In (Markt-)Zeiten, in denen der gähnend-gängige 220-seitige Roman mit seiner leicht kaubaren Zeitgenossenschaft Erfolge feiert, ist es gewagt, sich als Debütant für Erzählungen zu entscheiden. Mit „Der böse Mensch“ geht der 1983 geborene Lorenz Just dennoch diesen Weg. Natürlich gibt es auch bei Erzählbänden erfolgreiche Vorgängerbeispiele, etwa „Sommerhaus, später“ (1998) von Judith Hermann. Auch Karen Köhler legte mit „Wir haben Raketen geangelt“ 2014 einen vielbeachteten Band vor; zuletzt wagte sich Jan Snela mit seinen sprachverliebten Erzählungen („Milchgesicht“) vor, u. a. wurde er 2016 mit dem Clemens-Brentano-Preis ausgezeichnet. Aber der Standard-Einstieg in den Betrieb führt über die Gattung Roman.
„Der böse Mensch“ ist bei Dumont erschienen und trägt sechzehn Erzählungen zusammen, die nicht kürzer als drei, nicht länger als fünfzehn Seiten sind. Wäre das Wort „experimentell“ nicht so abgelutscht wie ein Leckstein in einem verwahrlosten Ponyhof, ließe es sich auf viele der Geschichten anwenden, an seiner Stelle seien einige adjektivische Gegenvorschläge aufgezählt: Die Texte sind eigensinnig, konzeptuell, ideenzentriert bzw. anti-realistisch. In „Aus dem Tagebuch meines Bruders“ denkt ein Künstler etwa penetrant-zenhaft über Ursprung und Ausmaß seines Schaffens nach: „Ich versuche, etwas zu tun, und doch bleibt jede meiner Bewegungen das Gegenteil einer Tat: erbärmliche Zuckungen menschlichen Irrsinns.“ In „Bildbeschreibung“ wird in gedehnter, fast schon zeitenthobener Sprache eine Szenerie beschrieben. Aber was ist hier Handlung, was Deskription? Oder ist die Deskription die Handlung? Und was ist wichtiger: dass etwas Außerordentliches passiert oder dass etwas in äußerster Präzision beschrieben wird?
Schnell merkt man: In seinem Erstling liefert Lorenz Just keine handelsüblichen Geschichten ab. Es sind im besten Sinne Sprachstücke, kleine vernarrte Texte, die sich selbst erkunden. In der Erzählung „Kalt genug“, die von einem schwierigen Bruderverhältnis handelt, heißt es gleich auf der zweiten Seite: „Wolfgang lief zurück in die Garage, winkte Georg heran, der ihm wie durch eine gläserne Wand hindurch zugeschaut hatte.“ In seinem (tollen und leider nicht übersetzten) Buch „Faire le garҫon“ drückt sich der Schweizer Autor Jérôme Meizoz an einer Stelle ganz ähnlich aus: „Très tôt, le garçon a dû voir tout cela sur une sorte d’écran, à distance. Entre lui et le monde, quelque chose s’est vitrifié.“ („Sehr früh musste der Junge all dies auf einer Art Bildschirm betrachten. Zwischen ihm und der Welt hatte sich etwas verglast.“)
Buchstaben wie Hagelkörner
Tatsächlich kommt das Bild der Verglasung, der Trennung von einer Umgebung, die sich zugleich einsehen lässt, dem Stil von Just ziemlich nahe. In seinen Geschichten wird ein Fenster eingezogen, eine Schwelle gesetzt. Mit der Realität „hier draußen“ haben die Erzählungen wenig zu tun – und gerade deswegen gelingt es ihnen, eben diese Realität auf ihre andere Weise dingfest zu machen. Just ködert niemanden mit dem allzu lockenden und allzu falschen Versprechen, das Wort sei die Welt. An einer Stelle heißt es: „Von Anfang an, ich meine, vom ersten Buchstaben an, habe ich immer geschrieben, ein Buchstabe, zwei Buchstaben, drei, zuerst ohne zu wissen, wofür, welche Laute. Seiten voller Buchstaben, über das Blatt verteilt wie Hagelkörner oder Kratzspuren.“
Als Leserschaft bekommen wir live mit, wie sich eine Sprache ihre Welten erschafft, etwa durch den Einsatz einer Zoomtechnik, wie in „Der Bericht einer Reise“. Dort geht die Rede von einem Fremdling, der in einem kaum kontrollierten Erzählstrudel von seiner wirren Kindheit und seinem konfusen Ausreißen berichtet. Nichts wird klar, alles bleibt hängen. In einem dusteren Sog stolpert der Ich-Erzähler durch Landschaften, Städte und Stimmungen, an einer gefälligen Vermittlung ist ihm nicht gelegen: „Ihre Hände waren groß und kalt, wie ein enger Käfig umfassten sie meinen Kopf. Ihr breiter Mund öffnete sich, Speichel, der zwischen Ober- und Unterlippe hing, zog einen Faden und zersprang. Ein kalter, stechender Tropfen traf mein Auge. Etwas knackte, als die Gestalt langsam meinen Kopf meiner rechten Schulter zubog. Ich roch ihren Atem, der süßliche Geruch ließ mich hoffen.“
Sich etwas erlesen statt es zu erfahren
Diese Form der Stilkunst ist lobenswert kühn, auch deswegen, weil sie so gar nicht dem etablierten Lesegeschmäckle entspricht, den vielen Büchern, die sich damit zufriedengeben, mit dem Drei-Komponenten-Kleber zu hantieren: ein wenig Milieu, ein wenig Krise, ein wenig Subjektivität. Aus dem Zusammenrühren entstehen dann meistens lauwarme Geschichten, die weder so recht gelingen noch so richtig misslingen. Ihr Repertoire umfasst: Plattenbau, Altbauwohnung, Kleinstadt, dazu Jobfrust, Familienzwist oder Altersangst, aufgepeppt mit Bildern à la: „Das Leben fühlte sich an, als habe er statt Diesel Benzin getankt.“ Solche Texte lesen sich gut weg, weil sie akute Sujets oberflächlich verhandeln, und gerade deswegen geraten sie ebenso schnell in Vergessenheit. Dass Justs Erstling dieses Muster nicht bedient, macht ihn in seiner artistischen Standhaftigkeit so besonders (und) sympathisch.
Die alptraumhafte (sprach-)körperliche Verrenkung in „Der Bericht einer Reise“ schreitet indes voran, Zeile um Zeile, bis wir erneut auf das Glasige stoßen: „Auf den glänzenden Augäpfeln der Gestalt erkannte ich die Reflexion meines gläsernen Blicks.“ Hier greifen Beobachtung und Beobachtungsbeobachtung ineinander, das Grauen ist weniger ein erlebtes als ein erblicktes, wie auch die Bestürzung, die einen beim Lesen von „Der böse Mensch“ ergreift, keine erfahrene, sondern eine erlesene ist. Es passt jetzt einfach zu gut, um es nicht zu zitieren: Über die Beschaffenheit und Wirkung von Glas schrieb Walter Benjamin, es sei „nicht umsonst ein so hartes und glattes Material, an dem sich nichts festsetzt“, es sei „ein kaltes und nüchternes, denn die Dinge aus Glas haben keine Aura.“ Für Just gilt in etwas freier Weiterführung: An seinen kristallinen Erzählungen bleibt nichts haften, keine falsche Sentimentalität und keine illusorischen Schlieren, in ihrer Zurschaustellung sind sie gnadenlos klar.
Ein Erzählband als Grundlagenforschung
Bestimmte Schlagwörter in den Titeln zeigen es bereits an: „Bericht“, „Bildbeschreibung“, „Interview“, „Aus dem Tagebuch“, „Herrn Naumanns Notizen“ – viele der Erzählungen widmen sich einem narrativen Modus mit bestimmten strukturellen Vorgaben. In den letztgenannten Notizen wird in kurzen Absätzen beispielsweise eine Familienhistorie entfaltet. Als nüchterner Chronist hält ein Ich-Erzähler fest, welcher Ahne was gearbeitet hat, welche Verwandten welche Hoffnungen hegten und wieso der Vater als Apotheker glücklos bleiben musste. Auf der Suche nach familiärer Identität, dessen Fluchtpunkt er, der Ich-Erzähler ist, bleibt letztlich wenig mehr als die kühle Zufälligkeit des Stammbaums.
Und in „Interview mit Shana“ wird eine Auswanderin skizziert. Wieso ist sie Eddie in ein amerikanisches Indianerreservat gefolgt? Fühlt sie sich dort wohl? Indem Just seine Figur vermeintlich vor sich hin plaudern lässt, zieht er ihr unbemerkt den rhetorischen Schleier weg, in ihren Antworten steckt viel mehr als das nur oberflächlich Gesagte. Shanas frohgemute Naivität wird ebenso evident wie ihre hanebüchene Ignoranz, die an Selbstverleugnung grenzt: „Weißt Du, seit Jahren kämme ich Eddies Haare und flechte sie zu einem langen Zopf, sie waren schwarz, jetzt sind sie grau, irgendwann werden sie weiß sein, es ist, als würde ich das Schwarz aus seinen Haaren kämmen. Er hat mir diese Handlung geschenkt, er könnte es auch allein.“
Zugleich stört einen dieses breite Genre-Spektrum von „Der böse Mensch“ immer mal wieder, und irgendwann setzt sich der Eindruck fest: Diese Texte sind Grundlagenforschung, es sind disparate Etüden, mithilfe derer Just an seinen „Kompetenzen“ feilt. Seien die einzelnen Erzählungen noch so meisterlich und technisch sauber ausgeführt, ihnen hängt der Makel der Übung an: Sie sind noch nicht das Eigentliche, als virtuose Aufwärmerei gehen sie dem tatsächlichen Auftritt voraus. Und am Ende, nach 173 Seiten, geht der Blick, wie schon bei Pascal Richmanns „Über Deutschland, über alles“, zum hoffentlich nächsten Buch, in dem weniger geprobt wird – und das brillante Sprach- und Schreibbewusstsein stattdessen auf ein Projekt aus einem Guss angewandt wird.
Das klingt sehr vielversprechend, selbst wenn es dann noch nicht perfekt sein sollte. Ich sage ja schon lange, 95% aller Romane würden besser
auf Kurzprosa-Länge gekürzt. Aber ob man sich heut noch „entscheiden“ kann mit Kürze zu debütieren? Verlage wagen das nur selten, persönlich hatte ich schon ganz offene Absagen a la „Toller Text… muss 4 aber mal so lang sein, damit das verlegt werden kann“.