen blickenden so viel Identifikationspotential? Und warum vor allem jetzt, wo die Geisteswissenschaften überall wenn nicht zusammengestrichen, so doch finanziell systematisch ausgehungert werden? Wahrscheinlich ist Wissen zum Selbstzweck weiterhin Sehnsuchtsziel – und was eignet sich dafür besser als eine tote Sprache, die dieses hehre Ideal vollumfänglich verkörpert und dem Ganzen eine gute Prise kribbelnder Angstlust hinzufügt? Hampden College ist eine Welt, in der dieser Niedergang zumindest zeitweise aufgehalten wird.
In der Freundesgruppe unterliegt einzig Richard dem neoliberalen Verwertungszwang, später einen ‚sinnvollen‘, das heißt in erster Linie Geld bringenden Job finden zu müssen, alle anderen können sich der Illusion hingeben, dass eine klassische geisteswissenschaftliche Bildung noch etwas zählt. Eine Illusion, der auch ich als Leserin mich nur zu gerne überlassen würde. Auch die Sehnsucht nach Bildung als Weltauslegung, die so nicht mehr vorgesehen ist, dürfte eine Rolle spielen: Eine umfassende (Aus-)bildung im Sinne historischer Bildungsideale ist so nicht mehr möglich, aber Tartt gibt einem den Funken einer Idee, wie es sein könnte.
Dass sich die Diskussion um Dark Academia dabei so sehr an Tartts Debüt aufhängt, liegt daran, dass es zum Kultbuch gediehen ist, das Distinktion und Identifikation verzahnt und auf mehreren Ebenen ermöglicht: Die Charaktere, besonders Francis, sind queer-coded, literaturaffin wie es ihre Leser*innen sind (oder zumindest sein wollen) und modebewusst. Sie tragen hochwertige, maßgeschneiderte Tweed-Anzüge, Bunny macht sich darüber lustig, dass Richards (ungebildete und ärmliche) Mutter wohl Polyester-Hosenanzüge trägt.
Gleichzeitig werden auch das Außenseitertum Richards und die damit verbundene Scham zum identifikatorischen Potential: Er gehört nie so ganz dazu, bekommt die abgelegten Anzüge von Henry und Francis oder kauft im Second-Hand-Shop der Heilsarme. Er traut sich nicht, den Freunden zu erzählen, dass er während der Semesterferien keinen Schlafplatz hat. Lieber erfriert er fast, als zuzugeben, kein Geld zu haben und nicht zu den Eltern zu können, für die er sich schämt. Tartt schafft Prototypen, die in ihrer Übersteigerung klare Orientierungspfeiler ausmachen in Zeiten, in denen vieles unklar, schwammig, orientierunglos erscheint. Dieses Orientierungs- und Weltauslegungsbedürfnis spiegelt sich denn auch in der gesamten Ästhetik wider, die hier bedient wird: Dorische Säulen sind so tradiert, in ihrer Schönheit so zeitlos wie die Nocturnes von Chopin, die Texte von Dostojewski und traditionsreiche Herrenausstatter wie Knize und Brandstetter. Und trotzdem bilden die Grundpfeiler kein strenges Korsett, sondern einen Möglichkeitsraum: Wer Shakespeare, Homer oder die Brontes gut genug kennt, kann sie queeren, kann die eigene Identität vor dieser Folie entfalten.
Das ist eine Entfaltungsoffenheit, die auch den Reiz des Buches ausmacht: Man muss die Desillusionierung der Geschichte nicht mitmachen, es gibt keinen Zwang, alle Stränge aufzuklären, die Rezipient*innen können sich dafür entscheiden, sich der Romantisierung hinzugeben – ob sie nun trägt oder nicht ist egal. Aus den Träumen der Fiktion muss niemand erwachen.