Autor: Samuel Hamen

Institutsprosa, Urwaldgäste und Wüsteneinerlei. Viel über Eckhart Nickels Roman „Hysteria“ und ein wenig über zwei andere, auch tolle Bücher

Mit Heyms Träumen stimmt etwas nicht. Mal kommen ihm in der Nacht Bilder davon, wie er sich schreiend mit einem marokkanischen Fensterputzer auf einem Fensterputzlift unterhält, mal träumt er „von einem Wald, in dem Tiere ohne Haut umhergehen und sich wundern“. Heym arbeitet als Designer, als „Fleurateur“, wie die Kollegen sich gegenseitig nennen, in einer Firma, die möglichst realitätsgetreue Imitate von Pflanzen herstellt. Dabei interessiert ihn besonders die Verweigerungshaltung seiner echten Gegenstände, die „Intelligenz der Pflanzen“, wie er es nennt, die sich „dem Prozess der Fälschung“ widersetzen: „Es war das beste Beispiel für das Wunder, das Heym faszinierte, für die Sache an sich, die er nie ganz begreifen konnte, egal wie lange er darüber nachdachte, und die ihm gleichzeitig das letzte, unüberwindbare Hindernis seiner Arbeit aufzeigte. Die Himbeere, deren Samen erst keimfähig werden, nachdem sie gepflückt, gegessen und verdaut wurden.“

In Roman Ehrlichs Erzählung aus seinem Band „Urwaldgäste“ von 2014 wird Heym, grundsätzlich verunsichert von sich und Welt, in den Fängen einer obskuren Erlebnisfirma namens „Agentur Lateralis“ landen, die mit dem Spruch „Lassen Sie sich täuschen“ alternativ gescriptete Realitäten anbietet, ganz ähnlich, wie es im (ziemlich großartigen) Spielfilm „The Game“ die „Consumer Recreation Services“ einem Investment-Banker (Michael Douglas) verspricht. Aber Ehrlichs Figur ist – anders als die Hollywood-Variante – kein Patrick-Bateman-Verschnitt, der sich einem dekadenten Ennui hingibt, sondern ein mattes und medial verstörtes Männlein, das eine Art von Simulationsfieber erfasst hat. Er produziert Plastikpflanzen als „immerschöne Ergänzung des Natürlichen“ und sehnt sich doch nach dem „Echten im Hoheitsgebiet der Nachbildungen“.

Bevor Heym sein erstes Treffen mit der Agentur wahrnimmt, streift er durch die Stadt und „schaut sich in einer Buchhandlung lange Zeit Bildbände über unberührte Urwaldgebiete in Kanada, Alaska und Sibirien an, über Blauwale und ein Kunstbuch über europäische Marinemalerei“. Nachdem ich „Hysteria“ von Nickel gelesen und mir daraufhin Ehrlichs Erzählung nochmal angeschaut habe, hätte ich mich nicht gewundert, wenn Heym an dieser Stelle in der Erzählung als nächstes Nickels Roman in die Hand genommen hätte, so gruselig nah sind sich beide Texte.

Es wirkt tatsächlich, als seien Ehrlichs Himbeeren weitergereicht worden, bis sie endlich, vier Jahre später, bei Nickel angelangt seien, der sie sich nochmal ganz genau angeschaut hat. Sein erster Roman, erschienen bei Piper, beginnt so: „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht. Die kleinen geflochtenen Holzschalen, die Bergheim [ja, der heißt wirklich so, wie der große Bruder von Heym] auf dem Markt immer hochhob, um zu sehen, ob sich das weiße Vlies am Boden schon von zerfallenden Früchten rötlich verfärbte, waren übervoll mit zu dunklen Beeren.“ Verstört blickt sich Nickels Protagonist nun auf dem Markt um; ihm ist, als sei etwas Grundsätzliches ins Wanken geraten. Er schaut sich das provisorische Gehege einer Weidefarm für Wagyu-Rinder an, und ihm, dem hypersensiblen Neurotiker, fällt ein Rind auf, das sich eigenartig bewegte:

„Während die anderen bereitwillig zu den Kindern der Einkäufer am vorderen Rand der Koppel kamen, um sich streicheln zu lassen, blieb das Tier verstört an der Tränke stehen. Es kratzte mit den Hufen monoton das Stroh zur Seite und rieb sein Fell an den mit krumm geschlagenen Nägeln übersäten Brettern des Zauns. Dabei blieben Hautteile am Holz hängen, sodass allmählich das Fleisch durchzuschimmern begann. Als er genauer hinsah, entdeckte Bergheim, dass trotz der Verletzungen, die sich das Tier beibrachte, kein Blut zum Vorschein kam, sondern immer größere Flächen einer gräulich glänzenden Fleischmasse, die verdorbener Hähnchenbrust in Zellophan ähnelte.“

Der Traum von hautlosen Tieren, den Ehrlich seine Figur träumen lässt, hat, so scheint es, ein Eigenleben entwickelt. Die waidwunden Gestalten sind schlafwandlerisch aus dem einen Buch hinein ins andere getorkelt, um dort Nickels Figur zu traktieren. Denn die Erfahrung auf dem Markt setzt den Startpunkt für Bergheims investigativen Irrweg, der auf den folgenden gut 230 Seiten skizziert wird. In einer Kooperative namens „Sommerfrische“ lernt er eine Mitarbeiterin namens Asche und einen Wissenschaftler namens Dr. Haupt kennen, die ihm stolz eine belebte Natur-Szenerie in Miniatur-Maßstab zeigen: „Erst jetzt bemerkte Bergheim, dass das, was er sah, nicht nur eine perfekte Nachbildung der Natur in Form einer Spielzeugwelt war, sondern dass sich alles noch dazu bewegte.“ Die „Dermo-Plastiker“ haben ganze Arbeit geleistet. Sie sind in der Fälschungsindustrie die nächste Entwicklungsstufe nach den „Fleurateuren“ und arbeiten daran, „ein Abbild dessen, was so sein sollte, wie es einmal war“, zu erschaffen.

Noch am selben Tag nimmt Bergheim einen Termin im sogenannten „Kulinarischen Institut“ wahr, wo er auf zwei frühere Freunde trifft, zuerst auf Charlotte, später auf Ansgar. Das Trio hatte gemeinsam studiert und sich u. a. Vorlesungen über das Leuchten von Meeresquallen angehört. Wir erfahren insbesondere von einem Abend in der sogenannten Aromabar, in der – nachdem Kaffee und Alkohol verboten wurden – die Studis Trips auf Basis von biologischen Rauschstoffen haben. Aber diese unbekümmerten Zeiten sind längst passé, die Ideologeme des sogenannten „Spurenlosen Lebens“, die dem Trio erstmals im Studium begegnet waren, sind zur Staatsdoktrin geworden. Die „Naturpartei“ ist an der Macht und verkündet salbungsvoll ihre Gebote: Die Existenz der Menschheit sei „ein biologischer Zufall“, eigentlich sei sie „nutzlos“ und „sämtliche Eingriffe in das natürliche Leben“ durch den Menschen seien zurückzunehmen. Dementsprechend seien „Einfluss und Auswirkungen, die seine Existenz an sich auf [die Natur] hat, nach bestem Wissen und Gewissen [zu] reduzieren, und, in letzter Konsequenz, auf[zu]heben“.

Im „Kulinarischen Institut“ laufen alle Stränge zusammen: Charlotte ist die Leiterin des Hauses und eine Adeptin des „Spurenlosen Lebens“ geworden, Ansgar hat als „Frucht-Detektiv“ Karriere gemacht, der besonders raren, noch nicht ausgestorbenen Pflanzen nachspürt. Es entspinnt sich eine merkwürdig motivationslose, zugleich soghaft irritierende Handlung, in deren Verlauf Bergheim für mehrere Stunden abtaucht, um mit einer Gedächtnis-Apparatur frühere Studienerfahrungen nachzuerleben. Später werden die Figuren ein absurd aufwändiges mehrgängiges Menü zu sich nehmen, das Nickel in penetranter Eleganz beschreibt. (Ja, wer mag, kann hier eine aristokratische, parfümierte Wertschätzung des Erlesenen erkennen, eine Absage an die Masse. Aber nicht jeder Typ in der Fußgängerzone, der mit einem beigen Trenchcoat und langstieligen Regenschirm herumläuft, ist ein Dandy, und nicht jeder Text, der sich dem Fetisch der Oberfläche und dem Sezieren von Genuss-Mechanismen widmet, ist ein apolitisches, popiges und dekadent-reaktionäres Stück Literatur.) Im Laufe des Abendmahls werden persönliche und institutionelle Geheimnisse zu Tage gefördert, letztlich aber kreist alles um die Frage, die Charlotte einst als Studentin gestellt hatte: „Was ist mit dem Menschen und seinen Spuren? Da wird es doch erst richtig interessant. Wie schaffen wir es, nicht nur unseren, wie haben sie früher noch gesagt, Kohlenstoffdioxid-Fußabdruck, verschwinden zu lassen, sondern den biografischen, mit dem wir uns so viel nachhaltiger in den Leben der anderen verewigt haben, die wir im Laufe unserer Existenz gemeinhin mit den Füßen getreten haben oder noch treten werden?“

Wie eine erste Erprobung dieser Selbsttilgungsphantasie kommt – lange vor „Hysteria“ – Christoph Ransmayrs bizarres Prosagedicht „Strahlender Untergang“ daher. Es ist im Tonfall einer pathetischen TED-Konferenz geschrieben und verkündet in bemerkenswerter Nähe zu Nickel die Lehre von einer „Neuen Wissenschaft“, welche „Beihilfe zur Zukunft“ sei.  Denn sie „erzeugt […] nichts anderes mehr / als die Bedingungen des Wesentlichen: / die Organisation des Verschwindens“. Der Mensch solle sich abschaffen, aber dieser „planmäßige Untergang ist längst / nicht das Ärgste – im Gegenteil: / Seine umsichtige Organisation / und rasche Verwirklichung / bringt alles zurück, was im / Verlauf der beschämenden Entwicklung / eines von der Herrschaft / über die natürliche Welt / blind faszinierten Denkens / schon verloren schien.“

Ransmayrs Debüt, das bei der Veröffentlichung 1982 größtenteils unbeachtet blieb, ist stark durch das postmoderne Phantasma vom Ende des Subjekts geprägt, von Foucaults Bild eines Menschen, der „verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ „Les mots et les choses“, aus dem das Zitat stammt, war 1966 im Original erschienen, fünfzehn Jahre vor Ransmayrs post-humanistischer Verstirade. Letzterer malt sich die „die Organisation des Verschwindens“ derart aus, dass in Wüsten Terrarien angelegt werden, „[m]eterhoch die Umzäunung, / sorgfältig geglättet / die Ebene aus Steinen und Sand / und frei von Wasser und Bewuchs“, in die dann ein Mensch eingesperrt wird, bis er dehydriert und sich bis zur Substanzlosigkeit auflöst: „Ich bin der Zusammenbruch der Thermoregulation, / ich bin / der allesumfassende Verlust. / Ich konzentriere mich in allem / und werde weniger.“

„Strahlender Untergang“ mag es sich ein wenig zu schnell zu bequem gemacht haben in seiner Untergangslust. Und doch zeigt das Langgedicht die Nervosität der menschlichen Spezies auf, die zwischen verfluchter Präsenz und ersehnter Abwesenheit, zwischen der schuldbehafteten Unlust am Hier und der schamvollen Lust am Dort pendelt. Bei Nickel ist das „spurenlose Leben“ zur „Neuen Wissenschaft“ geworden. Die Doktrin wird als kritische Fortsetzung eines ambigen Verhältnisses zur Natur entworfen, freilich als zeitgeistige Aktualisierung: Das Programm besteht wesentlich im Versprechen von bzw. in der Nötigung zu einer ethischen Gesundung durch ein dauer-achtsames Leben. Als finale Pointe lockt die Wiederherstellung eines wildwüchsiges Paradieses ohne menschliche Makel. In der Kooperative ebenso wie im Institut wird indes klar, wie schizophren diese Unternehmung ist: Der Wissensstand und die Apparaturen, die nur eine hochentwickelte Kultur hervorbringen können, werden eingesetzt, um eben diese dem Abgrund entgegenzuführen. Nickels schelmisches Buch führt uns eine alte zivilisationskritische Dauerschleife vor: Je mühsamer sich der Mensch im Anthropozän danach sehnt, vom Erdball zu verschwinden, umso stärker schreibt er sich ihm ein.

Aber was gehört überhaupt getilgt? Wer definiert, was am Leben lebenswert, was verabscheuenswürdig ist? Hier treffen sich Nickels Öko-Dystopie „Hysteria“ und Juli Zehs Medizin-Dystopie „Corpus Delicti“: Beide kritisieren eine Form der hygienischen Moralisierung, die keinen Erreger und keinen Abfall, keine Spuren und keine Rückstände zulässt. Während Zehs Roman aber ziemlich konform vor sich hin erzählt und ständig auf seine alarmistische Botschaft schielt, ist Nickels Roman ästhetisch weit anspruchsvoller und verspielter. Der Text inszeniert auch auf einem formalen Level das Thema der Künstlichkeit, etwa durch das unorganische Gebaren der Figuren. Ihnen wohnt kein Leben inne, ihr Habitus ist widernatürlich, sie sprechen an den unpassenden und schweigen an den falschen Stellen. Insgesamt wirken Bergheim, Charlotte & Co wie Apparate, die ruckeln, wie Maschinen, die stottern, während sie so tun, als seien sie Menschen. Ständig hat man das Gefühl, Widergängern aus anderen Büchern zu begegnen, literaturhistorischen Kopien, die in „Hysteria“ als schlechter Import umherstolpern.

Auch glänzt und brilliert und blendet die höchst stilisierte Text-Oberfläche mit Adjektiven, Archaismen und Anspielungen. Das Buch ist ein Pastiche, und die Feuilletons sind ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Erbuddelung intertextueller Referenzen, längst nachgekommen. Zeit, SZ und FAZ warten u. a. auf mit: Sigmund Freud (das Unheimliche als Grundgefühl), Edgar Ellen Poe (grusel, grusel), E. T. A. Hoffmann (die Ununterscheidbarkeit menschlicher und nicht-menschlicher Sphären, die Krise des Subjekts), Joris-Karl Huysman (die unbedingte Verschönerung der Natur) und Franz Kafka (Irrwege in einem institutionellen Apparat). Neben der gesättigten Lektüre-Erfahrung bietet einem dieses erratische und kokette und zehnfach geschichtete Werk zwei Boni an: dass erstens jede Seite einen immer neu dazu einlädt, die in launigen Kolumnen gelesenen Bio- und Anti-Bio-Kommentare weiterzudenken und auf ihre Widersprüche und Möglichkeiten, auf ihre Verschwiegenheiten und Selbstlügen hin zu überprüfen, und dass, zweitens, dieser bemerkenswerte opake Text einem – endlich mal – ein genuin ästhetisches Reflexionsangebot unterbreitet, um dem irrsinnigen Zeitgeist beizukommen.

Die sogenannte Wiedergabe der sogenannten Welt. Ein paar Gründe gegen Geschichten

Neben einem perfekt geschürten Feuer sitzt Reinhold Messner, vor ihm die Besucher, hinter ihm die Bergmassive. Alles ist auf ihn ausgerichtet, denn es ist wieder Zeit für eines der „Gespräche am Feuer“, bei denen Messner, so steht es in der Ankündigung, „von seinem Leben erzählen“ wird. Aber diese ganz besondere Retrotopie gibt es nicht umsonst. Der Eintritt kostet 20 Euro für Erwachsene, dann aber ist man dabei, wenn der alte weise Mann auf der hauseigenen Burg Sigmundskron bei Bozen den Unwissenden und Daheimgebliebenen vom Unerhörten dort draußen erzählt.

Die Szenerie wirkt, als sollten in der Abgeschiedenheit Südtirols die ersten Sätze aus Walter Benjamins Aufsatz „Der Erzähler“ von 1936 widerlegt werden: „Der Erzähler – so vertraut uns der Name klingt – ist uns in seiner lebendigen Wirksamkeit keineswegs durchaus gegenwärtig. Er ist uns etwas bereits Entferntes und weiter noch sich Entfernendes.“ Anschließend unterscheidet Benjamin zwischen dem vormodernen Erzähler, der aus einer mündlichen Tradition stamme und „Kunden aus der Ferne“ brächte, und dessen modernem Nachfolger, der uns in Romanen entgegentrete, ohne aber die organische Nähe herzustellen, die einst von der Figur des Erzählers ausgegangen sei.

Messners Lagerfeuer-Abende sind in diesem Sinne anti-moderne Reenactments dieser alten Erzähltradition: ein Mann, eine Stimme, große Augen, offene Münder. Und die Smartphones, die nahezu von jeder Kunde aus jeder Ferne berichten könnten, sind auf Burg Sigmundskron sicherlich auf lautlos bzw. Flugmodus geschaltet. Lieber gibt man sich dem archaischen Ritual hin, das ein starkes Bedürfnis zu bedienen vermag: lebensnahes Material zu liefern sowie die Möglichkeit, dabei zu sein, wenn ein großer Bogen gespannt wird.

„Facts tell, stories sell“

In der Erzähltheorie wird diese Funktion als Kontingenzbewältigung bezeichnet. Erzählungen helfen, so der Germanist Albrecht Koschorke in seinem Standardwerk Wahrheit und Erfindung, Erlebtes sinnvoll zu bündeln, um nicht an der Willkür einer kalten Welt zu zerschellen. Laut dem Philosophen Alasdair MacIntyre sind wir denn auch „storytelling animals“, die durch Narration Sinn in die Welt setzen. Kurzum: Geschichten helfen uns seit jeher, klarzukommen.

In seinem Essaybuch Portrait des Managers als junger Autor hat Philipp Schönthaler nachgezeichnet, wie aus dieser anthropologischen Konstante ein ökonomisches Prinzip geworden ist. Er zitiert unter anderem Tham Khai Meng, der als Worldwide Chief Creative Officer einer erfolgreichen Werbeagentur arbeitet und Kampagnen für Coca-Cola und Greenpeace betreut hat: „Ich glaube, es gibt ein Gewerbe, das noch älter als die Prostitution ist. Es gehört zu unserer täglichen Arbeit: Storytelling.“ Und James Carville und Paul Begala bringen die Verschmelzung von Wirtschaft und Erzählen in ihrem Manager-Ratgeber auf eine prägnante Formel: „Facts tell, stories sell.“

Dass die Story längst zu einer Konsumkategorie geworden ist, ist seit einigen Jahren an jedem Bushäuschen und in jeder Werbepause zu sehen und zu hören: Lotterie-Unternehmen und Krankenkassen brüsten sich auf Plakaten damit, ganz besondere Geschichten zu ermöglichen: Erst diejenige, die eine schwere Krankheit überwunden hat, kann und darf erzählen. Und nur derjenige, der im Lotto gewonnen hat, ist auserkoren, seine Geschichte zu teilen. Gesunde oder Arme kommen in dieser Betrachtung nicht vor. Sie zählen nicht, weil sie vermeintlich nichts zu erzählen haben.

Wenn diese Unterscheidung zwischen erzählenswerten und -unwerten Erfahrungen auf die Praxis des eigenen Lebens übertragen wird, setzt eine Selbstdisziplinierung ein. Die Wertigkeit eines Augenblicks misst sich dann an dessen Erzählbarkeit, die wiederum durch zwei Kriterien bestimmt wird: Erfolg und Effizienz. In diesem Sinn ist die „Story“-Funktion, wie sie User und Userinnen bei Instagram, Facebook und Snapchat nutzen, mehr als nur die Bezeichnung für ein technisches Feature. Es geht vielmehr um eine grundsätzliche Operation, durchgeführt am öffentlichen Selbst. Mit jeder „Story“ wird narrative Optimierung betrieben. Letztlich begreift man sich selbst als jemanden, der erzwungen-kreativ die eigenen Erfahrungen als Ressource versteht, um sich ego-erzählerisch die bestmögliche Geschichte abzutrotzen. Wer dem gegenwärtigen Hype um Memoirs, semi-biographische Bücher und autofiktionale Texte nachgehen will, kommt nicht umhin, diese Phänomene zu berücksichtigen und kritisch zu hinterfragen.

Diachroniker versus Episodiker

In seinem Aufsatz Against Narrativity von 2004 polemisiert der Literaturkritiker und Philosoph Galen Strawson nun gegen die Vorstellung, jedes Leben sei narrativ organisiert und jede Biographie sei letztlich als eine Erzählung zu begreifen. Insbesondere wehrt er sich gegen die ethische Implikation, dass nur ein erzählbares und erzähltes Leben als ein gutes gelte. Anschließend unterscheidet er zwischen diachronischer und episodischer Selbsterfahrung. Erstere bestünde darin, sich selbst auf einer Zeitlinie zu betrachten, die Vergangenheit als erfahrene Prägung und die Zukunft als noch zu erfahrende Prägung zu verstehen. Das Leben wird zum Plot mit einem Vorher und Danach. „Episodiker“ hingegen tendieren zu einem punktuellen Weltverständnis. Sie verorten sich nicht auf einer Zeitachse, Früheres und Zukünftiges haben für sie keine Relevanz.

Diese zwei „temporalen Temperamente“ unterscheiden sich Strawson zufolge auch in der Art, wie sie ihr Erleben konzeptualisieren. Indem die Forschung, sei es in Philosophie, Erzählwissenschaft, Psychologie oder Soziologie, nahezu exklusiv die bio-narrative These vertrete, würde der Welterfahrungsmodus der Episodiker als mangelhaft, ja, falsch gebrandmarkt. Dabei sei Strawson, der sich zu den Episodikern zählt, der Meinung, dass er glücklicher als viele andere sei mit seinem „truly happy-go-lucky, see-what-comes-along“-Leben.

Das Leben, eine rhetorische Illusion

Mit diesem psychologischen Veto gegen das Storytelling steht der britische Kritiker Strawson längst nicht allein. Bereits 1986 veröffentlichte der Soziologe Pierre Bourdieu einen Aufsatz mit dem Titel L’illusion biographique. Auf wenigen Seiten skizziert er, dass die Etablierung einer sozialen Identität einhergehe mit der Konstruktion einer Lebensgeschichte – mit allem, was dazugehöre: Die Lebensgeschichte muss chronologisch und logisch sinnvoll sein, sie soll linear und zielstrebig voranschreiten und eine identitäre Kohärenz behaupten. Tatsächlich bestünde hierbei aber die Gefahr, „sich einer rhetorischen Illusion zu unterwerfen“, einer „trivialen Vorstellung von der Existenz“ als Geschichte. An einer Stelle spricht Bourdieu dann auch von einem Gegenmodell, von der „Anti-Geschichte“, die sicherlich auch dem Episodiker Galen Strawson zusagen dürfte.

Als Soziologe interessiert sich Bourdieu aber nicht nur für den Einzelfall, sondern für dessen Einbettung in ein größeres, systematisches Ganzes. Wer sich anschaue, wie sich Menschen artikulierten, dem würde auffallen, dass sie „spezifischen Zwängen und Zensuren“ ausgesetzt seien. So geht man in der Darstellung der Lebensgeschichte konform mit den Anforderungen und Ansprüchen des Systems. Man normalisiert sich und versucht einen Standard zu erfüllen, um „dem offiziellen Modell der offiziellen Selbst-Präsentation“ zu entsprechen. Alle Geschichten beginnen, sich zu gleichen. Das erschütternd Außergewöhnliche wird zum Makel, nicht zum Bonus.

Auch Philipp Schönthaler merkt in seinem Essay kritisch an, dass die Allgegenwart von Erzählungen nicht nur ein Segen ist. Deren literarische Lizenz, nicht so genau zwischen Erfundenem und Gegebenem unterscheiden zu müssen, habe immer schon dazu eingeladen, Geschichten propagandistisch aufzuladen und sie an jenen Stellen einzusetzen, an denen Argumente und faktisches Wissen ihren Dienst versagen. Auch verweist Schönthaler auf den Schriftsteller und Professor für Anglistik James Phelan, der von einem „narrativen Imperialismus“ in der Wissenschaft spricht. Nahezu alle Disziplinen hätten sich dem narrativen Paradigma angeschlossen, ganz so, als sei außerhalb der Narration von Welt und Leben nichts mehr zu haben.

„Life alone is enough“

Es gibt also gute Gründe, skeptisch zu sein gegenüber der mal suggestiven, mal disziplinierenden Macht von Geschichten. Nicht umsonst hat sich Thomas Bernhard zum „Geschichtenzerstörer“ stilisiert. Wenn er „in der Ferne irgendwo hinter einem Prosahügel die Andeutung einer Geschichte auftauchen“ sähe, dann schieße er sie ab. Und Paul Nizon brandmarkt Geschichten als „Anschläge auf das Leben“ und „Anbiederungen“, die dazu dienten, das Leben „abzuziehen oder abzufüllen und in Tüte, Schachtel oder Wort mitzunehmen“. Resignativer klingt wiederum Samuel Beckett: „A story is not compulsory, just a life, that’s the mistake I made, one of the mistakes, to have wanted a story for myself, whereas life alone is enough.“

Mit ihren Aussprüchen passen diese Autoren in eine Schematisierung, die die öffentliche Debatte in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Die Postmoderne wird zur Zielscheibe, und mit ihr werden schriftstellerische Figuren, die die Postmoderne literarisch befeuern, zu „Pappkameraden“, an denen Schießübungen stattfinden: Dieser Schlag von Theoretikern und Künstlern habe, so der Vorwurf, eine fundamentale Unsicherheit über die Gesellschaft gebracht. Sie hätten den Menschen jegliche weltanschauliche Verbindlichkeit und kategoriale Stabilität genommen. Mit der Wunderwaffe des „Konstruiert-Seins“ wirkten sie letztlich zersetzend. Wie, es braucht keine Geschichten mehr? Wie, Wahrheit als Absolutes lässt sich nicht dingfest machen? Dementsprechend sei dieser postmodernen Bedrohung ein Essentialismus entgegenzusetzen, der alte Werte als neue Rettung einbringe: das Reale, das Natürliche, der unantastbare Kern. Es gibt Nationen, es gibt Rassen, es gibt Realität. Und freilich gibt es auch Geschichten, die von alledem künden. Wieso bloß all die Brüche und Relativierungen und Uneigentlichkeiten? Stattdessen brauchen wir wieder richtige Erzähler, wahrhaftige Benenner. Just an dieser Stelle werden dann aus erzähltheoretischen Überlegungen politische Fragestellungen.

Denn eine Gegenwartsliteratur, die ihre Intelligenz größtenteils darauf verwendet, eine soziale Realität möglichst getreu abzubilden, hat für die hier aufgezeigten Problemlagen keinen Blick. Solchen Romanen, wie sie gerade zuhauf auf den Buchmarkt geworfen werden, entgeht, dass ihr schriftstellerisches Kerngeschäft problematisch geworden ist, etwa durch die skizzierte ökonomische Indienstnahme von Narrationen. Ebenso bleiben diese Romane blind dafür, dass sie mit ihrem naiven Realismus einem anti-modernen Zeitgeist in die Hände spielen und sich für fragwürdige politische Andock-Manöver bereitstellen können. Stattdessen fühlen sich ihre Autorinnen und Autoren von einem Feuilleton geschmeichelt, das sie aus exotistischen Gründen hofiert, Stichwort: Authentizität und ein Dunkle-Gesellschaftsecken-für-die-Kulturjournalisten-Ausleuchten (hier, ab 03:14) Wegen alledem ist der untertheoretisierte Realismus, auch „Inhaltismus“ genannt, weit mehr als eine nur harmlose saisonale Erscheinung, sondern ein Symptom dafür, wie wenig Ahnung bemerkenswert viele Autoren und Autorinnen haben, wenn sie erneut zur sogenannten Wiedergabe der sogenannten Welt ansetzen.

Literatur im safe house. Eine (tendenziöse) These zur Literaturkritik

1889 gaben zwei deutsche Schriftsteller ihr auf Deutsch geschriebenes Theaterstück Papa Hamlet als die Übersetzung eines norwegischen Dramas aus. Sie erfanden dafür einen Autor mit skandinavisch klingendem Namen, Bjarne P. Holmsen, sowie einen promovierten Übersetzer, den es ebenso wenig gab, Dr. Bruno Franzius. Wieso fuhren die Autoren dieses Manöver? In einem Beiwort, das eine spätere, neuverlegte Ausgabe begleitete, erklärte einer der Autoren, Arno Holz: „Die alte, bereits so oft gehörte Klage, daß heute nur die Ausländer bei uns Anerkennung fänden und daß man namentlich, um ungestraft gewisse Wagnisse zu unternehmen, zum mindesten schon ein Franzose, ein Russe oder ein Norweger sein müsse.“

Und die Rezeption von Papa Hamlet gab ihm Recht; in Kritiken wurde etwa festgehalten: „Als Norweger ist Bjarne P. Holmsen natürlich Realist und ein radikalerer als alle seine Landsleute.“ Das Lesemuster war klar: Diese Skandinavier da oben haben einen unverstellten Zugriff auf die sogenannte Welt. Ihr Schreiben ist ursprünglich, es rührt an Rohes. Diese nationalen Zuweisungen haben bis heute – über die Literatur hinaus – ihre Gültigkeit behalten: die naturrauen Pullis vom Kleiderlabel Marco Polo, die schotterpistenbezwingenden Autos von Volvo, die existenziell verschatteten Nord-TV-Krimis. Auf diese Weise wird eine ganze Großgroßregion rubriziert.

Und auch die Literatur aus den nordischen Ländern erscheint in diesem Licht wie eine unbehandelte Tischplatte aus Kiefernholz, die geradewegs vom Baum ins Wohnzimmer gefallen ist. Hier ist nichts abgebürstet, getüncht und poliert worden. Hier ist alles so, wie es nun einmal (angeblich) ist. Das wird deutlich, wenn man sich anschaut, welche Bücher aus skandinavischen Ländern in Deutschland Erfolge feiern. Die SWR-Bestenliste vom Januar 2018 etwa listete den vom Guggolz‑Verlag neuverlegten Erzählband Himmerlandsvolk des dänischen Nobelpreisträgers Johannes Vilhelm Jensen (1907-1973) auf Platz 4, auf dem Klappentext ist die Rede von „archaischen Verhältnissen und Lebensbedingungen“, die Jensen meisterhaft einfange. Auch Maja Lunde, die gerade mit zwei Büchern auf der SPIEGEL-Bestsellerliste vertreten ist (Die Geschichte des Wassers, Platz 4; Die Geschichte der Bienen, Platz 5), lässt sich der Liste hinzuschlagen. Lunde – die naturnahe Prophetin, die warnend inmitten des Anthropozäns steht und vor der falschen, perversen Unterwerfung und Zerstörung der Natur warnt. Der Norweger Jon Fosse mit seinen ungehobelten, interpunktionsarmen Sätzen, mit seinen sterbenden norwegischen Fischern, mit seiner „Arte povera“ (FAZ) und deren fieser Auslegung, dem „Eigentlichkeitskitsch“ (NZZ), wäre ebenso zu erwähnen. (Das ganze Knausgård-Gedödel, all die SZ-, Zeit– und Literarische-Welt-Besuche bei ihm, die Fotos von seinem zugemüllten Teppich und seinen verdreckten Füßen, davon wie er, gebeugt, mit dem Rücken zur Kamera, in seinem Auto rumwühlt und wir nichts als einen wieso auch immer fotografierwürdigen Autorenarsch samt herausschlabbernden Boxershorts sehen, erwähne ich nur in dieser Klammer.)

Die nur anzitierten und unfair verkürzenden Zuschreibungen werden den genannten Autor*innen keineswegs gerecht. Fosse etwa ist durch und durch auf postmoderne Narratologie getrimmt und baut gleitend verschachtelte erzählerische Brechungen ein. Indes sind bestimmte Zuweisungen unabhängig davon maßgeblich geworden: Nah an den Dingen, klar im Ausdruck – so schreiben Norweger*innee und Dän*innen. Genauer ausgedrückt: Man meint zu wissen, wie die da oben sehen, denken und schreiben. (2019 wird Norwegen Gastland der Frankfurter Buchmesse sein; es wird spannend sein zu schauen, welche Rezeptionsweisen hier fortgeführt bzw. neu gesetzt werden.)

Die Knechtschaft wechseln

Im erwähnten Nachwort von Papa Hamlet schreibt Arno Holz, mit seiner fingierten Übersetzung und Herausgeberschaft habe er versuchen wollen, „die französische Knechtschaft mit der des Nordens zu wechseln“. Denn neben norwegischen Autoren übten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders die französischen Schriftsteller großen Einfluss auf die künstlerischen Debatten aus. Dort formierte sich der sogenannte Réalisme, dem in einem damaligen Dictionnaire de la langue franҫaise ein „Hang zur ideallosen Reproduktion der Natur“ zugewiesen wurde. Und in der Revue des deux mondes brachte ein Kritiker die Unterschiede zwischen deutschem und französischem Schreiben auf den Punkt: In Frankreich verfolge man nicht „die Nachahmung der Wirklichkeit im allgemeinen, sondern nur die einer gewissen, der niedrigen und groben Wirklichkeit“. Dagegen wäre „die Nachahmung der schönen Natur“, wie sie in Deutschland praktiziert werde, „in unseren Augen kein Realismus“. (Bis heute gilt Émile Zola als letzter und größter Vertreter dieser Schreibschule.)

Welche französischen Romane werden zurzeit besonders in Deutschland rezipiert? (Außen vor sei Michel Houellebecq gelassen, der sich zugegebenermaßen nicht so leicht integrieren lässt.) Hier eine (natürlich selektive) Liste, das erste Jahresdatum nennt die Erstveröffentlichung in Frankreich, das zweite die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung:

Rückkehr nach Reims von Didier Eribon (2009, 2016)
Das Ende von Eddy von Édouard Louis (2014, 2015)
Im Herzen der Gewalt von Édouard Louis (2016, 2017)
Die Jahre von Annie Ernaux (2008, 2017)
Mein Vater ist Putzfrau von Saphia Azzeddine (2009, 2015)
Das Leben des Vernon Subutex, Bd. 1 von Virginie Despentes (2016, 2017)
Erschlagt die Armen! von Shumona Sinha (2011, 2015)

Ich möchte diese Bücher gar nicht auf ihre artistische Wertigkeit hin kommentieren, sondern lediglich feststellen: Es sind allesamt Texte mit einem stark sozialkritischen Ansatz und einem direkten Bezug zu Missständen in der (französischen) Gesellschaft. Und dementsprechend werden sie gelesen: als Dokumente und Protokolle einer gesellschaftlichen Krise: Despentes etwa zeige uns „eine fast schon wieder poetisch werdende, aber ganz authentische Brutalität“, schreibt die NZZ. (Interessant ist hier das adversative aber, als wären poetisch und authentisch begriffliche Kontrahenten.) Und über Edouard Louis‘ Debütromat, Das Ende von Eddy, schreibt SPON: „Diese Geschichte, geschrieben von dem mittlerweile 22-jährigen Édouard Louis, ist schrecklich. Und grausam. Weil man weiß, dass sie autobiografisch ist, dass die Leiden des heranwachsenden Eddy authentisch sind, ist sie umso schwerer zu ertragen.“

Das ist nur eine Kurzauswahl, die sich leicht erweitern ließe. Der Tenor wird in Variationen derselbe bleiben: Frankreich frönt einer „neuen Aufrichtigkeit“, wie es Iris Radisch in der ZEIT-Buchmesse-Beilage bezeichnet. (Louis und Eribon sind in dieser Hinsicht die Soziologie-Naturalisten, die versuchen, Pierre Bourdieus Theorien durch beweiskräftige Literatur zu stützen.) Und just dieser Umgang mit französischer Literatur entspricht einem rezeptiven Muster, Réalisme, Zola et al. wirken nach; sie spielen bewusst oder unbewusst mit rein, wenn es darum geht, Literatur aus Frankreich auf einen (arg engen) Nenner zu bringen. (Auch wenn es Wiederaufnahmen sind, seien als Gegenbeispiele hierzu die quirlig unrealistischen Erzählungen und konzeptuell höchst eigensinnigen und artifiziellen Romane von Georges Perec genannt, die seit geraumer Zeit bei diaphanes wiederverlegt werden.)

Die Gründe für diese lesende Priorisierung des vermeintlich Natürlichen, Sozialrealen und Anti-Artifiziellen wurden in den letzten Jahren verschieden gewichtet. Medienkritisch: Die starke Medialisierung lasse immer weniger Raum für eine direkte Erfahrung von Realität – und fördere ein Verlangen nach einer ebensolchen. Epistemologisch: Kategorien wie Wahrheit und Echtheit seien labil bzw. suspekt geworden, sie böten keine Koordinaten mehr, um die Welt zu verstehen. Literatur hingegen halte Wissensbestände parat, die sonst nicht zugänglich seien. Eine unsichere, gespaltene Gesellschaft verlange in diesem Sinne nach neuen, gerne auch: einfachen Verbindlichkeiten und suche sie u. a. in der Literatur und deren Funktion als Welterklärbär. Literaturepochal: Nach den Jahren des Pops und der vermeintlich verhängnisvollen und naiven Feier der Oberfläche kehre nun zyklisch, als Backlash, eine neue alte Lust am Unverstellten, Unironischen und Zugänglichen ein. Emanzipativ: Die Repräsentationsmonopole müssten aufgebrochen werden. Figuren, die ethnischen oder geschlechtlichen Minderheiten angehörten und im realen Raum unsichtbar und stimmlos seien, müssten im literarischen Raum sichtbar und aufgewertet werden.

Schnell ins safe house

Was hat das für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur und deren Kritik zu bedeuten? Der Clou ist die Masche: Zuerst wird eine durchaus hinterfragungswürdige literaturkritische Kategorie, die „Aufrichtigkeit“, wenn auch nicht willkürlich, so doch willfährig, als literaturhistorischer Widergänger in andere nationale Literaturen implantiert und als maßgeblich deklariert. In einem zweiten Schritt wird sie dann in den hiesigen Literaturdiskurs reimportiert, um schließlich mit ihrer Hilfe ein vermeintlich unabhängiges, allgemeingültiges Kriterium zur Hand zu haben, um etwas zu valorisieren und zu legitimieren, was gerade wichtig ist. Tatsächlich geht die Inthronisierung des Aufrichtigen mit einer Verarmung schriftstellerischer Möglichkeiten einher. Der verkopfte Exkurs, die slalomige Reflexion über dies und das, das Verfangen in poetologischen Rätseln, das Verlieren in abseitigen, unrealistischen Bilderwelten – all dies wird schlimmstenfalls stigmatisiert, zum falschen Geplänkel erklärt, das zur falschen Zeit gespielt wird. Denn gibt es gerade nicht richtige Probleme, die von derlei Analysten und Ästheten ausgeblendet werden?

Und der Maßstab wirkt längst. Über Book of Bott des Korbinian Verlags schreibt Felix Stephan in der SZ: „Der schöne Nebeneffekt dieses Verfahrens besteht allerdings darin, dass im Book of Bott ein Berliner Straßendeutsch gesprochen wird, das klingt, als hätte es Alfred Döblin persönlich protokolliert: „Ich gab also Vollgas, das Bottface stand mir ins Gesicht geschrieben und hörte nur noch ein ,SCHEIßE!‘-Ruf von dem Bullen. (…) Als die ausstiegen, dachte ich: ,Okay, hundert pro gebustet, keine Chance‘.“ Bei Émile Zola war der niedere Stil, der genus humile, ein Angriff auf die dogmatische Formenschule der Pariser Literaturelite, die so versunken war in die akademische Traditionspflege, dass das bloße Abschreiben der sozialen Wirklichkeit als Naturalismus verspottet wurde. Und ganz ähnlich ist dieses Projekt aus dem Deutschland des Jahres 2018 wohl auch zu verstehen.“

Wieder Protokoll, wieder Naturalismus, wieder Zola. Nochmal: Es geht nicht darum, diese Bücher deswegen als schlecht, simpel oder schwach zu „verspotten“, weil sie sich am „bloßen Abschreiben der sozialen Wirklichkeit“ versuchen. Das kann gelingen, das kann fantastisch sein. Aber solche Bücher können ebenso gut misslingen. Aber wenn das Aufrichtige, Direkte und Unverstellte zum ersten Kriterium wird, dann sind viele dieser Bücher von Anfang an im safe house, selbst wenn sie sprachlich unterirdisch oder konzeptuell engstirnig sind. Sie können gar nicht schlecht, simpel oder schwach sein, schließlich sind sie sozial bzw. natürlich.

Diese zeitmodische Immunisierung bestimmter literarischer Texte, die die Literaturkritik befangen macht, weil eine einzige Bewertungskategorie absolut gesetzt wird, wird sicherlich auch im deutschsprachigen Literaturbetrieb voranschreiten. Dafür sind die gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen, die auf die eine oder andere Weise auch das Schreiben und Lesen von Literatur beeinflussen, zu stark. Schließlich wollen die Autor*innen mit ihren artistischen Beiträgen diskursiv teilnehmen. Soll man ihnen das verübeln? Die Frage bleibt, ob die Kategorie des Aufrichtigen und deren Spielarten, ins Identitäre gemünzt: das Authentische, ins Moralische gewendet: das Anständige, ob diese Kategorien der Primärimpuls von Literatur sein sollten.

 

Surfen lässt sich nur an der Oberfläche. Über Josefine Rieks Debütroman „Serverland“

War die Tankstelle einer der mythischen Räume, an dem der Zeitgeist des vergangenen Jahrhunderts offenbar wurde, so ist der Serverraum einer der Orte, an denen das 21. Jahrhundert paradigmatisch wird. Das Brummen der Algorithmen, die umfassende Vernetzung, die schöne Kühle der technischen Geräte – in Datenzentren, wie sie „Google“ oder „Facebook“ betreiben, spielt sich die Welt im Kleinen, Geheimen und Rätselhaften ab.

Kein Wunder, dass auch eine der Figuren aus Josefine Rieks‘ „Serverland“ ständig danach fragt, ob man „dieses Facebook“ reaktivieren könne. Denn unser jetziger vernetzter Alltag ist in Rieks‘ Fiktion zum digitalen Mythos geworden. Nach einem Referendum in einer näheren Zukunft wurde das Internet abgeschaltet. Laptops, Bildschirme und Beamer sind zur Ramschware geworden, die Druckmedien erleben eine Renaissance. Die Gründe hierfür bleiben im Dunkeln, ja, insgesamt wird der Leserschaft wenig Kontext geboten, in was für eine Welt sie sich gerade hineinliest.

Ob die AfD, die Linke oder ein KI-Digitalisat von Angela Merkel Deutschland regiert, wird nicht erwähnt. Immerhin, die deutsche heile Welt scheint kaum angetastet: Im „Aral“ kauft der Protagonist Reiner „Haribo“-Tüten ein, später erfahren wir, dass er bei der „Deutschen Post“ arbeitet. Für die einen mag so eine Zukunft wie das Paradies, für die anderen wie die Hölle klingen. Für Reiner, einen Mittzwanziger, der sich die Zeit mit dem Sammeln von Laptops und dem Spielen alter PC-Spiele vertreibt, ist es wohl irgendetwas dazwischen.

Mit einer Sequenz aus dem Echtzeit-Strategiespiel „Command and Conquer“ setzt „Serverland“ denn auch ein: Die Freiheitsstatue wird von sowjetischen Raketen beschossen, in deren „patinagrünen“ Augen blitzt Panik auf, bevor sie krachend zusammenfällt und Soldaten unter sich begräbt. Es ist eine schachmattige Eröffnung, eine Verschachtelung, die sich wundersam verkantet: In einer nicht-apokalyptischen Zukunft spielt ein nostalgischer Nerd ein PC-Spiel aus den 90ern, das eine kriegszerstörte Zukunft imaginiert. Das Ausbleiben der Katastrophe generiert erst die Langeweile, die der endzeitlichen Fiktion bedarf, um sich selbst zu bekämpfen.

Nach dem Internet ist vor dem Internet

In diesem euphorielosen Leben, dessen Highlight tote verpixelte GIs sind, hat Reiner sich eingerichtet, als er von einem Freund zu verlassenen Server-Hallen mitgenommen wird. Und schon glimmt die einstige Utopie des Internets in den Augen und Kabelausgängen erneut auf. In der holländischen Pampa treffen sich immer mehr junge Leute, die kommunenhaft nahe stillgelegter „Google“-Server campieren. Sie gieren nach dem Früheren, nach der vermeintlichen Freiheit der Nuller- und Zehnerjahre. Aus den Datenbanken ziehen sie „Youtube“-Videos auf ihre Festplatten, die sie sich dann voller Begeisterung zeigen. So lebte man damals, so stellte man sich damals zur Schau. Robbie Williams reißt sich im Musikvideo zu „Rock DJ“ zuerst die Kleider, dann die Haut vom Körper. In Endlosschleifen knallen die Flugzeuge in die WTC-Türme.

An diesen Stellen flackert kurz auf, wie konzeptuell vielversprechend „Serverland“ ist. Es hätte ein toller Medienroman über das Leben und Wahrnehmen im 21. Jahrhundert werden können, darüber, wie wir zwischen News-Feed, digitaler Manie und körperlosen Stellvertretern feststecken, den Blick auf die große Idee gerichtet, dass das Internet die Rettung sei. Nicht umsonst ist dem Roman ein Zitat des kürzlich verstorbenen Internet-Aktivisten John Perry Barlow vorangestellt: „I declare the global social space we are building to be naturally independent of the tyrannies you seek to impose on us.“

Gerade diese tyrannische Agenda verhandelt „Serverland“ aber nirgends. Dabei gäbe es ausreichend Anlässe: In den USA will eine Behörde die Netzneutralität, die den freien Datenverkehr garantiert, abolieren. In China sollen über ein total(itär) vernetztes System alle Bürger nach Sozialpunkten bewertet und diszipliniert werden. Die ökonomische und politische Indienstnahme des Internets in die Fiktion hinein zu verlängern – das hätte dem Roman eine Dringlichkeit gegeben. Stattdessen wird das Internet weggezappt, als reiche es, einen Off-Knopf zu drücken, um etwas zum Verschwinden zu bringen. Aber was ist mit den gesellschaftlichen Verwerfungen, die in den sozialen Netzwerken zu Tage treten? Was mit der individualisierten Werbung, die uns Schuhe, Slips und Strandurlaube andreht?

Weder Mühe noch Spaß

Auch hier zeigt sich die Einfallslosigkeit dieser Welt: Der Zustand nach dem Internet ist nahezu identisch mit demjenigen vor dem Internet. Alles ist eingeengt auf die klug gedachte, aber konfus gestellte und kleinlich beantwortete Frage, welches utopische Potential im Menschheitstraum Internet steckt. Und es bereitet weder Mühe noch Spaß, Rieks‘ lau vor sich hin agierendem Personal bei ihrem Projekt zu folgen. Mal kaufen Reiner und Jonny irgendetwas ein, mal streitet sich Reiner mit Marco. Gäbe es keine Namen, alle Figuren wären eins. Zugleich ist die Sprache ohne jeglichen Ehrgeiz, ohne bildhafte oder rhythmische Dynamik: Ein modisches Sujet gereicht hier zum Schreiben und Verlegen.

Dabei ergreift einen immer wieder die Lust, sich in diesem Zukunftsentwurf umzuschauen. Mal will man mehr über die Atmosphäre und das Milieu dieser neuen, anderen Zeit erfahren, bekommt dann aber wenig mehr als die Info, dass der „VW Scirocco“, mit dem Reiner herumfährt, als Oldtimer gilt. Mal will man sich in Internet- und Medienüberlegungen hineinfuchsen und in den Dialogen nach Theorie-Anhaltspunkten suchen. Stattdessen werden bestimmte Ausführungen, etwa zur technischen Prophetie, wie sie Steve Jobs und Bill Gates ablieferten, ironisch als Expertensprech heranzitiert.

Schade, ja, ärgerlich, dass „Serverland“ wenig mehr ist als ein Anreger, Anderes zu lesen: Wer sich für medientheoretische Überlegungen, u. a. zu Video- und Buffer-Mechaniken von Youtube, interessiert, ist mit Tom McCarthys Roman „Satin Island“ besser beraten. Wer sich fragt, wie Gesellschaften sich in einer (absichtlich herbeigeführten) Post-Internet-Zeit in weltanschaulichen Cliquen organisieren, der lese Leif Randts Roman „Planet Magnon“. Und wer eine erschriebene Ahnung bekommen möchte, wie Nachgeborene auf uns zurückblicken werden, kann zu Roger Willemsens Essay „Wer wir waren“ greifen.

Endlich mal kein Geschichtenerzähler. Über Lorenz Justs Debüt, den Erzählband „Der böse Mensch“

In (Markt-)Zeiten, in denen der gähnend-gängige 220-seitige Roman mit seiner leicht kaubaren Zeitgenossenschaft Erfolge feiert, ist es gewagt, sich als Debütant für Erzählungen zu entscheiden. Mit „Der böse Mensch“ geht der 1983 geborene Lorenz Just dennoch diesen Weg. Natürlich gibt es auch bei Erzählbänden erfolgreiche Vorgängerbeispiele, etwa „Sommerhaus, später“ (1998) von Judith Hermann. Auch Karen Köhler legte mit „Wir haben Raketen geangelt“ 2014 einen vielbeachteten Band vor; zuletzt wagte sich Jan Snela mit seinen sprachverliebten Erzählungen („Milchgesicht“) vor, u. a. wurde er 2016 mit dem Clemens-Brentano-Preis ausgezeichnet. Aber der Standard-Einstieg in den Betrieb führt über die Gattung Roman.

„Der böse Mensch“ ist bei Dumont erschienen und trägt sechzehn Erzählungen zusammen, die nicht kürzer als drei, nicht länger als fünfzehn Seiten sind. Wäre das Wort „experimentell“ nicht so abgelutscht wie ein Leckstein in einem verwahrlosten Ponyhof, ließe es sich auf viele der Geschichten anwenden, an seiner Stelle seien einige adjektivische Gegenvorschläge aufgezählt: Die Texte sind eigensinnig, konzeptuell, ideenzentriert bzw. anti-realistisch. In „Aus dem Tagebuch meines Bruders“ denkt ein Künstler etwa penetrant-zenhaft über Ursprung und Ausmaß seines Schaffens nach: „Ich versuche, etwas zu tun, und doch bleibt jede meiner Bewegungen das Gegenteil einer Tat: erbärmliche Zuckungen menschlichen Irrsinns.“ In „Bildbeschreibung“ wird in gedehnter, fast schon zeitenthobener Sprache eine Szenerie beschrieben. Aber was ist hier Handlung, was Deskription? Oder ist die Deskription die Handlung? Und was ist wichtiger: dass etwas Außerordentliches passiert oder dass etwas in äußerster Präzision beschrieben wird?

Schnell merkt man: In seinem Erstling liefert Lorenz Just keine handelsüblichen Geschichten ab. Es sind im besten Sinne Sprachstücke, kleine vernarrte Texte, die sich selbst erkunden. In der Erzählung „Kalt genug“, die von einem schwierigen Bruderverhältnis handelt, heißt es gleich auf der zweiten Seite: „Wolfgang lief zurück in die Garage, winkte Georg heran, der ihm wie durch eine gläserne Wand hindurch zugeschaut hatte.“ In seinem (tollen und leider nicht übersetzten) Buch „Faire le garҫon“ drückt sich der Schweizer Autor Jérôme Meizoz an einer Stelle ganz ähnlich aus: „Très tôt, le garçon a dû voir tout cela sur une sorte d’écran, à distance. Entre lui et le monde, quelque chose s’est vitrifié.“ („Sehr früh musste der Junge all dies auf einer Art Bildschirm betrachten. Zwischen ihm und der Welt hatte sich etwas verglast.“)

Nur eins bleibt ein Rätsel: der willkürliche Titel

Buchstaben wie Hagelkörner

Tatsächlich kommt das Bild der Verglasung, der Trennung von einer Umgebung, die sich zugleich einsehen lässt, dem Stil von Just ziemlich nahe. In seinen Geschichten wird ein Fenster eingezogen, eine Schwelle gesetzt. Mit der Realität „hier draußen“ haben die Erzählungen wenig zu tun – und gerade deswegen gelingt es ihnen, eben diese Realität auf ihre andere Weise dingfest zu machen. Just ködert niemanden mit dem allzu lockenden und allzu falschen Versprechen, das Wort sei die Welt. An einer Stelle heißt es: „Von Anfang an, ich meine, vom ersten Buchstaben an, habe ich immer geschrieben, ein Buchstabe, zwei Buchstaben, drei, zuerst ohne zu wissen, wofür, welche Laute. Seiten voller Buchstaben, über das Blatt verteilt wie Hagelkörner oder Kratzspuren.“

Als Leserschaft bekommen wir live mit, wie sich eine Sprache ihre Welten erschafft, etwa durch den Einsatz einer Zoomtechnik, wie in „Der Bericht einer Reise“. Dort geht die Rede von einem Fremdling, der in einem kaum kontrollierten Erzählstrudel von seiner wirren Kindheit und seinem konfusen Ausreißen berichtet. Nichts wird klar, alles bleibt hängen. In einem dusteren Sog stolpert der Ich-Erzähler durch Landschaften, Städte und Stimmungen, an einer gefälligen Vermittlung ist ihm nicht gelegen: „Ihre Hände waren groß und kalt, wie ein enger Käfig umfassten sie meinen Kopf. Ihr breiter Mund öffnete sich, Speichel, der zwischen Ober- und Unterlippe hing, zog einen Faden und zersprang. Ein kalter, stechender Tropfen traf mein Auge. Etwas knackte, als die Gestalt langsam meinen Kopf meiner rechten Schulter zubog. Ich roch ihren Atem, der süßliche Geruch ließ mich hoffen.“

Sich etwas erlesen statt es zu erfahren

Diese Form der Stilkunst ist lobenswert kühn, auch deswegen, weil sie so gar nicht dem etablierten Lesegeschmäckle entspricht, den vielen Büchern, die sich damit zufriedengeben, mit dem Drei-Komponenten-Kleber zu hantieren: ein wenig Milieu, ein wenig Krise, ein wenig Subjektivität. Aus dem Zusammenrühren entstehen dann meistens lauwarme Geschichten, die weder so recht gelingen noch so richtig misslingen. Ihr Repertoire umfasst: Plattenbau, Altbauwohnung, Kleinstadt, dazu Jobfrust, Familienzwist oder Altersangst, aufgepeppt mit Bildern à la: „Das Leben fühlte sich an, als habe er statt Diesel Benzin getankt.“ Solche Texte lesen sich gut weg, weil sie akute Sujets oberflächlich verhandeln, und gerade deswegen geraten sie ebenso schnell in Vergessenheit. Dass Justs Erstling dieses Muster nicht bedient, macht ihn in seiner artistischen Standhaftigkeit so besonders (und) sympathisch.

Die alptraumhafte (sprach-)körperliche Verrenkung in „Der Bericht einer Reise“ schreitet indes voran, Zeile um Zeile, bis wir erneut auf das Glasige stoßen: „Auf den glänzenden Augäpfeln der Gestalt erkannte ich die Reflexion meines gläsernen Blicks.“ Hier greifen Beobachtung und Beobachtungsbeobachtung ineinander, das Grauen ist weniger ein erlebtes als ein erblicktes, wie auch die Bestürzung, die einen beim Lesen von „Der böse Mensch“ ergreift, keine erfahrene, sondern eine erlesene ist. Es passt jetzt einfach zu gut, um es nicht zu zitieren: Über die Beschaffenheit und Wirkung von Glas schrieb Walter Benjamin, es sei „nicht umsonst ein so hartes und glattes Material, an dem sich nichts festsetzt“, es sei „ein kaltes und nüchternes, denn die Dinge aus Glas haben keine Aura.“ Für Just gilt in etwas freier Weiterführung: An seinen kristallinen Erzählungen bleibt nichts haften, keine falsche Sentimentalität und keine illusorischen Schlieren, in ihrer Zurschaustellung sind sie gnadenlos klar.

Ein Erzählband als Grundlagenforschung

Bestimmte Schlagwörter in den Titeln zeigen es bereits an: „Bericht“, „Bildbeschreibung“, „Interview“, „Aus dem Tagebuch“, „Herrn Naumanns Notizen“ – viele der Erzählungen widmen sich einem narrativen Modus mit bestimmten strukturellen Vorgaben. In den letztgenannten Notizen wird in kurzen Absätzen beispielsweise eine Familienhistorie entfaltet. Als nüchterner Chronist hält ein Ich-Erzähler fest, welcher Ahne was gearbeitet hat, welche Verwandten welche Hoffnungen hegten und wieso der Vater als Apotheker glücklos bleiben musste. Auf der Suche nach familiärer Identität, dessen Fluchtpunkt er, der Ich-Erzähler ist, bleibt letztlich wenig mehr als die kühle Zufälligkeit des Stammbaums.

Und in „Interview mit Shana“ wird eine Auswanderin skizziert. Wieso ist sie Eddie in ein amerikanisches Indianerreservat gefolgt? Fühlt sie sich dort wohl? Indem Just seine Figur vermeintlich vor sich hin plaudern lässt, zieht er ihr unbemerkt den rhetorischen Schleier weg, in ihren Antworten steckt viel mehr als das nur oberflächlich Gesagte. Shanas frohgemute Naivität wird ebenso evident wie ihre hanebüchene Ignoranz, die an Selbstverleugnung grenzt: „Weißt Du, seit Jahren kämme ich Eddies Haare und flechte sie zu einem langen Zopf, sie waren schwarz, jetzt sind sie grau, irgendwann werden sie weiß sein, es ist, als würde ich das Schwarz aus seinen Haaren kämmen. Er hat mir diese Handlung geschenkt, er könnte es auch allein.“

Zugleich stört einen dieses breite Genre-Spektrum von „Der böse Mensch“ immer mal wieder, und irgendwann setzt sich der Eindruck fest: Diese Texte sind Grundlagenforschung, es sind disparate Etüden, mithilfe derer Just an seinen „Kompetenzen“ feilt. Seien die einzelnen Erzählungen noch so meisterlich und technisch sauber ausgeführt, ihnen hängt der Makel der Übung an: Sie sind noch nicht das Eigentliche, als virtuose Aufwärmerei gehen sie dem tatsächlichen Auftritt voraus. Und am Ende, nach 173 Seiten, geht der Blick, wie schon bei Pascal Richmanns „Über Deutschland, über alles“, zum hoffentlich nächsten Buch, in dem weniger geprobt wird – und das brillante Sprach- und Schreibbewusstsein stattdessen auf ein Projekt aus einem Guss angewandt wird.

Der Wechsel der Ikonographie. Wie Migration, Klimawandel und Terrorismus unsere Zeichen verändern

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In einem Essay auf dem diaphanes-Blog denkt Mário Gomes über Gewalt, Ästhetik und die Durchsetzung neuer „schöner“ Normen nach. An einer Stelle schreibt er über ein Foto, das einen „El País“-Artikel zum Drogenkrieg begleitet:

„Zu sehen war ein nackter Frauenleichnam, der vor dem Hintergrund großflächiger Werbeplakate von einer Fußgängerbrücke herab über einer Stadtautobahn baumelte. Entlang der Wirbelsäule waren Zeichen in schwarzer Farbe auf die Haut geschmiert, tote Symbole auf toter Haut. Mir wurde klar: So werden Botschaften verfasst. So funktioniert die Kraft der Evidenz. […] Neben den vertrauten Buchstaben und Symbolen umfasst das Zeichensystem nun auch Leichen, Glieder, Häupter.“

So werden Zeichen gesetzt, so wird die Welt semantisiert. Menschen, Dinge, Stimmungen, Bewegungen – vieles lässt sich umcodieren und neu rahmen, kaputtmachen und modifizieren. Es genügt eine durchschlagende Neusetzung, ein brachiales Moment, und schon blicken wir plötzlich mit anderen Augen darauf, mit neuen Augen auf neue Zeichen.

Bei einer Anhörung vor dem US-Kongress sagte 2013 ein 13-jähriger Junge aus Pakistan, er habe Angst vor dem blauen Himmel. Schließlich flögen die US-Drohnen, die ihn und seine Schwester schwer verletzten, nur bei gutem, klarem Wetter. Sicher fühle er sich eigentlich nur noch bei bewölktem Himmel. Auch in Gomes’ Essay geht es nicht umsonst um Gewalt. Sie ist die erste Durchsetzungskraft, das Bindemittel, das das Eine zerstört, zugleich das Andere, ikonische Aufmerksamkeit, schafft. Auch deswegen ist das Thema für Autoren und Autorinnen relevant, wollen sie mit ihrer Literatur doch unsere Wahrnehmungsweisen schärfen, ändern und vorführen. Zurzeit gibt es drei „Kräfte“, die die etablierte Semantik ergreifen, einige würden sagen: angreifen, nämlich Terrorismus, Migration, Klimawandel.

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Einen exklusiv ästhetischen (also durchaus fragwürdigen) Standpunkt nahm der Komponist Karlheinz Stockhausen ein, als er über 9/11 referierte: „Also – was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle ihr Gehirn umstellen – das größtmögliche Kunstwerk, was es je gegeben hat, dass also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert, und dann sterben. Das ist das größte Kunstwerk, was es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen sie sich das doch vor, was da passiert ist, das sind Leute, die sind so konzentriert auf das, auf die eine Aufführung, und dann werden 5000 Leute in die Auferstehung gejagt in einem Moment.“

Terroristen als Künstler – aber was soll ihr Werk sein? Der Tod von 2992 Menschen? Die bildhafte Vereinnahmung der weltweiten medialen Aufmerksamkeit, während Stunden, Tagen, Wochen? Die Hingabe, mit der sie sich ihrer Idee anvertrauten? Oder der Erfolg, mit dem damals neue Zeichen in die Welt gesetzt wurden? Seither wird jedenfalls der Blick auf jede großstädtische Skyline von der Möglichkeit des Einbruchs von Gewalt mitgeprägt; die Option eines totalen Ereignisses steht im Raum, wenn ein Flugzeug im vormittäglichen Blau tief über eine Metropole hinwegdüst.

Derselben Seh- und Zuweisungslogik sind wir auch bei anderen alltäglichen Gegenständen unterworfen: Der herrenlose Koffer ist seit geraumer Zeit der rollkoffrige Schrecken geworden, egal ob in Bahnhöfen, Fußgängerzonen oder Flughäfen. Alles wird suspekt, weil wir bezüglich unserer Zuweisung von Bedeutung paranoid geworden sind. Auch der Lastwagen, der in den Zentren europäischer Großstädte zu abrupt anfährt, ist nach den Attentaten in Nizza und  auf dem Breitscheidplatz eine potentielle Gefahr. Im gewissen Sinne verschmilzt hier eine terrorbezügliche Denk- mit einer literarischen Schreibweise. Die Codes werden neu verhandelt.

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Die Natur verliert ihre kontemplative Unschuld, mit der wir ihr begegnet sind, mit der sie uns umschmeichelt hat. Das Meer, das unsere urlaubsgeilen Zehen mit Wellenschaum kitzelt, ist das Meer, in dem 2015 3771 Menschen ertrunken sind, die in Europa Zuflucht suchten. Die Schwimmwesten, die wir als nervige Textilien von Bootsausflügen kennen, sind zum Symbol für Tod durch Ertrinken geworden. Durch Kunst-Installationen wie der Säulen-Ummantelung mit Schwimmwesten (Ai Weiwei, 2016)  werden diese semantischen Verwerfungen und Verschiebungen in den öffentlichen Raum getragen. (Zusatz: hier eine lesenswerte Kritik dieser Werke) Und auch der LKW darf hier nicht fehlen: Als im August 2015 Schleuser einen mit Menschen vollbeladenen und luftdicht abgeschlossenen Lastwagen auf der A4 in Österreich stehen ließen, gingen tagelang Bilder vom weißen LKW durch die Medien. Auf den Außenflächen prangten Bilder fein geschnittener Putenscheiben und kross gebratener Würste. Drinnen waren 71 Geflüchtete erstickt. Gewalt und Tod, kombiniert mit food-pornösen Fleischfotos, so etwas zwirbelt sich in die Augen.

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Vom indischen Essayisten und Romancier Amitav Ghosh liegt seit kurzem ein Essay auf Deutsch vor: „Die große Verblendung“.  Dort geht er der Frage nach, auf welche Weise die Literatur die allmählichen klimatischen Verschiebungen (und unsere Erfahrung derselben) verarbeitet. Ghoshs Antwort ist klar: Wir schreiben fahrlässig und falsch darüber. Der bürgerliche kanonische Roman, wie er sich seit dem 19. Jahrhundert in den westlichen Ländern ausprägte, konzentriere sich „immer radikaler auf die individuelle Psyche“, auf ein Leben, ein Ego, das durch eine kleine Unwägbarkeit geht, um am Ende verändert, bestenfalls gestärkt dazustehen. Solche Individual-Stories seien aber inkompatibel mit einem globalen und kollektiven Phänomen wie dem Klimawandel.

Der Essay liefert spannende Anregungen, um das Strukturdefizit, das Ghosh der Gegenwartsliteratur bescheinigt, ins Semiotische weiterzudenken: Auch in Anbetracht des Klimawandels verschieben und überlagern sich alte und neue Bedeutungen von Zeichen. Die Kerosinstreifen am Himmel stehen für mich nicht mehr vorrangig für Reisen zu exotischen Zielen, sondern für den hohen CO²-Ausstoß des Flugverkehrs. Das Meer mag noch immer Sehnsuchtsort für dahinschippernde Kreuzfahrer sein, es ist wegen seines steigenden Pegels aber zugleich der erste Austragungsort, die große Gefahrenquelle des Klimawandels geworden. Und die sogenannte große Bleiche im Great Barrier Reef entzieht einem gar das ikonographisch Prägendste einer Gegend, von der wir alle ein kunterbuntes koralliges Bild im Kopf haben, nur um es durch sein Gegenteil zu ersetzen: Es gibt nur noch erblasste, sterbende Meersträucher zu sehen. So wird die Einschätzung der Umgebung eine andere, die Natur wird behutsamer, kritischer, zugleich voller Interesse und Aufmerksamkeit neu erfasst. Das mag auch miterklären, weshalb gerade Bücher, die sich mit Naturbereichen wie dem Wald („Das geheime Leben der Bäume“ von Peter Wohlleben) oder Tieren („Naturkunden“-Reihe bei „Matthes und Seitz“) beschäftigen, so erfolgreich sind.

Im Schlack der Genres. Über Pascal Richmanns Debüt „Über Deutschland, über alles“

Zuerst: Selten habe ich ein durchgängig so nerviges Buch gelesen, selten einen Autor mit mehr Eifer als Unsympathen und Schwadroneur verflucht. Zugleich waren wenige Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe, so umsichtig, clever und spitzfindig wie Über Deutschland, über alles, das Debüt von Pascal Richmann. Gleich auf der ersten Seite des gattungslosen Buches wird erwähnt, um was es gehen soll: Es werde der Plan verfolgt, „deutschkrümelnder Idiotie in die Schnitte zu spucken“. Nichts leichter, nichts schwieriger als das.

ÜDÜA liefert uns hierfür eine Wander-, Lektüre- und Ideenbiographie. Wie bei einem Kontextschlucker wird vieles, was der 1987 geborene Richmann seit ca. 2014 mitbekommen hat, in den Text gepresst. Jonathan-Franzen-Lektüren, Reise-Szenerien, Nachrichten, Gespräche mit Freunden und Familie – alles findet in diesem Buch auf eine erstmal unkoordiniert wirkende Weise zusammen. Angereichert ist das Material mit Belesenheitszitaten von Heinrich Heine über Marc Augé und Max Brod bis hin zu Houston Chamberlain; geographisch verstreut spielen die Episoden mal in Büsum, mal auf Palma, oft im Ruhrpott, natürlich in Berlin.

Gerade gibt es ja ausreichend viele offene Diskurswunden, an denen man der „deutschkrümelnden Idiotie“ ansichtig werden kann. PEGIDA-Proteste, Burschi-Treffen, Nazi-Hooligans, NPD- und AFD-Funktionäre, Münchner Löwenbräukeller – bei allem will Richmann dabei sein, zu allem verlangt er sich einen Kommentar ab. Auch deswegen ist das Buch perspektivisch so hibbelig, so rastlos unterwegs und ständig auf der Hut sowie auf der Suche – schließlich will es in beachtlicher Maßlosigkeit „über alles“ Auskunft geben. Es ist letztlich ein Batzen Disparates, das nur einen Kitt kennt: die präzise, rhythmisch gnadenlos gut austarierte Sprache Richmanns.

Die pointierte szenische Beschreibung in einer Kneipe liegt ihm ebenso wie die (fiktive?) Schilderung von Holger Apfels Lebensweg, von der Jugend über die Anfänge bei der NPD bis hin zum schnapsdiplomierten Wirt auf Mallorca. Dazwischen wechselt Richmann immer mal wieder in den Phrasen- und Analysemodus: „Aber die Aufgeladenheit der Dinge entsteht eben aus den Koordinaten ihrer Geschichte und der Gegenwart daraus folgender Embleme.“

Und genau das ist die semiologische Schicht, die in diesem Buch alles und jeden überlagert: Die Zeichen sind relevanter als das jeweils Bezeichnete. Die pop-kulturellen, redundant symbolischen und in Film und Büchern motivisch recycelten Bilder vom Deutschen sind eingängiger, sind „vorhandener“ als die tatsächlich umherlaufenden Deutschen. In dieser Logik lassen sich ausschließlich Klischees ausmachen. Jedes Phänomen ist längst zum medial etablierten und distribuierten Stereotyp seiner selbst geronnen. Die beige gekleideten Rentner, die hartgekochte Eier im IC aufschlagen, es gibt sie – und nur sie.

Mit dieser Brille läuft der spottaffine Richmann durch Deutschland und findet nichts als zeichenhaft modellierte Typen von Menschen vor, die in die Realität abgepaust wurden. Kichernde Damen, die sich unbekümmert Bunkeranlagen an der Nordsee anschauen; eimersaufende Junggesellen mit hummerfarbener Haut auf Mallorca; Burschenschaftler, die in voller Montur durch Eisenach ziehen und von reiner deutscher Abstammung sprechen. Als Merksatz wird uns in der letztgenannten Szene dann auch mitgegeben: „Ein Schmiss kann eben nichts anderes mehr sein als das Zitat eines Schmisses.“ Und später ist in Bezug auf Helmut Kohls Sohn davon die Rede, er erschaffe sich sein „eigenes Simulacrum“.

Unerhörtes lässt sich also gar nicht mehr entdecken. Der Nazi ist immer schon sein eigenes Zitat, Deutschland bevölkert von Nazitaten. Ob hinter und unter diesen Karikaturen womöglich etwas Ungeahntes liegt, ob es nicht Aufgabe der Literatur ist, einen Mehrwert abseits der stereotypischen Farce zu entdecken – an der Beantwortung dieser Fragen hegt das Buch kein Interesse. Es geht vielmehr darum, wie sich im Jahr 2017 in Deutschland überhaupt noch über Deutschland im Jahr 2017 schreiben lässt. In diesem Sinne will ÜDÜA auch keine neuen Einsichten in das neurechte Phänomen und dessen Denktraditionen liefern. Wer auf gut aufbereitetes Wikipedia-Wissen steht, wird dennoch fündig: die Nibelungensaga, die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“, Migrationsbewegungen italienischer Wanderarbeiter, die in Wolfsburg enden – „alles“ findet in historischen Referaten Erwähnung.

Erst durch die Weise, wie der Autor Spracharbeit und Genrewahl miteinander verknüpft, gewinnt das ausufernde Buch an Profil. Denn Richmann weiß, dass er blass bliebe, wenn er nur in einem Genre schriebe. Für eine Reportage etwa ist der Sound zu selbstverliebt. Hier kümmert sich jemand zuallererst um sich und seinen Stil, um durch ihn hindurch Land und Leute zu beschreiben. Es geht dem Text nie darum, uneigennützig sein Gegenüber in den Blick zu nehmen, den Platz leerzuräumen, damit etwas anderes zur vollsten Darstellung gebracht wird. Stattdessen wird die eigene Sprachraffinesse erprobt:

„Ohne Leine, denke ich, sind wir alle Blondis Welpen, aber dann öffnet sich eine Schneise in unserer Kolonne, die Polizisten winken, raus oder rein, soll das wohl bedeuten, und mit einem Mal bin ich draußen, wir ziehen ohne mich weiter. Und weil ich es nicht aushalte, und auch um ein bisschen Buße zu tun, ja wirklich, ich fühl mich ganz schlecht, kehre ich ein, setze mich an einen Tresen und bestelle ein Mettbrötchen mit Zwiebeln.“

Die knapp 300 Seiten stecken voller Manierismen, die richtig gut nerven, Nullsätze wie: „Zum Frühstück biss ich in einen Boskop“, Binärformulierungen wie „glühende Geranien hin, lodernde Markise her“, hineingeworfene Floskeln wie „na klar“. Wäre ÜDÜA aus Uneinsichtigkeit doch eine Reportage geworden, so hätte es sich als überheblicher Epigone von Deutschboden disqualifiziert.

Dasselbe gilt für das Genre des Romans: Eine Deutschland-Vermessungsgeschichte in makellos ein- und anstudierter Prosa – das will doch keiner mehr lesen. Wer braucht denn noch diese sattsam kaputten Protagonisten, die auf Sylt Jever trinken, um dann die kreuz und quer vor sich hinsiechende deutsche Üblichkeit zu kartographieren? Und wer will sie lesen, die x’te abgefuckte Episode auf einer Mittelmeerinsel, wie sie in Faserland, wie sie in Rave erzählt wird? Hätte sich ÜDÜA diesem Trug hingegeben, es wäre, „na klar“, ein flotter, okayer Gegenwartsroman geworden, der sich nicht hätte lösen können vom Schatten seiner Prosa-Vorfahren.

In diesem Schlamassel steckt Richmann mit seinem „Gefühl, dass die deutschsprachige Literatur tot“ sei, stecken die Jung-Schriftsteller, all die Ambitiösen, die aus Schreibschulen, Agenturen und Dachkammern auf den Markt kullern und mit gierigen Augen auf das 2017-Deutschland schauen, das der literarischen Erfassung harrt. Aber viele Genres sind verschlackt, viele Positionen bezogen und breitgetreten. Um alles richtig, das heißt: nichts wie alle anderen zu machen, erschreibt sich Richmann eine Hybridform, ein mäanderndes Textding zwischen Essay für Das Wetter, Referat im Proseminar „Völkischer Sprach- und Körperdiskurs um 1900“, Ego-Gegenwartsprosa und Seite-Drei-Reportage.

Zudem ist dem Text das Wissen eingeschrieben, ebenfalls Zitat zu sein, eine Persiflage auf den Reportage-Modus, ein deutsches Erkundungsstück, das die bittere ironische Pille geschluckt und verdaut hat, selbst nur mehr längst antrainierte und wohlbekannte Attitüden, Beschreibungsmuster und Bewertungskategorien zu wiederholen. Auch der in Hildesheim ausgebildete Autor tritt demgemäß immerzu als die Farce seiner selbst auf. Zugleich sträubt sich ÜDÜA dagegen, bloße Redundanz zu sein – und versucht wehrhaft, den ganzen Diskursspiralen doch noch irgendetwas Zusätzliches, etwas Eigenes aufzusetzen.

Diese Mischung macht dieses Buch in all seiner Prägnanz und Penetranz aus. Die Frage aber bleibt, zu welchem Ende all diese Schreib- und Denkmühe aufgeboten wurde. Geht es hier tatsächlich um eine Annäherung an Deutschtümelei, darum, zu verstehen statt zu verachten? Oder will sich hier ein angehender Autor ein möglichst beeindruckendes Portfolio zusammenstellen? Auf jeder Seite eine Pointe, in jedem Absatz ein Stiltrumpf?

Letzteres ist Richmann gelungen; auf sein nächstes Buch bin ich jedenfalls sehr gespannt. Wenn ihm aber tatsächlich daran gelegen war, den grassierenden Rechtsruck in einer sozio-topographischen Studie zu suchen, zu finden und sprachlich zu „dekontaminieren“ (das Verb kommt gleich an zwei Stellen vor), dann ist ÜDÜA ein konzeptueller Fehlgriff. Denn hierfür ist das Buch viel zu narzisstisch, viel zu eitel und sprachverbohrt. Näher an Land und Leute führt es jedenfalls nicht heran. Zu beschauen ist stattdessen ein muskelzerreissender Spagat: Hier empfiehlt sich ein verquerer, widerborstig-kluger Kopf, indem er ein so zugepropftes Debüt vorlegt, dass man es irgendwann genervt beiseitelegt und in entfachter Neugierde darauf wartet, was sein Autor im zweiten Buch anstellen wird.

Die Schrulle hat System. Über Francis Neniks Roman „Die Untergründung Amerikas“

Ein Buch nicht zusammenfassen zu können – das deutet meistens auf eine zähe Lektüre hin, auf eine klobige, verfahrene Geschichte. Mitunter kann die Unmöglichkeit, einen Text zu paraphrasieren, aber auf dessen beharrliche Eigenwilligkeit hindeuten, auf das Hirnrissige und heillos Eigenartige eines Buches. „Die Untergründung Amerikas“ von Francis Nenik ist glücklicherweise letzterer Kategorie zuzuschlagen.

Die Protagonistin heißt Amanda Hollis, eine frisch graduierte, kauzige und einsame Bibliothekswissenschaftlerin, die 1963 in Harvard als Archivarin eingestellt wird. Sie arbeitet in der Nathan Pusey Bibliothek, „einem vierzig Fuß tiefen Loch im Boden, das außen mit Beton ausgekleidet und innen mit Büchern und Akten vollgestellt war. Es war ein Ort, an dem kein Sonnenstrahl die Verblichenen traf und kein Feuerball die Lebenden verbrannte.“ Dort soll Hollis den Nachlass des längst vergessenen und ebenso kauzigen Bibliothekars William Croswell aufarbeiten.

Tatsächlich steht dieser archivarische Raum im Mittelpunkt der erzählerischen Aufmerksamkeit, genauer: die Idee, durch die diesem Raum Nutzen und Wert zukommt. (Schneller Lesetipp: In seinem Erzählbericht „Die amerikanischen Archive“ verfolgt Norbert Gstrein ein ganz ähnliches Projekt.) In ihrer ritualisierten Essenspause steigt Hollis eines Tages in den Keller der Bibliothek hinab. Dort vernimmt sie eine Stimme aus einem Abluftrohr. Zuerst ist sie irritiert, dann interessiert, und so lauscht sie dem, was die Stimme ihr freimütig mitteilt: dass Amerika in größter Gefahr sei, dass mongolische Würmer das Land bedrohten und dass eine Verschwörung bald zutage träte.

Das Buch ist quirlig und hanebüchen, nach spätestens vierzig Seiten gibt man es auf, alles bis zum letzten Deut behalten und nachvollziehen zu wollen. Auf die Würmer folgt nämlich ein Reigen an Figuren und Gegenständen aus unterschiedlichsten Zeiten: ein Mönch namens Giovanni de Plano Carpini, ein zwielichtiger Antiquar namens Enzo Ferrajoli, originale und gefälschte Weltkarten aus früheren Jahrhunderten, ein verschwundener Kronleuchter, ein Hausmeister namens Dick Walrus, „an ein Rumpelstilzchen“ erinnernd, „das sich in der Zeit und im Raum geirrt hatte.“

Von allem eben Genannten erzählt die unbekannte Stimme, und Amanda – gute Archivarin, die sie ist – fragt nach, notiert sich Details, zieht Querverbindungen und beschreibt eifrig Katalogkarten. Was hat ein Hand-Symbol in irgendwelchen Tagebucheinträgen mit einer antiken Schreibmaschine zu tun? Wohin weisen all die Verweise? Gibt es überhaupt eine Zielgerade?

Man weiß es nicht, und genau hier beginnt die frohe Arbeit. Endlich ist Hollis’ Kompetenz gefragt, hierfür hat sie studiert, hierbei findet sie zu sich: die Welt ordnen, die Dinge beschriften, sie einfügen in ein großes Narrativ, in dem jedes Teil seinen Beitrag leistet für die große ganze Sinnhaftigkeit. Im Zentrum dieser enzyklopädischen Bemühung steht die sogenannte „Vinland-Map“, eine tatsächlich existierende Karte, die beweisen soll, dass die Wikinger den amerikanischen Kontinent lange vor Columbus entdeckten.

Die sog. Vinland-Map

Der Text bietet kein Aperçu über eine Individualgeschichte samt psychologischen Finessen und subjektivistischen Belangen, er gibt sich selbst nicht einmal eine Gattungsbezeichnung. Vielmehr ist Neniks Werk Archivtheorie, historiographische Reflexion und Medienanalyse zugleich. Die Handlung selbst ist wenig mehr als das Alibi, das vorgebracht wird, um zu verhindern, dass die Leserschaft Verdacht schöpft bzw. Langeweile und Überdruss verspürt. Das funktioniert über weite Strecken auch deswegen, weil Neniks Sprache bemerkenswert präzise, schlau und kühn ist. Das Tempo stimmt, die Bilder passen, die Pointen sitzen: „Sein Gesicht war groß und rund, und darin lagen die braunen Augen wie Rosinen in zähflüssigem Teig.“

Neniks eigentliches Interesse liegt darin, zu schauen, wie sich alles verschraubt, wie das Schreiben von Literatur, das Archivieren von Geschichte und das Nachdenken über Vergangenheit zusammenwirken. Die gravitätische Mitte dieses rücksichtslosen und gerade deswegen so überzeugenden Projekts ist das Archiv, „ein Ort des ebenso systematischen wie unsichtbaren Erfassens, Erhaltens und Erhebens der ungebunden daherkommenden Reste einer Vergangenheit, die von der Gegenwart für alle Zukunft unvergänglich gemacht werden sollte“.

In der suchenden, lauschenden und katalogisierenden Amanda Hollis spiegeln sich dann auch viele andere wider, u. a. Leser und Figuren. Denn sie ist es, die stellvertretend für all jene steht, die immerzu versuchen, der Willkür ums uns herum zu entwischen. Um aufzuzeigen, wie unübersichtlich das Dort-Draußen ist, muss freilich zuerst eine verworrene Textwelt herbeigeschrieben werden, aus der heraus dann sortiert, eingeordnet und arrangiert werden kann. Das ist keine leichte Kost – und auf den knapp 250 Seiten werden der ermüdeten Leserschaft keine Zugeständnisse gemacht.

Am Ende steht natürlich keine letztgültige Klärung. Es wäre vermessen zu denken, alles ließe sich in Ordnung bringen. Die Wirren der Zeit fädeln sich weiter durch unsere Leben, und das archivarische Denken birgt keine Rettung – aber immerhin bietet es eine Handhabe, was möglich ist durch Denken und Schreiben, durch intellektuelle Bemühung also. Es gilt, Verweis um Verweis nachzugehen, Wort um Wort nachzuspüren, nicht um alles zu durchschauen, sondern um nur ein wenig mehr als rein gar nichts zu verstehen.

Kassandras Standard. Über Omar El Akkads Roman „American War“

Nie war es leichter, sich als Prophet zu gebärden, nie billiger, vom Ende des Friedens, des Westens oder gleich der ganzen Welt zu künden. Ein wenig Krise, dazu Krieg samt seinen Unwägbarkeiten, mittendrin Figuren, die straucheln und fallen – schon wirkt es, als sähe man, was da käme. Was passiert aber, wenn hieraus Literatur wird? Ist sie allein deswegen gut, weil sie zeitgenössisch ist? Und ist sie zeitgenössisch, weil sie krisenhaft ist?

Gleich zu Beginn stoßen wir in „American War“ von Omar El Akkad auf eine Landkarte. Der südöstlichste Teil der USA hebt sich farblich vom Rest des Landes ab; von Florida ragen nur mehr einige Inselchen aus dem Meer heraus, darunter eine mit der Legende „Gefangenenlager Sugarloaf“. Ja, die Welt ist eine andere geworden. Es gibt wieder Fronten, die quer durch Land- und Gesellschaften verlaufen: hier die Rebellen, die sich 2074 weigerten, ein strenges Brennstoffverbot für „eine nachhaltige Zukunft“ mitzutragen, dort die Zentralregierung der „Blauen“, die über Jahrzehnte gegen die Aufständischen vorgeht; hier der steigende Meeresspiegel, der immer mehr Land schluckt, dort die Bevölkerung, die vor dem Wasser zurückweicht, in verwahrloste Städte hinein. In ihrer Verelendung ist sie auf Hilfslieferungen angewiesen, die aus den neuen starken Staaten wie China und dem fiktiven Bouazizireich geschickt werden.

In diesen apokalyptischen Trubel wird die Hauptfigur hinabgelassen: Sarat Chestnut, geboren 2068, die zu schnell die Härte des Lebens kennenlernt. Ihr Vater stirbt bei einem Attentat, gemeinsam mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter wird sie in das Flüchtlingscamp „Patience“ umgesiedelt. Dort lernt sie Albert Gaines kennen, eine rätselhafte Gestalt, die mit einem Entsandten des Bouazizireich kooperiert und Sarat mit rebellischen Idealen wie Opfermut und Widerstand indoktriniert.

So ist der Weg, den die Hauptfigur gehen wird, schnurgerade vorgezeichnet: Heldin der Rebellen, Gefangene auf der Folterinsel Sugarloaf, endgültig kaputte Märtyrerin. Tatsächlich wird hier eine Protagonistin auf eine Weise mit biographischen Episoden ausgestattet, wie man etwas einfallslos einen Kühlschrank bestückt, um über das lange Wochenende zu kommen. Alles ist vorhanden, nichts überrascht.

Unterbrochen wird dieser träge Hauptstrang durch dokumentarische Einschübe. Wir kriegen Auszüge aus Geschichtsbüchern, parlamentarischen Befragungen und Akten des Kriegsministeriums vorgelegt. Derart wird der Dystopie ein quasi-historisches Fundament untergeschoben, eine vermeintliche Historiographie des letzten Viertels des 21. Jahrhunderts entsteht. So erfahren wir von der großen Seuche, die um die Jahrhundertwende mehr als hundert Millionen Menschen dahinraffen wird, sowie vom Beginn des Bürgerkriegs, als die Blauen Demonstranten aus dem Süden niederschossen.

Wer in alledem eine weitere Spiegelfläche sucht, um sich lüstern der masochistischen Morbidität des Westens hinzugeben, der findet in dieser so sauber ausformulierten wie standardisiert entfalteten Geschichte ausreichend Material für Kümmernis und K.O.-Gedanken. Neue Religiosität, gesellschaftliche Risse, Erstarkung vulgärer Umgangsformen, brutaler Zynismus – alles liegt verdaulich vor einem ausgebreitet.

Wer hingegen mehr will als eine dekadente Katastrophenlektüre, der wird von der 440-seitigen apokalyptischen Handelsüblichkeit enttäuscht sein. In seiner Schwarzmalerei ist die sprachliche, figürliche und konzeptuelle Palette dieses Buches nämlich arg begrenzt. Als Sarat zusammenbricht, weil Milizen ihre Mutter umgebracht haben, bekommen wir etwa zu lesen: „Sie sah den leisen Anflug eines Lächelns nicht, der in diesem Augenblick über die Lippen ihres Lehrers huschte.“ Zu mehr gereichen die Figuren und das entworfene Szenario nicht. Das verkohlte Holz, aus dem hier alles geschnitzt ist, bietet nun einmal wenig Möglichkeiten für Spitzfindigkeiten.

Da hilft es auch wenig, dass der Autor in Interviews immer wieder betont, er sei kein Seismograph – und sein Roman kein schriftstellerischer Reflex auf Donald Trump und die Spaltung der US-Gesellschaft. Dass „American War“ aber nur als ein solcher überhaupt lesenswert ist, dass er nur in seiner denkerischen Akutheit von (kurzem) Belang ist für eine 2017-Leserschaft – das ist die Falle, aus der er sich nicht herauswinden kann. Vielmehr erinnert er an die vielen drittklassigen Katastrophenfilme auf RTL 2, die wahlweise Seuchen, Terroristen oder klimatische Veränderungen herbeizitieren, um ein 0815-Epos aus Glück, Trauma und Rache zusammenzuschustern.

Umso verwunderlicher ist es, dass ein Großteil der Kritik, darunter die Washington Post und die New York Times, „American War“ als außerordentlich lobten. Das wiederum wirft ein fahles Licht darauf, wie in Zeiten der Unbeständigkeit auch das Schreiben, Lesen und Kritisieren von Literatur allzu schnell dem hektisch-hysterischen Zeitgeist unterliegt. Gerade lechzen wir nach Kommentierung, Fiktionalisierung, rundum: nach erklärender und illustrativer Einhegung, um ein wenig mehr den Überblick zu haben. Im besten Fall aber reiben wir uns in einigen Jahren die Augen, verwundert, wie wir und unsere nimmersatten kriselnden Hirne diesem Buch auf den Leim gehen konnten.

Vernichten, verzehren, verramschen: Über den Umgang mit Text

Robert Musil, 1914: „Würde man in Kilometern Zeilenlängen oder Kilogrammen Papier ausdrücken, was allein in Deutschland jährlich veröffentlicht wird, sähe man ohneweiteres, daß man es mit einem der seltsamsten sozialen Gebilde zu tun hat. Denn es muß mit dem Leben des Lebens etwas nicht stimmen, wenn die Auswanderung auf das Papier so groß ist.“

Fellini, 8 1/2, 1963, ab 01:40:

Jürgen Ploog, 1991: „Aber das Wort zeigt eindeutig das einzig erkennbare Zeichen eines Virus: es ist ein Organismus mit keiner eigenen Funktion, ausser der, sich zu reproduzieren.“

Tom McCarthy, 2016: „And writing would be a material practice — which is why U [der Protagonist des Romans] is so obsessed with the spilled oil. Particularly that moment when the black oil hits the white snow is a beautiful moment for him because this is writing. This is the moment of writing; it’s ink polluting paper, or words marring the whiteness of a page. So it’s another messy, fluid, material process.“

Ein Text über Text ist ein schwieriges Unterfangen – und oftmals ein nerviges. Weil man sich selbst auf die Finger schaut, weil man mit jedem gesetzten Buchstaben bekümmert merkt, dass die betriebene Kritik auch und besonders auf die eigene Arbeit zutrifft. Zugleich entsteht hieraus ein rabaukiger Stolz, trotzdem zu schreiben, dennoch voranzugehen, als ließe sich das Dilemma wegschreiben, überwinden mit immer mehr Text, gerade in Zeiten der allerleichtesten Herstellung und Verteilung desselben. (Der Berg wächst, und keiner weiß, wie er zu besteigen ist.)

Die vier Zitate versuchen den Weg dort hinauf trotzdem vorzugeben: Es geht um den Exzess an Wörtern, darum, wie unlesbar viel Text produziert wird und wie wir damit verfahren. Ausblenden und Abschotten? Manisches Mehrlesen? Selektive Aufmerksamkeit? Mehr oder weniger Bookmarks? Seit die Franzosen mit ihren glitzernden Begriffsschleudern (Barthes: „Le plaisir du texte“; Derrida: „Il n’y pas de hors-texte.“) herumhantiert haben, ist die Vokabel Text extrem aufgeladen, zum Guten (als Instrument, um zu sehen, wie Bezeichnungen ablaufen) wie zum Schlechten (als willkürliche Vokabel für alles: die Welt als Text, die Fußballzweitliga als Text). Auch daran entzündet sich dieser Beitrag.

Die folgenden drei Beispiele zeigen, wie heute mit Text umgegangen wird, wie mit ihm gerungen wird, wie ihm als hypertrophes Zeichencluster Argwohn entgegengebracht wird. Bestenfalls kriegt man darüber einen Eindruck, dass es Tendenzen hin zu einer Unlust am Text gibt, die genährt wird durch Überfülle, Willkür und Bedrängnis. Gibt es so etwas wie ein Zuviel an Mitteilung, Erzählung und Zeichen?

1) Ein Jahr lang aß Jamie Loftus pro Tag eine Seite von David Foster Wallaces Infinite Jest. Das Video des Verzehrs stellte sie auf Youtube. Mal aß sie die Seite mit Senf, mal als Toastbrot.

Das rituelle Muster ist klar: die Hostie essen, um mehr als nur kognitiv teilzuhaben an der gemeinsam betriebenen Sache. Mundraum und Magendarmtrakt werden miteinbezogen, um diesem „masterpiece that’s also a monster“ (New York Times) endlich mal nahe zu kommen. Ein anderer Modus der Rezeption wird uns vorgeführt. Den wuchernden Text (1104 Seiten im Original!), den ich in all seinem wuselnden und hyperintelligenten Verfahrensein eh nicht verstehe, lese ich nicht mehr. Ich esse ihn, als Gegenmaßnahme und Wertschätzung zugleich. Das ist natürlich alles ein wenig zu arty und funny, um als einziger Theorieanlass herhalten zu können. Aber die Stoßrichtung ist klar: weniger Druckerschwärze, mehr Magensäure.

2) Zwischen März und August 2017 war der Twitter-Account burnedyourtweet aktiv. Jeder Tweet von Donald Trump wurde automatisch von einem Roboter ausgedruckt, mit einem Schwenkarm über ein Feuerzeug gehalten, um von diesem abgefackelt zu werden. Die verkohlten Papierreste fielen in einen Aschenbecher. Die automatisch aufgenommenen Videos der Textverbrennung wurden hochgeladen:

.@RealDonaldTrump I burned your tweet. pic.twitter.com/XESBxMncNv

— Burned Your Tweet (@burnedyourtweet) March 28, 2017

Die Reaktionen seitens der Twitter-Community fielen einhellig aus: “Awesome, with that afterglow at the end.” “More more more!” “This is so satisfying!” Einhellig sowohl in ihrer süffisanten Feier dieses Clous als auch in ihrer historischen Unachtsamkeit. Bücher, Seiten, Buchstaben verbrennen – war da nicht was? Nun, es geht darum, die tweet-gewordene Idiotie dieses Menschen aus der Welt zu schaffen – und sei es nur auf symbolische Weise. Wohl eher: gerade auf symbolische Weise. Die 36377 Tweets (Stand: 14.11.2017) von Trump werden eh in zig Clouds gespeichert, sie werden tatsächlich nie gelöscht werden können. Also verfährt man uneigentlich. (Eine andere Gegenmaßnahme, die aber die selbe Unerträglichkeit bekämpft, war letztens die Deaktivierung von Trumps Account durch einen aus dem Konzern scheidenden Twitter-Mitarbeiter.)

3) In Terry Pratchetts Testament wurde verfügt, dass alle Festplatten des Autors zerstört werden sollten – inklusive der dort abgespeicherten Manuskripte und Notizen. Ende August diesen Jahres war es soweit: Publikumswirksam fuhr bei einer Steam-Fair eine Dampfwalze über die Festplatten; später wurden die zerstörten Speichermedien stolz in die Kamera gehalten.

There goes the browsing history… Many thanks to @steamfair. Soon to be on display at @SalisburyMuseum in September https://t.co/Di8tvTO4Hi pic.twitter.com/onGGWLDYL4

— Terry Pratchett (@terryandrob) August 25, 2017

Es war wohl auch ein nostalgisches Unterfangen: Heute speichern Autoren und Autorinnen ihre WORD- und PDF-Dateien eh(er) in der Cloud ab. Auch wenn das Bild reizvoll ist: Mit einer Dampfwalze lassen sich die Wolken am Himmel nicht plattmachen. In diesem Sinne war der testamentarische Vollzug auch ein letzter materialistisch-martialischer Sieg gegenüber der Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit der zukunftsträchtigen Cloud. Noch haben wir die Verfügungsgewalt über unsere Texte. Noch können wir mit 10-Tonnern drüber preschen. Aber eigentlich wissen wir auch, dass dieser Zustand einem Ende entgegengeht.

Was die drei Beispiele zeigen: Die Lust am Text kippt leichthin in dessen Verweigerung, Tilgung und barbarische Zerstörung. Auch das sind Maßnahmen im Angesicht der Überfülle an Text und der dort allenthalben eingesetzten Bedeutung. Und so nimmt es nicht Wunder, dass man 2017 leichthin eine Passage aus Roland Barthes‘ „Le plaisir du texte“ (1973) nehmen, einfach ein paar Negationen dazwischen knallen kann – und alles perfect sense macht:

„Ich ignoriere, ja, verweigere die Sprache, weil sie mich verletzt oder verführt.“ … „Text der Unlust: der überfordert, stresst, Ärgernis erregt, der an eine unbehagliche Praxis der Lektüre gebunden ist.“ … „Es scheint eine Mystik des Textes zu geben. – Dagegen kommt alles darauf an, die Unlust am Text zu materialisieren, aus dem Text ein Hassobjekt wie andere zu machen.“