Autor: Samuel Hamen

Die Belange der Liebe. Über Anne Webers „Tal der Herrlichkeiten“

von Samuel Hamen

In ihrem „Tal der Herrlichkeiten“ braucht Anne Weber nicht viel, um ihre Hauptfigur in ihrer ganzen Erbarmungswürdigkeit zu porträtieren: einen Strand, ein Meerestier und einen vom Leben gezeichneten Mann, der sich kraftlos zu Boden fallen lässt. „In kaum einer Handbreit Entfernung, aber von Sperber ungesehen, lief ein Einsiedlerkrebs an ihm vorüber, mit einem Teil seiner Beine sein schützendes Gehäuse festhaltend, mit vier weiteren Haus und Leib vorwärtsbewegend, scheinbar unbekümmert, als wäre der Liegende kein ungleich größeres und somit bedrohliches Lebewesen, sondern eine angeschwemmte tote Robbe oder ein Stein.“

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Wer war Magda? – Ottessa Moshfegh: Der Tod in ihren Händen

von Samuel Hamen

 

Eine Notiz, die alles verändert: „Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.“ Vesta Guhl, die den Zettel bei einem Spaziergang findet, ist zuerst amüsiert, dann irritiert, schließlich fasziniert. Wer war Magda? Wer ist ihr Mörder? Und könnte sie, die unscheinbare Rentnerin, diesem Geheimnis nicht nachgehen? Weiterlesen

Menschentraum: Natur. Über Sophie Steins Roman „Amanecer“

von Samuel Hamen

 

Der Wunsch ist klipp und klar: sich zu versichern, der „Käpt’n“ der eigenen Seele zu sein. In ihrem Romandebüt schickt Sophie Stein hierfür eine Studentin namens Aziza für ein Auslandsjahr nach Nivaria. Bereits hier wird klar, dass Amanecer ein Buch der Überschreitung sein möchte: Nivaria ist der historische Name für Teneriffa, der seit Jahrhunderten außer Gebrauch ist. Mit dem Flugzeug auf Nivaria zu landen ist also vor allem eins: ein Statement, dass sich Zeiten und Orte ineinanderschieben lassen.

Auf der Insel lernt Aziza über ihre WG einige junge Leute kennen. Während einer gemeinsamen Wanderung sprechen sie über Baumwesen und Geister. Bevor Aziza (und mit ihr der Leser) sich vorsehen kann, wird sie den Guanchamánes vorgestellt, einer Gesellschaft, die sich der „Pflanzenkunde“ und „Mythenlehre“ verschrieben hat. Ihr Ziel? „Eine Art universelle Suche nach Sinn und Spiritualität.“ Die Rede ist von der Natur der Dinge und den Dingen der Natur, unterfüttert von einer Entfremdungsdiagnose, wie auch Anti-Moderne sie gerne aufstellen: Wir leben im Hier und Jetzt das flache, das falsche Leben. Dabei liegt die wahre Erkenntnis doch, so die Guanchamánes, in der Natur und im Traum, bestenfalls also: im Traum einer Vereinigung mit der Natur.

Das Wissen der Sekte

Für Aziza, die ob ihres Alters und ihres unsicheren Gemüts anfällig ist für solche existenzerweiternden Angebote, ist es auch ein Versprechen: Wenn sie erst eine tiefere Bewusstseinsstufe erreicht hat, kann sie sich, so ihre Hoffnung, mit dem Verschwinden ihrer Schwester ebenso auseinandersetzen wie mit dem Aufwachsen bei einer psychisch kranken Mutter. Es sind die Guanchamánes, die ihr die Möglichkeit an die Hand geben, sich zu emanzipieren: „Vermutlich hat ein Teil von mir immer damit gerechnet, dass etwas in der Art passieren würde. Hat sogar darauf gewartet, dass es passiert. Dieser Teil von mir empfindet nun eine gewisse Erleichterung. Denn er hat dem Schein der Welt nie getraut.“

Amanecer ist in vielerlei Hinsicht zeitgenössisch. Stein spürt dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur nach. Ihre Figuren und ihre Sprache geben sich dabei dem Reiz der „Mythenlehre“ hin, die auf einer binären Weltanschauung fußt, wie sie typisch ist für abgeschottete Communities: hier das Intensive, dort das Laue, hier das Wissen, dort das Know-How, hier die Nähe, dort die Distanz, hier das Leben, dort der Tod.

Dass die Gegenwart angeblich herabgewirtschaftet und tot ist, ist im Augenblick ein beliebter und je nach Deklinationsweise ziemlich konservativer Topos der Literatur. Die Diagnose taucht im ultraromantischen Manifest ebenso auf wie in den Debüts von Simon Strauß und Pascal Richmann. Stein ist sich dieser problematischen Konstellation durchaus bewusst. Dass der Traum, in den die Sekte in einem Labor versetzt wird, sich für einige als Albtraum erweist, in dem sich Grenzen zwischen Wachheit und Sedierung auflösen, das ist für die Autorin womöglich eine Art Absicherung, um darauf hinzuweisen, was passiert, wenn man sich einer Lehre dogmatisch hingibt: Es gibt keinen Ausweg mehr aus dem eigenen Kopf. Der letzte Satz von Amanecer markiert in dem Sinne das Ende einer solch gefährlichen Versenkung: „Wach auf.“

Ein Roman ohne kohärente Linie

Aber so richtig nehme ich dem Roman diese Ideologiekritik nicht ab, die wohl dazu dienen soll, die Rückbesinnung auf traditionelle lokale Wissenskulturen, wie die Guanchamánes sie betreiben, ex negativo zu legitimieren. Dafür ist Steins Sprache zu grandios, zu affirmativ vis-à-vis den Wundern des echten Lebens, die Aziza auf knapp zweihundert Seiten endlich erfahren darf: „Der Wal ist so nah, dass wir die Furchen und Seepocken auf seiner steingrauen Haut erkennen können. Ich blicke in sein geöffnetes Maul, größer als ich selbst, und auf das Hornplattendickicht, das sich darin zu einem außerirdischen Grinsen verzieht. In diesem Augenblick ist alle Düsternis aus meinem Innern fortgespült. Mein Herz ist ein sonnengewärmter Stein, der sich knackend ausdehnt.“

Bei alledem nimmt sich Stein, die Romanistik, Philosophie und Indologie studiert hat, etliche Freiheiten abseits des gängigen belletristischen Realismus – das ist eigentlich eine begrüßenswerte Abweichung vom Standard, gerade für eine Debütantin. Der Mimetismus, das heißt: das Konzept, durch eine möglichst getreue lineare Beschreibung der Welt als Text deren Erfahrbarkeit zu wiederholen, ist im derzeitigen Mischmasch aus Fiktionen, Semi-Fakes und Pseudo-Wahrheiten, eh an sein Ende gelangt. Mit seinen gestalterischen Mitteln kann er jedenfalls dem, was gerade im Flow der Medien und Wirklichkeiten abgeht, nicht gerecht werden. „Chaotisch, fragmentarisch, an- und abschwellend, zugleich unzusammenhängend und untrennbar verbunden, weigert sich dieser Roman, die Illusion einer kohärenten Linie zu erschaffen und das Chaos zu glätten.“ So schreibt die 1995 geborene Stein auf literaturkritik.de über António Lobo Antunes’ Roman Ich gehe wie ein Haus in Flammen. Damit hat sie ihr eigenes Programm eigentlich ziemlich gut umrissen.

Statt dann auch selbst gelungen anti-linear zu erzählen, verausgabt der Text sich in Bildern und Assoziationen. Was als Wildwuchsprosa gedacht ist, die abseits der abgetretenen Pfade nach allen Seiten hin ausschlägt, ist bei näherem Hinsehen vor allem dauerbenebelt in Anbetracht all der Adjektive und Metaphern, die sich aneinanderreihen lassen, um Azizas psychedelischer Wahrnehmung zu entsprechen. Durch die träumerische Entgrenzung, ein an sich interessantes Prinzip, um einen Text zu enthemmen, lässt sich in Amanecer sprachliche Hudelei so recht einfach als subjektivistische Opulenz ausgeben: „Die zarten Kämme der Dünung streichen luftig über den flachen Strand und lösen sich wie Kiemen schillernder Fische in Abendlicht auf. Ich muss mich mit dem Meer versöhnen, bevor ich gehe.“

Ein Insider-Text

Angetrieben wird Amanecer durch eine Ladung Naturphilosophie, ein wenig New-Age-Flair und ein bisschen Simulationstheorie, wie sie die Poststrukturalisten vor einigen Jahrzehnten vortrugen. Das führt aber nicht wirklich irgendwo hin, so interessant die Kombi auch ein mag, ergeben sich aus ihr doch dringliche Fragen danach, wie sich „terrestrisch leben“ (Bruno Latour) lässt, wie sich das Verhältnis des Menschen zur Erde neu denken und darstellen lässt. Aber vielleicht muss ein Roman, der sich der Immersion ins Naturhafte verschreibt, Tools wie Analyse, Selbst- und Diskurskritik größtenteils ausblenden, um an sein Ziel zu gelangen. In Amanecer gibt es jedenfalls keine überzeugende Instanz, die Natur-Kultur-Fantasien als das bezeichnet, was sie eben auch sein können: „unser kindisches Verlangen nach Rückkehr und Regress, der Zwang Raum und Zeit einzustülpen.“ (Eva Hayward)

Bis zuletzt fragte ich mich, zu welchem Zwecke denn nun alles dekonstruiert, mythisiert, verphilosophiert und renaturiert wird. Ist das ein ökologisches Manifest, gepaart mit einer Kritik in der Nachfolge der deutschen Romantik, die sich an einem Realismus stört, der es uns nicht erlaubt, die „wahren“ Probleme zu ahnen? Ist es ein feministisches Projekt, die „Geschichte der Vernunft“ (Hélène Cixous) hinter sich zu lassen, indem die Sprache intensiviert wird? („Ich bin vor seiner trübseligen Rationalität davongerannt, denn ich spreche diese Sprache nicht, ich fürchte mich vor ihrem dunklen Sog, in dem kein einziges Wort mehr seine ursprüngliche Bedeutung trägt, in dem ich mich nicht zurechtfinde.“) Oder ist es eine Abfuhr an jegliche Funktionalität – nichts als wuchernde Ästhetik, die vorführt, dass sich eine unbändige Welt nicht bändigen lässt, schon gar nicht in und durch Literatur?

Als Insider-Text, der er leider bis zum Schluss bleibt, kann sich Amencer dieser und anderer Fragen leichthin entledigen, indem er sich zuraunt, nach tieferen Regeln zu operieren – genau wie die Guanchamánes, die mehr wissen als der uneingeweihte Rest. Sicherlich kann man sich während des Lesens auch bedenkenlos der „Mythenlehre“ hingeben und dem Roman darüber zusätzliche Einsichten bzw. Genüsse abgewinnen. Aber jenen, die auch als Lesende Distanz als Gewinn, nicht als Verlust erachten, verwehrt Amanecer das, was er der Hauptfigur schenkt – die Möglichkeit einer Teilhabe: „Zurückgeblieben ist ein Gewirr aus kryptischen Symbolen, die mir nichts mehr sagen. Die Regenbogenzeichen haben aufgehört zu mir zu sprechen.“

 

 

Verhaltenslehren des Schmerzes. Valerie Fritschs „Herzklappen von Johnson & Johnson“

Schon früh erfährt die Hauptfigur in Valerie Fritschs neuem Roman, auf wie unterschiedliche Arten sich Menschen aus einer Welt zurückziehen, die nur Leid für sie bereithält. Almas Haus kommt der Heranwachsenden „beängstigend kulissenhaft“ vor, „brüchig zusammengezimmert“ von ihren Eltern, „wackelig und unstimmig in den Einzelheiten, als wären sie nur geborgt“. Vater und Mutter fügen sich ein in eine familiäre Entourage, bei der jedes Mitglied auf seine Weise verlernt hat, glücklich zu sein. Den Großvater lernt Alma als eingesunkenes Gespenst kennen, das aus sowjetischer Gefangenschaft zurückgekehrt war, ohne sich zurechtzufinden im sogenannten Wirtschaftswunder. Und zur Großmutter findet Alma erst als junge Erwachsene Zugang; in langen Gesprächen erzählt die Ältere der Jüngeren von einem Damals voller Kuriosa, bei dem nichts sprechender ist als das Schweigen über den gefallenen Bruder. Weiterlesen

Von wegen Ponyhof. Über Marieke Lucas Rijnevelds Roman „Was man sät“

In der ersten Szene reibt die Mutter die vier Kinder mit Eutersalbe ein, um sie gegen den Frost zu schützen. Eutersalbe – es ist eines von vielen Wörtern, an die man sich schnell gewöhnt in Marieke Lucas Rijnevelds Roman „Was man sät“. Dazu gesellen sich noch die Samenscheune, die Holzpantinen, der Scheuerschwamm und die Silageballen. Auf den ersten Blick ließe sich das Debüt der 1991 geborenen Rijneveld, das von Helga van Beuningen aus dem Niederländischen übersetzt wurde, durchaus als Milieuschilderung rubrizieren, in der das ärmliche Bauernleben in der Provinz portraitiert wird. Aber die soziale Topographie, die hier erkundet wird, ist nicht der Primärgegenstand des Romans. Das Leben auf dem Bauernhof ist der Hintergrund, vor dem sich eine Tragödie in vielen kleinen Szenen abspielt und die mit einem totalen Ereignis ihren Lauf nimmt.

Matthies, der älteste Sohn, ertrinkt, als er beim Schlittschuhfahren im See einbricht. Die initiale Katastrophe setzt den Rahmen für die kommenden etwas mehr als dreihundert Seiten. Die strenggläubigen Eltern versinken in Gram, den die 10-jährige Ich-Erzählerin ratlos und verängstigt festhält. Die Mutter isst nur mehr wenig und wird zum Automaten, der Dosensuppen aufwärmt und vor den Augen seiner Familie preisgibt: „Ich will sterben!“ Anschließend fegt sie die Kartoffelsprossen in den Abfalleimer für die Hühner. Der Vater arbeitet sich auf dem Hof wund: Die Kühe, die Kühe, die Kühe – alles andere gerät aus dem Blick. Und die Tochter? Sie kämpft mit Gefühlen, wie Judith Butler sie 2014 in einer Rede beschrieben hat:

„Trauer hat damit zu tun, dass man sich einer unerwünschten Transformation hingibt, wobei man weder die ganze Ausprägung noch die ganze Tragweite dieser Veränderung im Voraus erfassen kann. […] Was immer es ist, es ist nicht dem Willen unterworfen. Es ist eine Art Vernichtung. Man wird am hellichten Tag von Wellen getroffen, mitten bei der Arbeit. Und alles kommt zum Stillstand. Man taumelt, ja, stürzt.“ (Hier ist das Video der Rede, auf die ich beim Lesen von „Weinen“ stieß.)

„Aber sie haben doch ihren Gott!“, würde der Atheist an dieser Stelle einwenden. Beim Glauben geht’s doch gerade darum: den Tod zu deuten, ihn zu integrieren in die Praxis eines Lebens, das seinem Ende sekündlich entgegengeht. Rijnevelds Blick auf die Religion ist indes schonungslos: Denn die orthodox-calvinistische Kirche, zu der die Familie gehört, verspricht alles und hält nichts. Sie ist ein Rudiment, ein Ding wie ein Blinddarm, dem irgendwann mal eine Funktion zukam, die es indes längst eingebüßt hat. So schleppen die Eltern ihren Glauben als Mühsal mit sich herum und finden statt einer Antwort ein restriktives Weltbild, dem sie ihre Kinder unterwerfen.

Trauer und Stagnation

In das familiäre Leid treten die pubertären Nöte der Geschwister. Ein Verhältnis zum eigenen Körper, das auf aufrichtiger Lust beruht, ist ihnen nicht vergönnt. Alles ist Schuld und Scham und Schande. Bibelzitate über den Zorn Gottes ploppen wie Anti-Virus-Warnungen immer dann im Kopf der Erzählerin auf, wenn sie meint, etwas Unrechtes zu tun, zu spüren oder zu denken. Zugleich ist den drei Kindern die Neugierde nicht auszutreiben. Aber auf diesem Bauernhof der hilflosen Rigidität wird sie ausschließlich im perversen Gewaltakt Realität. Wenn diese Verlassenen und Verzweifelten in einer jaucheverpesteten Scheune mit Besamungsspritzen „spielen“, ist alles möglich – außer kindlichem Spaß:

„Obbe stellt sich auf einen umgedrehten Futterimer, so dass er besser drankommt, zielt mit dem Besamungsgerät zwischen Belles Pobacken und schiebt das kalte Metall ohne Vorwarnung in sie rein. Sie schreit auf wie ein verletztes Tier. Ich lasse vor Schreck ihre Pobacken los. „Bleib liegen“, sagt Obbe, „sonst tut es noch mehr weh.“ Tränen strömen über Belles Wangen, sie zittert am ganzen Leib.“

Die Romanstruktur ist so angelegt, dass auf den Tod des Bruders nichts mehr folgt. Die Zwangsmassenschlachtungen anlässlich der Maul-und-Klauenseuche, die den Vater an den Rand der Existenz und Verzweiflung drängen, sind nur das nachrichtliche Pendant zum totgeweihten Hofleben. Rijneveld will insgesamt keinen Parforce-Ritt durch die Trauerphasen inszenieren, wie die Psychologie sie seit den 1970er Jahren ausarbeitet: Auf Verweigerung und Ungläubigkeit folgen unkontrollierte Emotionen, die allmählich kanalisiert werden und zu Veränderungen führen. Am Ende steht ein aktualisiertes Selbstbild, der Umgang mit Tod und Verlust ist ein anderer geworden. Einen solchen Heilungsprozess verweigert die Autorin ihrer Hauptfigur. Wir werden vielmehr Zeuge einer innerlichen Stagnation, die auch zu einer Monotonie der Sprache und Szenen führt.

Hier bleibt eine Stimme stecken. Noch nach 260 Seiten steigert sich die Hauptfigur in teilweise überausgetüftelte Vergleiche über ihr Verlassen-Sein: „Ich habe vergessen, ein Eselsohr in die Seite zu machen, auf der ich war. Gäbe es nur jemanden, der das bei mir macht, damit ich weiß, wo ich bin und von wo aus ich meine Geschichte weiterleben muss.“ Nicht nur hier äußert sich weniger eine kindliche Figur als vielmehr eine Autorin, die einen ihrer vielen, vielen Einfälle unterbringen möchte. Selbst wenn wir der kindlichen Protagonisten zugestehen, im Laufe der Seiten eine Intelligenz der Trauer auszubilden, die sie zu kühnen Bildern animiert, bleibt ein Überschuss an symbolischer Prägnanz und Erwachsenen-Imagination. Immer mal wieder klemmt etwas; besonders wenn auf einer Seite zwei, drei solcher Bilder aufeinanderfolgen, offenbart sich dieser Kniff des Unterjubelns.

Wenn die Systeme scheitern

„Was man sät“ vermag dennoch zu überzeugen, weil es sich keinen fadenscheinigen Optimismus zugesteht. Sein humanistisches Commitment entfaltet der Roman dadurch, dass er seiner Heldin in die Kälte ihrer Gedanken folgt. Er nimmt ihre mal kindliche, mal kindische Verzweiflung ernst. Denn ihrer Armut, sei sie gedanklicher, inte oder materieller Art, kann die Erzählerin nicht entfliehen. Da hilft auch der Cheat nichts, den sie ihrem sadistisch-manipulativen Bruder entlockt, um ihren Figuren im Computerspiel The Sims mehr Geld zuzuschustern. (Er gibt ihr eh den falschen Code.)

Im Gegensatz zu ihrem Bruder Obbe kann die Ich-Erzählerin sich auch in keine Geschlechterschablonen flüchten. Während er sich zum Ende hin auf Dorffesten besäuft, erste sexuelle Erfahrungen sammelt und sich Chauvinismus und Machismus als Rüstung zulegt, bietet sich für sie keine vergleichbare Methode des Klarkommens. Judith Butlers Frage, ob denn „in der Fähigkeit zu trauern“ nicht eventuell eine „Quelle der Gewaltlosigkeit“ zu finden sei, die dabei helfe, „bei dem unerträglichen Verlust auszuharren, ohne ihn in Zerstörung umzuwandeln“, beantwortet Rijneveld mit der dunkelsten aller möglichen Antworten. Die Eutersalbe, die die Mutter anfangs auftrug, hält die Kälte auf den letzten gespenstischen Seiten nicht mehr ab, eine Kälte, die dann Einzug hält, wenn alle Systeme scheitern, die ein Leben zusammenhalten sollten.

Wie wir leben werden. Über Sina Kamala Kaufmanns Erzählband „Helle Materie“

Ronja, Paul, Jannik, Timo oder Lotte – ihre Figuren heißen, als seien sie einem Hauptstadt-Roman entlaufen und würden jeden Augenblick anfangen, über bodentiefe Fenster oder Bräunungsmittel für Parkettböden zu sprechen. Glücklicherweise hat Sina Kamala Kaufmann, das zeigen schon die ersten Seiten ihres Erzähldebüts, weit mehr vor, als desorientierte Twens an die Berliner Luft zu lassen.

Kleine Zukunftsstücke hat die 1985 geborene Autorin geschrieben, „nahphantastische Erzählungen“, wie der Verlag es nennt, in denen sie jeweils eine Komponente des heutigen Zusammenlebens weiterdenkt. In Wettbewerbungswochen radelt Lotte durch eine verfinsterte deutsche Stadt und weicht Schlaglöchern aus. Landesweit wird aus ökologischen Gründen Strom gespart. Städte und Gemeinden stehen im Wettbewerb miteinander, dem Sieger winken zusätzliche Feiertage und Subventionszuschüsse. Im Rahmen der Aktion sind alle Daten der Bevölkerung online einsehbar, die der Sparer ebenso wie die der Verschwender. Lotte zählt zu letzteren, sie hat sich illegal alte Glühbirnen über eBay besorgt, „die mit den Glühfäden, in denen man die sich bewegenden Elektronen fast noch sehen, zumindest aber erahnen kann“. Auf wenigen Seiten entwirft Kaufmann eine staatlich geförderte Kontroll- und Entsagungsgesellschaft, die sich wie die natürliche nächste Stufe des Effizienz-Öko-Gedankens ausnimmt. Hier greift ein Getriebe aus umweltethischem Argument, einer Praxis des Shamings und ein kollektiver Zwang reibungslos ineinander. Gegendarstellung: ausgeschlossen, mündiger Individualismus: unerwünscht.

Elastische Mini-Simulationen

An anderer Stelle ist bei Kamala wie selbstverständlich von Social-Network-ID-Kärtchen und alt-repräsentativen demokratischen Vertretern die Rede. Wer anders hätte hieraus eine langatmige und hyperevidente Dystopie gebastelt, Kaufmann hingegen greift diskursive Details auf, die gerade die Öffentlichkeit bestimmen, und überführt sie in prägnante Szenarien, ohne dabei diagnostischen Groß-Ansprüchen nachzugeben. Denn in „Helle Materie“ wird nichts manfred-spitzer-mäßig verdammt. Vielmehr benehmen sich Figuren und Erzähler so, als hätten sie gemerkt, dass sich etwas Neues anbahnt, ein Druckabfall, eine atmosphärische Verschiebung.Ein wenig sträuben sie sich dagegen, ein wenig machen sie mit – was bleibt ihnen auch anders übrig? Irgendwie muss man doch durch diese bizarr verformte Gegenwart navigieren, die nichts mehr nicht in Frage stellt.

In Opt-in-Slavery werden weltweit Milliardäre dazu verpflichtet, sich als Mäzene um Schützlinge zu kümmern, die sich ihnen in Bewerbungsvideos mit ihren Lebensprojekten vorstellen: „Ich will Ihre Unterstützung. Ich bin kein hoffnungsloser, sondern ein höchst spannender Fall!“ So richtet sich die verzweifelte Figur an ihre potentiellen Geldgeber, in der Hoffnung, endlich ausgewählt zu werden. Der Reiche zahlt auf diese Weise Steuern und darf entscheiden, was der Arme tun muss. So geht Steuerreform und schöne neue Arbeitswelt, so geht Social Gaming. Irgendwann, demnächst, womöglich.

Bei alledem gerät Kaufmann nie in den Panikkopf-Modus. Weder fuchtelt sie mit erhobenen Zeigefingern, noch setzt sie alarmistische Ausrufezeichen. Ihre Mini-Simulationen bleiben knapp und elastisch. Zugleich merkt man, dass hier aus den innersten Denkräumen der Gegenwart gesprochen wird. In der ersten Erzählung Nochmal, nochmal gibt’s eine Passage, die wie ein Motto fürs Buch klingt: „Und ich stand nun hier. Mitten in diesem Bild, in meinem Geschichtsbuch im 21. Jahrhundert.“ Durch das Jetzt-Museum stolpern, dabei Besucher und Ausstellungsobjekt zugleich sein – das ist die Rolle, die einem dieses bemerkenswerte Buch zuweist.

Ein Clown im Bundestag

Vielleicht hat sich die Katastrophe längst in das alltägliche Gehabe geschlichen, als Anlage, als Möglichkeit. Diese Ahnung arbeitet Kaufmann geschickt heraus und bewahrt dennoch eine mal muntere, mal bittere Verspieltheit. In einer ihrer Erzählungen wird die gefährdete Demokratie durch einen sogenannten Bundesnarren revitalisiert, der die politischen Systeme mit einer Mischung aus Clownerie, Reformeifer und Anpackmentalität aufwirbelt. Den Parlamentariern schreit er besoffen entgegen: „Ich zerstöre Ihr Vertrauen in das System und stelle Ihr Vertrauen in die Menschen wieder her!“ Wer will, denkt hier an eine gute Variante von Trump, an einen philanthropischen Demagogen. Am Ende stellt die Autorin ihren Reformkasperl in einer Hütte auf einem Tessiner Felsen ab, als habe sie keine Lust mehr auf die Figur, nachdem sie sie einige Seiten durch die tragischen Trümmer unseres Politsystems gescheucht hat.

Jede der zwölf Erzählungen wäre für sich genommen ein gutes Script für die Serie „Black Mirror“, in der technologische Entwicklungen zugespitzt werden, als Like-Autoritarismus oder Virtual-Reality-Gefängnis. Der Grusel-Effekt ist in beiden Fällen ein ähnlicher: Wir kriegen Denkbreschen geschlagen, die uns einen ersten Eindruck verschaffen, wohin es gehen könnte. Und wie weit wir auf diesem Weg bereits sind.  „Wie hatte das hier begonnen?“, fragt sich Timo in Eine Kleidergeschichte, einer Erzählung, die von einem anti-konsumistischen Aufstand namens Die Weiße Bewegung handelt. Die Gruppe trägt ausschließlich weiße Klamotten und feiert den kauffreien Montag als Moment des Widerstands. Nach und nach gewinnt die Bewegung an Fahrt, der Verfassungsschutz wird aktiv. Aber Timo findet im Laufe der Geschichte keine überzeugende Antwort, zu seltsam sind ihm seine Umwelt und sein Platz darin geworden.

Aber seine Frage hallt nach. Ja, wie hat es denn begonnen, das 21. Jahrhundert mit seinen spätkapitalistischen Selbstverständlichkeiten, seinen lässig einstudierten Gesten der Verweigerung und der mal hoffnungsfrohen, mal drohenden Idee, dass eine große Änderung bevorsteht? In ihrem bestechend hellsichtigen Buch erdreistet sich Sina Kamala Kaufmann nicht, eine vorschnelle bzw. einfache Antwort hierauf zu geben. Aber selten wurde die Frage so eindringlich, agil und lesenswert gestellt wie in ihren Erzählungen.

Im Dreieck springen oder Wer gewinnt den Funktionskampf der Literatur?

Ein schönes Wort: Verlustzusammenhang. Im Juni 2017 schickte die Literaturzeitschrift Volltext ihren Fragebogen „Zum Geschäft der Literaturkritik heute“ an Andreas Breitenstein. Auf die Frage nach den größten Herausforderungen antwortete er u. a.: „Der Geltungsverlust des literarischen Feldes und damit verbunden die Verschlechterung der sozio-ökonomischen Situation (Platz, Honorare, Publikum, Aufmerksamkeit). Eine panische literarische Überproduktion. Ein sich aus dem ganzen Verlustzusammenhang ergebender systemischer Konformismus.“

Breitensteins Antwort lässt sich als Diagnose einer umfänglichen Verunsicherung lesen, die sich im alltäglichen Literaturgeschäft vor allem als Funktionskampf niederschlägt. Für was steht das literarische Buch? Was soll es leisten? Wer hat die Zuweisungsmacht über die Kriterien, die an die Rezeption von Büchern angelegt werden? Welche Einwände der Literaturkritik sind legitim? Und welche sind snobistisch, übertrieben, pedantisch, sprich: unangemessen?

Vielleicht hilft es, ein Dreieck mit den drei Modi ästhetisch, ethisch und ätherisch aufzuspannen, um die Fragen ansatzweise zu beantworten. Innerhalb dieses Kraftfeldes nimmt jedes Buch eine Position ein, es greift sich seine Anteile an den drei Kategorien ab, zugleich werden ihm bestimmte Attribute zugewiesen. Das eine Buch will eher eine Stimmungsmaschine sein, einen ätherischen Ort anbieten, an dem die Leserschaft sich zurückziehen kann, eingelullt vom Atmosphärischen, das das Ätherische auf eine leichte und angenehme Weise zur Verfügung stellt, beschwingt von einem Text, der eine Distanz zum Lärm der Welt schafft: noise canceling literature. Ein anderes Buch definiert sich über seinen gesellschaftspolitischen Ort, es will eingreifen, hinterfragen, den Finger in Wunden legen. Hierfür vertraut es auf das Medium Buch als aufklärerischen Apparat, es will eine kritische ethische Ressource sein, um eine Debatte anzustoßen. Zusätzlich gibt es Bücher, die sich primär als ästhetische Dokumente verstehen, sie reflektieren artistische Traditionen, loten die Möglichkeiten aus, wie in der jeweiligen Gegenwart ein gelungener, „atmender“ Text aussehen kann. Um soziale Einflussnahme oder stimmungsgeladene Dienstleistung scheren sie sich weniger – ihr Ziel ist eine Reflexion über das Schöne, der Rest ist Beiwerk.

Alle gegen alle

Wie sehr dieses Koordinatensystem gerade strapaziert wird und wie sehr die einzelnen Kategorien auf dem Prüfstand stehen, hat sich in den letzten Debatten gezeigt. Einer der Effekte, der sich aus der Idee des Verlustzusammenhangs ergibt, besteht nämlich in der zunehmend diffusen Frontbildung innerhalb eines ohnehin schon agonal strukturierten Feldes. Alle Beteiligten berufen sich trotzig auf den Stolz ihres Metiers und diskreditieren das jeweilige Gegenüber ob seines unsachgemäßen Verhaltens.

Beispiel Robert Menasse: Den Kritikern, die seine Fake-Zitate monieren, wirft er vor, einer „strenge[n], im Grunde aber unfruchtbare[n], weil immer auch ideologisch gefilterte[n] Wissenschaft“ anzuhängen. Um die Diskreditierung der Kritik zu stabilisieren, beruft er sich einerseits auf seine autonomieästhetische Lizenz: Ich bin Künstler, lassen Sie mich in Ruhe, ich darf das. Andererseits wendet er den ethischen Würgegriff an, indem er seine Kritiker zu nützlichen Idioten der Nationalisten degradiert: „Ich weiß nicht, wie sehr den Schürern des „Skandals“, die mir in rasch hingeworfenen Artikeln ›Fälschung‹, ›Bluff‹ und ›Lüge‹ vorwerfen, klar ist, dass sie das Geschäft der Nationalisten befördern“.

Beispiel Takis Würger: Der Kritiker sagt, lange schon habe die Kritik ihre „Legitimation und ihr Funktionieren“ nicht mehr so eindrucksvoll unter Beweis gestellt wie bei diesem Buch. Der Lektor unterstellt ihr in einer ersten Reaktion wiederum Neid. Der verletzte Autor sagt sehr suggestiv und sehr bizarr: „Die Zeiten, in denen Bücher verboten werden, sind vorbei.“ Die Buchhändler werfen der Kritik elitäres Gehabe vor. Und im Gespräch mit dem NDR sagt der Verleger: „Aber ich glaube, dass jede Generation von Autoren – und Takis Würger ist ein jüngerer Autor – auch ein Verhältnis finden muss, Geschichten zu erzählen, die Erinnerungen wach halten, die Einblicke in dieser Zeit geben.“

Davon abgesehen, dass jedes Argument, das sich des Generationen-Paradigmas bedient, immer simplizistisch ist, ist die Aussage einigermaßen windig. Letztlich wird hier eine vorrangig ökonomische Überlegung (Holocaust plus Schuld plus Romanze = $) als erinnerungspolitisch notwendige Intervention bemäntelt. Denn im Gegensatz zum Geld-Argument, das die Schöngeister des Betriebs immer schon als frivol abkanzelten, auch wenn es die gesamte Biblio-Produktion bestimmt, ist der Verweis auf die mnemo-ethische Reichweite eines Buches ein Hochwert-Argument, das sich durch seine vermeintlich moralische Evidenz gegen Einwände immunisiert. Hier wird’s innerhalb des kategorialen Dreiecks interessant: Würgers Roman, der eigentlich auf eine ätherische Lesart abzielt, pinnt sich selbst die ethische Auszeichnung an die Brust, um sich innerhalb der (noch) wirksamen Feldstruktur zu legitimieren.

Die Branche im Fieberdelirium

Die Aussagen aller gereizten Beteiligten deuten jedenfalls darauf hin, dass es weniger denn je einen von allen Seiten anerkannten Kriterienkatalog gibt, welche Literatur geschrieben, verlegt und gelesen werden sollte – bzw. ob sie überhaupt noch kritisiert werden sollte, schließlich brächten Kritiken keine Klicks:

Ich mein, Literatur klickt ja nicht mal. Können wir nicht stattdessen Avocados rezensieren? Das lesen dann zumindest auch Leute. "Das ist keine Frucht mehr, das ist 1 Debakel!"

— Ronja von Rönne (@Sudelheft) November 13, 2017

Die Stellenwert-Debatte hat dabei maßgeblich mit den strukturellen Erschütterungen zu tun, die den Literaturbetrieb in den letzten Jahren heimgesucht haben. Die Branche schwingt in einer Art alarmistischer Latenz vor sich hin, im schreckhaften Wissen, dass der nächste coup de foudre nur eine Frage der Zeit ist. (Die optimistischen Hauruck-Zwischenrufe sind nur eine verzweifelte Spielart dieser Tendenz.) Mitte letzten Jahres war es zuerst die Empfehlung der Monopolkommission, die Buchpreisbindung abzuschaffen, kurz darauf veröffentlichte der Börsenverein des Buchhandels die Leserschwund-Studie, jetzt wurde die Insolvenz des Buchgroßhändlers KNV verkündet. Erst vor wenigen Tagen kam die Nachricht, dass Weissbooks aus Frankfurt am Main seine Unabhängigkeit aufgeben und dem Unionsverlag hinzugeschlagen wird. Was kommt als nächstes?

Hansers Stella ist in diesem Sinne weniger ein Beispiel für die (schon lange wirksame) Verkitschung der deutschen Erinnerungskultur, sondern für die Ratlosigkeit der deutschen Verlagslandschaft, die auf der Suche nach Strategien und Stärkung ist. Die zunehmende Dringlichkeit, mit der Verlage auf ihre Rentabilität schielen, führt eben nicht nur zu personellen Einsparungen und strukturellen Umstellungen, sondern mitunter auch zu programmatischen Justierungen inklusive neuen ästhetischen Rechtfertigungen, die so vor einigen Jahren nicht denkbar gewesen wären. Und die gespenstische Idee der Buchbranche als zukunftsschwacher Industrie bedingt eben auch Um- und Neufunktionalisierungen von belletristischen Werken. (Der chronisch vernachlässigten Beziehung zwischen Geld und Schreiben, zwischen Ökonomie und Kreativität, die auch hier ihre Effekte zeitigt, ist Philipp Schönthaler vor kurzem in einem Volltext-Essay nachgegangen.)

Willkommen in der Esoterik-Abteilung

Eine andere Reaktion auf die ganze Misere lautet: Archaisierung. Auf ihren fb-Accounts posten Buchhandlungen Bilder von erwachsenen Männern, die sich lächelnd unter eine Decke ducken und mit Taschenlampe ein Buch lesen. Es gibt Zeichnungen, die den Antagonismus analog vs. digital stumpf ausspielen, Thalia macht Werbung mit Sprüchen wie „Wie lädst Du Deinen Akku auf? Mit Tee und Büchern“, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels lanciert eine Buch-Kampagne, auf der unglaubwürdige Teenies ungläubig Bücher in Händen halten, als sei dieser merkwürdig klobige Gegenstand der Mittelpunkt ihrer Welt.

Diese Initiativen treten allesamt den Rückzug in die Lese-Esoterik an, auch wenn das Manöver wie eine Offensive daherkommt. Langfristig würde das Buch denn auch zur Yogamatte für den Geist werden – so drückt es Wolfram Eilenberger im DLF aus: „Wann lesen wir heute in welchen Kontexten wirklich noch ein Buch? Das sind ja geradezu rituell angeleitete Verfahren, in denen man sich zurückzieht, Ruhe sucht“, sagt er. „Es ist ein Sammlungsmedium, ein Medium der geistigen Sammlung, dass Menschen Bücher lesen, so wie sie heute Yoga betreiben, einfach als ein kontinuierliches aufmerksames Fokussieren auf einen inhaltlichen Gegenstand, und das ist etwas, was man mit dem Digitalen lebensweltlich nur so ganz schwer verbindet.“

Im Rahmen der TLS-Reihe Twenty Questions antwortet die britische Schriftstellerin Deborah Levy auf die Frage, wie denn ihr zufolge das literarische Feld in 25 Jahren aussähe: „The writing most likely to survive the age of the screen will be esoteric thought – streams exploring the death wish, desire, disappointment and despair. It will be the new commercial fiction.“ Passend dazu schreibt der Philosoph Gernot Böhme in seinem Buch über das Konzept der Atmosphäre, dass „die neue Ästhetik“ der „Frage nach der sprachlichen Erzeugung von Atmosphären“ nachgehen wird, schließlich dürfe man nicht vergessen: „Niemand ist gleichgültig, wie er sich befindet.“

Folgt man diesen Tendenzen, dann wird die Frage nach dem Befinden das Kernanliegen von Literatur werden, denn nur auf diese Weise wird sie sich in Anbetracht ihres immer prekärer werdenden Status noch legitimieren, d. h. auf dem Markt halten können. Das ätherische Moment wird zu ihrem Alleinstellungsmerkmal – auf Kosten anderer Kompetenzen wie Diskurskritik, Repräsentationspolitik oder Analyse des Verhältnisses zwischen Ästhetik und Gesellschaft. Dieser einseitige Fokus auf das Befinden ist dabei nicht selbstgewählt, sondern wird ihr im Rahmen eines Konkurrenzverhältnisses zugewiesen.

Letztlich geht es um Resteverwertung. Grob gesagt: Games sind immersiver, Serien fesselnder, Filme eindrücklicher. Der rezeptive Aufwand ist bei diesen drei Unterhaltungsangeboten zudem mit weniger Mühe verbunden und an ein stärkeres Spaßversprechen gekoppelt. Zudem ist ihr Konsum gesellschaftlich breiter gestreut. Beispiel: Der Zeit-Online-Artikel über die besten Serien im Dezember 2018 hatte binnen weniger Stunden mehr als dreimal so viele Klicks wie der Tage zuvor lancierte Geschenktipp-Artikel zu den besten Büchern des gesamten Jahres 2018. In Anbetracht dieser Bedingungen wird für Literatur in Buchform auf lange Sicht tatsächlich wenig mehr als Ruhe und Besinnung übrigbleiben, auch wenn diese Einschränkung dem riesigen Potential von Literatur als kultureller Technik hohnspricht.

Literatur als selfcare-Technik

Wie ein unfreiwilliger Schulterschluss mit dieser Diagnose wirkt da die Stavanger Erklärung, die das analoge Lesen verteidigt und die Vorzüge von Büchern gegenüber eBooks und Screen-Leserei wissenschaftlich herausarbeitet. So werden aus Attributen des Mediums Buch, die erst im Kontrast zum multimodalen Überfluss der Neuen Medien zu Mängeln geworden sind, Boni: Das Buch sei zwar statisch, seine Repräsentationstechnik einfacher als bei Bildschirmen und digitalem Text. Aber hier sei „Sinn“ geballter verfügbar, hier sei die hermeneutische Arbeit an ihrem angestammten Ort. Der Grund für den spürbaren Verlust in Sachen Reichweite, Umsatz und Relevanz wird ex post als Gewinn des Verlierers wertgeschätzt. Damit wird das Buch zusätzlich stigmatisiert, es lässt sich im extremen Fall zu einer archaischen Kulturstätte stilisieren, in der das Tiefe und Echte noch zugänglich seien – im Gegensatz zur suspekten Oberfläche der Bildschirme.

An dieser Stelle kommt denn auch der ätherische Lektüre-Modus zum Zug, der in den letzten Jahren via Instagram & Co verstärkt einstudiert wurde. (Es geht mir nicht um eine Hierarchisierung oder Abwertung dieser Literaturpraxis, sondern darum, die jeweiligen Vor- und Nachteile, die jedwedem Lektüreformat und Literaturverständnis eigen sind, zu benennen.) Er wird langfristig die Konsumpraxis von buchgebundener Literatur bestimmen. Zwischen Wohlfühl-Modus, reizarmen Rückzugsarealen und Stimmungsgenerator wird das literarische Lesen seinen Platz finden. Bestimmte Buchblog-Formate, die die Lektüre vorrangig als affirmative und isolierte Lese-Erfahrung begreifen, als selfcare-Technik, werden diesen Trend fördern und stärken.

Je krisiger die Lage, umso unversöhnlicher die Leute

Eine Kritik, die sich ihrem historischen aufklärerischen Erbe verpflichtet fühlt, wird es da noch schwieriger haben, gerade weil die unterschiedlichen Ansprüche an denselben Gegenstand so weit auseinanderklaffen. Zudem sind die gegenseitigen Geringschätzungen argumentativ längst etabliert: hier die Elite, die Feuilleton-Fuzzis und Geistesschnösel, die Formulierungen wie ex negativo benutzen, diese Idioten; dort der geschmacksverirrte Pöbel, der sich geistlos bespaßen lässt, während die Welt untergeht, diese Trottel. Die Distinktion in ihrem jeweiligen Areal beziehen sie dabei aus der Degradierung des jeweils anderen Lagers. So wird ein perpetuum mobile der Ressentiments installiert. (Würgers Aussage anlässlich einer Lesung, wer lange Sätze möge, solle halt Thomas Mann lesen, gibt hier beispielhaft die Richtung vor. Und der offene Brief der Buchhändler*innen geht ihn munter weiter.)

Die beschriebene Dynamik mit ihren (teils neuen bzw. gesteigerten) Stigmatisierungen und Bonifikationen, mit ihren Marginalisierungen und Zentralisierungen hat in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Der Funktionskampf um die Umformung des erwähnten Dreiecks wird sich verschärfen, befeuert vor allem durch pessimistische Markt-Überlegungen. Das heißt auch: Das eigentlich ökonomische Argument, dass sich etwas nicht verkaufe, beeinflusst mehr und mehr den kreativen Prozess, mit der Folge einer klammheimlichen restriktiven Anpassung. Zwar agieren alle im stolzen Glauben an ihre künstlerische Unabhängigkeit und kreative Unangepasstheit, tatsächlich aber gehorcht das System, innerhalb dessen sie operieren, einer prekären ökonomischen Logik, die viele Schreibende, Verlegende, Verkaufende und Lesende in allen Belangen infiziert hat. (Die stetig steigenden Vorschüsse an Autor*innen wären in diesem Zusammenhang einen eigenen Artikel wert, immer weniger Akteure bekommen immer mehr Geld, eventuell auch, um kleinere Marktteilnehmer auszubooten.)

Kurzum: Ein Denken und Schreiben außerhalb der Marktkomptabilität und ihrer Bevorzugung ätherischen Lese-Konsums wird immer schwieriger, die Kritik an diesem Missstand unbeliebter und die Diskreditierung anderer schriftstellerischer Modi stärker werden. Die skizzierte Konstellation wird auch in Zukunft Affronts generieren, die umso brachialer ausfallen werden, je „krisiger“ die Stimmung ist. Die einen sind gereizt, die anderen verzweifelt, wiederum andere fühlen sich falsch verstanden oder in die Ecke gedrängt. So oder so: Das Versprechen einer wenn auch nicht versöhnlichen, so doch wertschätzenden Zusammenkunft, das die Literatur als soziale Praxis immer gehegt hat, gerät dabei ins Hintertreffen.

Den Schuttberg erklimmen. Über Heinz Helles Roman „Die Überwindung der Schwerkraft“

„In diesem Augenblick erkannte A. wohl,
daß er die Welt nie in den Griff bekommen würde.“
(Paul Auster, Die Erfindung der Einsamkeit)

Der große Bruder in Heinz Helles Die Überwindung der Schwerkraft hätte das Zeug gehabt, ein berüchtigter Dozent an einem Schreibinstitut zu werden, in Biel, Wien oder Leipzig. Jedenfalls gibt er im Laufe eines Kneipenabends mit seinem jüngeren Bruder so manche Schriftstellerweisheit von sich:

„Ich habe immer versucht, die Erzählung zu finden, die davon handelt, wie gut es mir geht.“

„Es ist egal, wie sehr du einen Menschen liebst, wenn du ihn lange und genau genug ansiehst und dir dabei vorsagst, was du siehst, wird er verschwinden hinter den Wörtern, die du aus ihm machst.“

„Wie kann man auf eine interessante Weise davon erzählen, dass es noch viel dazwischen gibt, wie sollen wir das beschreiben, wie rühmen, wie kriegen wir es verdammt noch mal hin, dass wir uns endlich zu Hause fühlen, in dem großen, langweiligen, langen, bunten, unermesslichen Raum zwischen der Einsamkeit und dem Krieg?“

Aber die ersehnte Erzählung über das eigene gute Leben wird ausbleiben. Der gemeinsam verbrachte Abend in München, der Helle als erzählerisches Grundgerüst dient, wird das letzte geschwisterliche Treffen sein. Der große Bruder wird am Alkohol zugrunde gehen. Im Rückblick will der Erzähler, der unschwer als autofiktionales Pendant von Helle auszumachen ist, die Beziehung verstehen – und das heißt für ihn automatisch: literarisch erkunden. Dabei bleibt der biographische Bezug dezent und unaufdringlich. Er wird nicht als koketter voyeuristischer Kniff ausgespielt, sondern als Modus der Aufrichtigkeit begriffen: Hier spricht jemand von einem ungleichen Geschwisterpaar und meint damit nicht nur, aber eben auch sich selbst.

Der Große, das zeigen die Gespräche, an die sich der Kleine erinnert, ist wie ein Magnet, an dem alle möglichen Diskursspäne haften blieben, die unzähligen Wörter, Bilder und Videos, die uns umgeben. Der ganze Schrott dieser mühsamen medialen Jahre wird ihm zum Lebensthema, bis er der Sache überdrüssig wird. Das letzte Treffen arbeitet Helle als eine Art Protokoll auf, um diesen immer erratisch auftretenden Menschen zu portraitieren. Dabei kommt die posthume Entdistanzierung nicht ohne Pathos aus, schließlich schreibt hier jemand „mit dem zutiefst menschlichen Ziel, das jeder Austausch von Zeichen hat, der Erzeugung von Nähe“.

Auf einer ersten Stufe ist Die Überwindung der Schwerkraft als unaufdringliche und einfühlsame Beschreibung eines brüderlichen Verhältnisses zu lesen. Wie nah können sich die Zwei sein? Und ist eine Annäherung an den Vater möglich, von dem der Erzähler sagt, er habe „schlicht keine Sprache […] für Unterhaltungen mit ihm, in denen wir nicht einer Meinung sind, mein Vokabular ist nicht dafür geeignet, ihm zu widersprechen“?

Auf einer zweiten Ebene, die Helle nach und nach geschickt in die erste hineinmontiert, wird Die Überwindung der Schwerkraft zu einer sprachtheoretischen Schrift. Helle geht es dabei auch und besonders um das eigene Schreibhandwerk und die „Frage nach der Möglichkeit, mit Worten Einfluss zu nehmen auf das Leben“. Zugleich wird deren Umkehrung mitverhandelt: wie das Leben Einfluss nimmt auf die Worte. Solchen sprachphilosophischen Überlegungen widmet sich auch der Bruder, der jahrelang an einer Doktorarbeit gesessen hat, in der er sich dem Zusammenhang zwischen den Namen militärischer Operationen und derem Gelingen widmete. Dazu gehört auch die Operation Gomorrha, anlässlich der die Alliierten Hamburg im Juli und August 1942 massiv bombardierten. Bei seinen Recherchen stößt er, so erzählt er es seinem kleinen Bruder, auf eine „völlig neue, kategorial andere Schilderung“ der militärischen Operation:

„Das ebenso Merkwürdige wie Aufwühlende und später dann Beängstigende an seiner neuartigen Schilderung jener Luftangriffe sei die beinahe obszöne Poesie gewesen, in der das Unvorstellbare, das mein Bruder bis dahin immer nur mithilfe von isolierten Zahlen und Bildern, Statistiken, Augenzeugenberichten und technischen Daten versucht hatte bruchstückhaft zu imaginieren, plötzlich zu einer einheitlichen, zusammenhängenden Erfahrung wurde. Und obwohl ihm natürlich klar gewesen sei, dass seine Erfahrung der ruhigen, rhythmischen Prosa des Sprachforschers nicht viel mit der Erfahrung eines Bombenangriffs zu tun hatte, außer der Verarbeitung verschiedener Begriffe, die Dinge bezeichnen, die bei einem Bombenangriff von Bedeutung sind, war etwas in ihm überzeugt, dass es dem Autor, obwohl er selbst gar nicht dabei gewesen war, dennoch gelungen sei, einen kleinen Teil des echten Schreckens der Stadt Hamburg in Buchstaben zu konservieren und somit dazu beizutragen, dass dieser Schrecken niemals zu Ende ging.“

Einer, „der wirklich sich umsah“

Mit seiner Überwindung aktualisiert Helle eine Intervention von W. G. Sebald aus dem Jahr 1997. Damals hatte Sebald in Zürich in zwei Vorlesungen die These vorgebracht, die meisten deutschen Nachkriegsschriftsteller*innen seien daran gescheitert, die Bombennächte von Hamburg zu literarisieren: „Außer Heinrich Böll haben nur wenige andere Autoren wie Hermann Kasack, Hans Erich Nossack, Arno Schmidt und Peter de Mendelssohn es gewagt, an das über die äußere und innere Zerstörung verhängte Tabu zu rühren, zumeist freilich, wie noch zu zeigen sein wird, auf eine eher fragwürdige Weise.“

Dieses Scheitern an der Handhabung einer exzessiv erfahrenen Welt überträgt Helle ins digitale 21. Jahrhundert. (Um Vergleichbarkeit bzw. historische Analogisierung geht es ihm dabei nicht, sondern um die Aktualisierung der Frage, wie sich Leid und Schmerz künstlerisch bannen lassen.) Konsequenterweise lässt er sein Bruderpaar denn auch auf den Münchner Olympiaberg hochkraxeln, einem nach 1945 aufgeschütteten Hügel aus Weltkriegstrümmern. Sie besteigen gewissermaßen den Schuttberg, von dem bei Sebald zwanzig Jahre zuvor die Rede war. In der ersten Vorlesung hatte dieser gleich zu Beginn vom „Versagen vor der Gewalt der aus unseren ordnungswütigen Köpfen entstandenen absoluten Kontingenz“ gesprochen.

Bei Helle wiederum ist die Rede von „eine[r] Menge des Grauens, endlich und abzählbar, ohne Sinn oder Syntax“. Wenige Seiten zuvor hatte sich der Bruder in eine wüste Imagination der Verbrechen des Pädophilen Dutroux hineinerzählt und ohne Halt und Hemmung aus Ermittlungsakten zitiert, die als PDF-Dokumente frei verfügbar sind. Die Keller-Verliese in der belgischen Pampa werden heraufbeschworen, ebenso die Aussagen der überlebenden Mädchen anlässlich von Polizeibefragungen. Diese Gräuel-Interna, gepaart mit einer labilen Imagination, führen auf lange Sicht zum Kollaps. Wie, so lautet die zentrale Frage des Romans, soll man durch diese grauenbehaftete Welt gehen?

Um eine Antwort zu finden, steigert sich der Bruder in ein familiäres Phantasma hinein. Eine Freundin sei von ihm schwanger, gemeinsam werde man das Kind großziehen. Die forcierte Erzählung einer Vaterschaft könnte ihn, den Verdammten, das ist die Hoffnung, womöglich doch noch retten. Nicht nur an dieser Stelle erinnert die brüderliche Gestalt an A., die (Alter-Ego-)Hauptfigur aus Paul Austers Die Erfindung der Einsamkeit: „Da die Welt ein Monstrum ist. Da die Welt einen nur zur Verzweiflung treiben kann, zu einer so umfassenden, so entschlossenen Verzweiflung, daß nichts die Tür dieses Kerkers, der Hoffnungslosigkeit heißt, zu öffnen vermag, späht A. durch das Gitter seiner Zelle und findet nur einen Gedanken, der ihm so etwas wie Trost gibt: das Bild seines Sohnes, irgendeiner Tochter, irgendeines Kindes, irgendwelcher Eltern.“ Tatsächlich sind sich beide Bücher sehr nahe, vor allem im Zoom auf intime, nie einfache familiäre Beziehungen und im Abarbeiten an den Tücken des Schreibens.

Die Doktorarbeit wird der Bruder nie beenden. Ob die Freundin überhaupt schwanger war, wird sich nicht klären. Alle Versuche, egal ob sie analytischer oder emotionaler Art waren, seinen Ort zu finden, müssen bei dieser tragischen Figur scheitern. Es lässt sich nicht gut leben in dieser Welt, vor allem für jemanden, „der wirklich sich umsah“ (Sebald). Kehlmanns lässig dahergesagtes Bonmot – „Erzählen, das bedeutet einen Bogen spannen, wo zunächst keiner ist, den Entwicklungen Struktur und Folgerichtigkeit gerade dort verleihen, wo die Wirklichkeit nichts davon bietet“ –, es nützt dem großen Bruder bei seiner Suche nach einer Erzählung, „die davon handelt, wie gut es mir geht“, in all seiner klugen Steifheit rein gar nichts. Auch deswegen ist Helles Kritik am Storytelling so überzeugend: Er setzt ihr seine eigene Schreibpraxis entgegen. Mit der Überwindung bietet er einem nämlich eine gelingende Variante zum substanzarmen Narrationsbrei. Der Text ist hochreflektiert und in seinem Rhythmus durch und durch sinnlich. Von Selbstzweifeln ständig gehemmt, kommt er doch voran. Er ist resignativ und produktiv zugleich.

Am Ende lässt Helle seinen Erzähler folgerichtig in der Schleife einer Szene feststecken, die der Bruder einst beschrieben hatte: Als er eines Morgens aus dem Fenster geschaut habe, habe er „einen Mann und sein Kind bei den Recycling-Containern auf der anderen Seite der Kreuzung stehen“ sehen; er habe beobachtet, „wie der Mann sich langsam bückte, hinunter zur Tasche vor seinen Füßen, und sich dann wieder langsam aufrichtete, sich bückte und aufrichtete, bückte und aufrichtete“.

Ebenso macht es am Ende der kleine Bruder. Es ist eine Geste, die erinnern will und zugleich hilflos ist: „Ohne die Hand meines Kindes loszulassen, beginne ich dann, den Inhalt der Tasche Stück für Stück in die dafür vorgesehenen Öffnungen fallen zu lassen, ich bücke mich, richte mich auf, bücke mich, richte mich auf, Metall zu Metall, Glas zu Glas, Papier zu Papier. Glas haben wir am liebsten.“ Es ist eine Variation auf „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“, eine Übung in brüderlicher Verbundenheit, ein Tribut an die wahnwitzige Erzählkunst des Verstorbenen, die man nun, nach den Worten, erneut ins Leben setzen möchte. Und die Literatur, um die es in diesem schönsten Roman von 2018 mit jedem Wort ging, ist auch eine solche Box, ist Schutz- und Zerstörbehältnis zugleich. Sie ist der Container, in den wir die Sprache schmeißen, um uns an ihr nicht wund zu schlagen: „Nach jeder Flasche warten wir eine Weile und lauschen, wie der Klang der Splitter verhallt.“

Die Verkalkung. Von den Restbeständen des Pop-Journalismus

Winter 2018: Die Spex stirbt. Und Moritz von Uslar setzt folgenden Tweet ab:

In der Welt der sicher nicht doofen Margarete Stokowski gibt es keinen Fun und keine Ironie. Und die gesamte Popkultur, von der ich komme – Iggy Pop, Sex Pistols, Beastie Boys – wäre nicht möglich gewesen. #noproblem #weitergehts

— Moritz von Uslar (@MoritzvonUslar) December 12, 2018

Irgendwie geht hier etwas seinem Ende entgegen. Der Pop-Journalismus, der in den 90ern als Inkubator auch der jüngsten Literatur fungierte, liegt in den letzten Zügen. Die Jungs – ja, es waren fast ausschließlich Männer – sind zu Herren mit Körperbeschwerden und Twitteraccounts geworden. Der Tonfall, die Perspektive, der Weltenzugriff – all das hat Staub angelegt. Die Klugen, die das bemerken, hören auf, so zu denken bzw. zu schreiben. Die Anderen machen weiter. Aber was bedeutet dieser Wandel für die, die diesen vermeintlich jungen und frischen und frechen Feuilleton-Modus mitbegründeten, die diesen Sound satisfaktionsfähig machten?

Vielleicht ist es am einfachsten, sich anzuschauen, welche Texte die Gealterten, deren Alleinstellungsmerkmal immer die Idee von Jugend war, heute so schreiben. Im Oktober 2018 veröffentlicht von Uslar einen Artikel zur vermeintlich boomenden Start-Up-Szene in Berlin mit dem Titel „Geld ist okay“, deren langsames Sterben nur einen Monat später mit Googles Rückzug aus Berlin eingeläutet wurde. Das war doch einmal der junge Journalistikheld, der alpacareitend durch die Anden reiste. Und jetzt? Gibt’s Artikel mit Ankündigungen wie „Im Saunabad Vabali in Berlin-Moabit trifft sich die besser verdienende Hälfte der Gesellschaft. Muss man sich hier schämen, oder ist es einfach schön?“ So also strolcht einer durch die Redundanzen seines Milieus und nennt es Kolumne.

hergestellt und poliert von: Simon Sahner

Was bleibt einem bei diesem voraussehbaren Prozess der Verkalkung übrig? Wegzug, rigider Kontaktabbruch, Nummernwechsel, lieber früher als später. Das Edelgewächs des Pop-Journalismus der 90er, Christian Kracht, hat es vorgemacht: fast keine Interviews, keine Glossen, kein Dazwischenfunken und Zu-Wort-Melden von Sonstwoher. Auf Lesereisen nimmt er in deutschen Städten keine Fragen entgegen, bei Lesungen im Ausland, etwa in Luxemburg, sehr wohl. Und wenn es denn doch passiert und einer der Ödnis-Maschinisten des deutschen Literaturbetriebs sich mit ihm unterhält,  dann ist gleich einer der anderen Distinktionsverwalter zur Stelle, um ersteren wenig überzeugend anzugehen. Im Duett stellen beide vor allem eins unter Beweis: wie verschlackt, pfauig und inspirationsarm deutsche Literaturkritik immer wieder ist.

Wenig verwunderlich also, weshalb Kracht in seinen beiden letzten Romanen jeweils eine Weg-von-hier-Story erzählt: In Imperium verlässt August Engelhardt das wilhelminische Deutschland, um in der Südsee das Glück zu suchen und den Wahnsinn zu finden. Und in Die Toten kommt der Schweizer Regisseur Emil Nägeli ins Berlin der 20er, nur um mit den erflehten UFA-Geldern Reißaus nach Japan zu nehmen. Diese Geschichten, denen auch Krachts eigene Goodbye-Deutschland-Biographie hinzuzuschlagen ist, mögen inszeniert, auch vorausschaubar wirken. Als Output sind sie indes weitsichtiger und spannender als das Text-Tamtam der zurückgebliebenen Brudis.

Ein solchen Auszug aus Deutschland hat auch Benjamin von Stuckrad-Barre, der Feuilleton-Posterboy der 90er, in Panikherz inszeniert: als Einzug in das Chateau Marmont Hotel in Los Angeles, um fern der kontinentaleuropäischen Kleinlichkeit einem Lifestyle zwischen Geldprasserei, Gucci-Reklamen und bizarren Talks mit Doktorandinnen zu frönen. Aber so richtig gelingt seine Exilierung nicht. Denn gefühlte sieben Seiten nach einer der vielen Marmont-Szenen steht Stuckrad-Barre plötzlich vor Thomas Gottschalks Villa in Beverly Hills, um anschließend mit der Prachthecke der deutschen Medienlandschaft zu plaudern, wie in einer unsäglich spießigen deutschen Variante des sowieso immer schon fürchterlichen Cribs.

Ansonsten erinnern seine Bemühungen an das Zucken bzw. Schnappen eines altersschwachen Alligators: wie er einen so fiesen wie süffisanten Revanche-Text gegen Rainald Goetz raushaut, wie seine xte Lesereise mit seinem xten Remix-Buch auf dem Campus der Uni Bayreuth oder in der Centralstation Darmstadt groß plakatiert werden, als stünde ein Highlight bevor, wie er im „Wordrap“ des Standard Dinge über Stadt und Idylle sagt, die von einem ratlosen Expressionisten stammen könnten, wie er nach Panikherz irgendein Buch über Nüchternheit veröffentlicht, das nur Takis Würger und Uwe Wittstock besprechen.

So setzt bei beiden langsam aber sicher der Walser-Effekt ein. Gefangen im penetranten publizistischen Wiederholungszwang, abgestellt in einer der wenigen Vollkasko-Nischen des Betriebs schreiben und sprechen sie weiter vor sich hin, ein wenig für sich, ein wenig für das Geld, ein wenig für eine treue Leserschaft, die eigentlich auch nicht mehr so viel mit sich anzufangen weiß und deswegen das zuverlässig Immergleiche, geschrieben von den Immergleichen, in sich reinstopft. Wie diese Bonbons, die, drapiert in hübschen Holzschalen, für einen bereitstehen, in den vielen Arztpraxen, die man jetzt immer öfters besuchen wird.