von Martin Seng
CN: sexualisierte Gewalt
Durch ein Erdbeben in den japanischen Bergen kommt etwas zum Vorschein, das viele Menschen auf mysteriöse Weise anzieht. Es sind Löcher in Form von Menschen, mal größer, mal kleiner, breiter oder höher, doch immer so geformt, dass man in sie hineintreten kann. Immer mehr Schaulustige wollen sich dieses Phänomen in der sogenannten Amigara-Spalte ansehen. Viele von ihnen wollen selbst in die Löcher steigen. Sie glauben, dass es speziell für sie zugeschnittene Löcher gibt, in die nur ihr individueller Körper hineinpasst. Und tatsächlich verschwinden immer mehr Fanatiker:innen im Berg, in dem sie sich Millimeter um Millimeter nach vorne bewegen, während das Gestein sie weiter umhüllt. Ist man erst einmal in ihnen verschwunden, wird man unerreichbar. Doch die Menschen jauchzen, wenn sie „ihr“ Loch entdecken, sind nicht mehr zurückzuhalten und stürzen sich hinein. Sie geben sich der Felswand hin und verschwinden euphorisch im Dunkeln des Berges.
Die Kurzgeschichte „Der Spuk in der Amigara-Spalte“ stellt die Quintessenz des Schaffens des japanischen Manga-Autors Junji Itō dar. Die Erzählung ist von der ersten Seite an beängstigend, hat etwas Reales, beinahe Dokumentarisches an sich, versprüht mit jedem neuen Bild eine bedrohliche Atmosphäre und ist trotz verschiedenen Erklärungsansätzen nicht greifbar. Wollen die Menschen sich selbst vernichten, indem sie sich in die Spalten hineinwerfen? Ist es ein Todeswunsch, der sie hineinzieht? Gar etwas Übernatürliches? Oder ist es doch nur der Drang, sich einer ungewissen Gefahr auszusetzen? Itō setzt seinen Leser:innen nicht mehr als eine Idee in den Kopf. Wohin sie sich entwickelt und welche Wendungen sie nimmt, überlässt er ihnen. Damit ist der 59-jährige eine Anomalie, ein Unikat in der Manga-Kultur. Doch handeln seine Geschichten nicht nur von Felsspalten, sie erzählen von kleinen Dörfern, die vom Unheil heimgesucht werden, von unsterblichen Entitäten, von bösartigen Geistern in Spiegeln und davon, dass Lachen plötzlich zum Tode führt.
In vielerlei Hinsicht erinnert die Vielfalt, aber auch die kontroversen Inhalte Itōs an Stephen King, den populärsten und kommerziell erfolgreichsten Horror-Autor. Zwar spielt keine von den japanischen Horrorgeschichten in einer Kleinstadt in Maine, doch auffallend oft ist es ein überschaubares Dorf am Rande des Wassers, abgeschottet von der Außenwelt. Religiosität und das Übernatürliche sind wiederkehrende Themen, wie auch die Natur, die sich am Menschen zu rächen scheint. Das Grauen bei Itō ist so vielfältig wie das bei King und in Japan kann der Zeichner sich durchaus mit dessen Popularität messen.
Inzwischen hat der Hype um Itōs verstörende Geschichten auch den europäischen Raum ergriffen. Wie eine Welle, die ebenso einer seiner düsteren Zeichnungen entsprungen sein könnte, sind die einzigartigen Erzählungen über die Verlage gekommen. In Deutschland wird der Autor vom Hamburger Carlsen Verlag publiziert. Im Gespräch mit Kai-Steffen Schwarz, dem Carlsen-Manga-Programmleiter, findet dieser deutliche Worte zu Itō: „Innerhalb der Horror-Sparte bei Carlsen Manga ist Itō für uns der beliebteste und somit ‚wichtigste‘ Mangaka.“ Der Verlag hat 2013 angefangen, die japanischen Horror-Mangas zu verlegen. Seitdem ist das Angebot von Itōs Mangas stark angestiegen und seine großen Werke sind inzwischen in der 8. Auflage.
Laut Steffen-Schwarz sind seitdem über 100.000 Exemplare verkauft worden. Damit sei Itō im Segment Horror schlichtweg konkurrenzlos. Er spricht von einer „festen Säule“ und dass seine Popularität auch in den USA und Frankreich enorm zugenommen habe. Der Mangaka zieht längst über seine eigenen Landesgrenzen hinaus Millionen Leser:innen in seinen Bann. Doch ist das eine Faszination, die nur schwer anhand eines Aspekts der Werk zu beschreiben ist. Man möchte das Grauen greifen und festhalten, das auf jeder Seite von Itōs Mangas beheimatet ist. Man will analysieren und verstehen, warum man plötzlich von den Bildern angezogen, regelrecht hypnotisiert wird. Doch sobald man versucht es zu ergründen, windet sich das Gefühl, entzieht sich einer klaren Zuordnung und verdreht sich. So ergeht es auch den Figuren in „Uzumaki“, einem von Itōs berühmtesten und erschreckendsten Werke.
Die dreiteilige Reihe ist eine Ansammlung von Kurzgeschichten, die allesamt im fiktiven Dorf Kurouzu spielen. Es ist eine Chronologie des Wahnsinns und wie die Bevölkerung sich manisch in diesen hineinsteigert, um letztlich den Verstand zu verlieren. Von Spiralen besessen – das ist nicht nur der Name des ersten Kapitels, sondern auch der Grund für die Bizarrerien, die das Dorf ergreifen. Plötzlich nimmt alles die Form einer Spirale an. Blumen drehen sich ineinander, die Haare von Schulmädchen werden spiralförmig und Menschen verdrehen ihre Körper auf groteske Weise, damit sie einer Spirale ähneln. Schließlich verwandelt sich das gesamte Dorf in eine Spirale, die aus Verrücktheit und Grauen besteht. Über drei Bände hinweg zeichnet Itō Bilder, von denen eines verstörender als das andere wirkt, doch kann man sich diesem Abstieg in das Delirium auch nicht entziehen. Als Leser:in folgt man der Spirale hinab in die Tiefe, in der Hoffnung ihren Ursprung zu erkunden. Doch erreicht man die letzte Seite, bleibt die Auflösung aus. Der Grund für den Horror wird nicht erklärt und es bleibt einem selbst überlassen, den Sinn in dieser Spirale zu erkennen.
Itōs zentrales Thema sind der menschliche Verstand und dessen Grenzen. Damit orientiert er sich an einem seiner großen Vorbilder, H. P. Lovecraft. Mit seinen Geschichten um kosmische Gottheiten hat Lovecraft einen Horror erschaffen, der übernatürlich und schwer zu fassen ist. Alles erscheint überlebensgroß. Zeit und Raum und das Individuum verlieren angesichts dieser Größe seine Bedeutung. Ähnlich, nur in einem etwas kleineren Maßstab, verhält es sich bei Itō. Seine Bilder sind tiefgründig, auch wenn der nüchterne Zeichenstil zuweilen noch an Skizzen erinnert und seine Charaktere im Angesicht des Horrors, der über sie kommt, oftmals machtlos wirken. Itō bringt das Ungreifbare zu Papier, ohne es direkt sichtbar zu machen.
In einem Interview mit dem US-amerikanischen Manga Verlag Viz Media sprach Itō über die Inhalte seiner Geschichten, insbesondere die Obsession und die Grenzen zum Wahnsinn. Sein Geheimnis, um jemanden Angst zu machen: ihn mit dem Unbekannten konfrontieren. Eine Technik, die er in seinen meist kurzen, aber dafür umso intensiveren Geschichten perfektioniert hat. Doch Itō übt auch Selbstkritik und das mit einer Offenheit, wie man sie von Autor:innen nur selten zu hören bekommt. So spricht er davon, dass sein Quell an Ideen langsam am Austrocknen sei und seine Zeichnungen sich in seiner Karriere nur wenig weiterentwickelt hätten.
Doch selbst wenn seine Kreativität versiegen sollte, ist Itō längst eine Größe geworden, die ihresgleichen sucht. Bereits mit seinem Debüt 1987 sorgte der Zeichner für Aufsehen. „Tomie“ erschien über dreizehn Jahre hinweg in dem japanischen Horrormagazin Monthly Halloween und etablierte sich schnell als Klassiker. Die namensgebende Tomie ist – wie so oft bei Itō – ein junges Schulmädchen, das bekannt für ihre Schönheit ist und zum Opfer eines Gewaltakts wird. Sie wird zerstückelt aufgefunden, eine Täter:in gibt es nicht. Dann steht Tomie plötzlich wieder in der Klasse, nicht wissend, was passiert ist und wer sie ermordet hat. Es stellt sich heraus, dass sie durch einen Unfall starb und die gesamte Klasse sie in Stücke zerlegt und sich ihrer entledigt hat. Ihre unerwartete Rückkehr stürzt viele der Klassenmitglieder in den Wahnsinn, die sich daraufhin das Leben nehmen.
In den weiteren Texten der Anthologie taucht die Figur Tomie immer wieder als Femme fatale auf, die Männern den Verstand raubt. Männer töten sich gegenseitig für sie, wollen sie an sich reißen und nehmen sie gefangen. Tomies Sexualität steht dabei nicht im Mittelpunkt, vielmehr zieht sie die Männer durch ihre Aura sirenenartig zu sich. Das ultimative Ziel scheint jedes Mal dasselbe zu sein: Das Mädchen auf grausame Weise zu töten. Immer wieder wird sie das Opfer ekelerregender Gewaltdelikte, eines abscheulicher als der andere. Und doch ist es das Mädchen, das zurückkommt, vergleichbar mit dem Naturphänomen eines Virus, das sich bei der Teilung sogar vervielfältigt.
Bereits in seinem Debüt blieb bei Itō vieles ungesagt. Die Lesart dieser Geschichten ist bei Fans umstritten und während manche sie misogyn finden, sehen andere in ihr einen zynischen Kommentar über die Darstellung von Gewalt. Ist es die Manga Version des Rape-And-Revenge-Genre der 1970er Jahre? Oder ein Kommentar über die hohe Selbstmordrate Japans und seine zutiefst patriarchale Gesellschaft? Geht es darum, Femiziden und dem Stalking-Problem des Landes anzuprangern? Oder handelt es sich doch nur um plumpes Schockpotential, das bei „Tomie“ ausgereizt wird?
Ähnliche Fragen stellen sich bei „Remina“, einem von Itōs neuesten Werken. In diesem wird ein Mädchen Opfer einer Vergewaltigung. Der männliche Täter erwartet Sex, weil er doch „nett“ zu ihr war. Ist das letztendlich der Horror, der schon Jahrzehnte zuvor im Subtext von „Tomie“ zu erkennen war? Männliche Erwartungshaltung und die Besitzergreifung von Frauen? Oder ist das eine übertriebene Interpretation? Itō liefert darauf keine endgültigen Antworten. So wirken seine Werke allesamt ambivalent. Gemeinsam haben sie den Schrecken, den sie ihren Leser:innen einjagen. Doch die Gründe dafür variieren.
Seine erratischen Bilder haben Itō bereits drei Mal einen Will Eisner Award beschert, eine der höchsten Ehren der Comic- und Manga-Szene. Zudem ist nicht nur der Carlsen Verlag glücklich mit den Auflagen. Die Popularität des Autors hat mehrere Filmadaptionen nach sich gezogen, neben einer Netflix-Serie wird das Werk „Uzumaki“ als Anime adaptiert. Junji Itō spricht eine beachtliche Masse an Leser:innen an. Seine kafkaesken Inhalte treffen einen Nerv und bieten Raum für Interprationen. Man kann vieles in seine Werke hineinlesen, gar überlesen oder auch überinterpretieren. Denn ehe man sich versieht, hat man sich selbst in einer Spirale verloren. Einer Spirale aus Überlegungen, Gedanken, Gewalt, Ekel, Abscheu und Faszination für all das.
Beitragsbild von Roland Meyer. Prompt: a man-shaped hole in the mountain, in the form of the human figure, documentary photograph, black and white, Japanese, vintage print, –ar 16:7