Frauen zählen gegen #frauenzählen?

Der zeitgenössische literarische Diskurs ist ein streitgeplagter Ort. Und Mara Delius, die Leiterin der Literarischen Welt, ist nicht zufrieden damit. Wieder werden nämlich Verlagsprogramme kalt durchgezählt, und wieder wird der Umstand angeprangert, dass in manchen Verlagsprogrammen Autorinnen signifikant weniger präsent sind als Autoren. Einen Überblick über diese Misere hatten Nicole Seifert und unsere Autorin Berit Glanz für Spiegel Online zusammengestellt. Aus dem Durchzählen der Verlagsprogramme ergab sich vor allem, dass die etablierten Literaturverlage nach wie vor kein Problem damit haben, Programme mit wenigen Autorinnen in die Saison zu schicken (Hanser 4/14, Fischer 4/11, Diogenes 5/15).

Allerdings ist es nicht dieser offen sichtbare und von den Verlagen auch selbstkritisch reflektierte Umstand, der Delius unfroh macht, sondern das Zählen selbst. Zunächst verlangt sie misstrauisch zu wissen, wer hier überhaupt spricht, frei nach der sehr deutschen Frage: ‚Wer sind Sie eigentlich?‘ Offen sei nämlich geblieben, „wer die moralische Richterposition einnähme und wieso, bei wem wer wie wegen welcher Unausgewogenheit nun ‚in die Kritik geraten‘ oder ‚unangenehm aufgefallen‘ war.“ Gemeint ist damit: Die Kritik kommt aus den sozialen Medien und ist also eine amorphe Masse, die eigentlich keine Autorität beanspruchen kann (anders etwa als ein Artikel in der Literarischen Welt). Diese argumentative Strategie entspricht einer aktuellen Tendenz in der feuilletonistischen Praxis, das anarchische und nicht legitimierte wilde Internet gegen die aufgeklärte absolutistische Ordnung am Hof des Printfeuilletons auszuspielen – als wären diejenigen, die sich auf Twitter zu diesen Themen äußern, nicht die Kolleg*innen selbst. Man hätte, anstatt mit pompösem Konjunktiv die Frage raunend in den Raum zu stellen, wer da die Richterposition „einnähme“, auch einfach nachschlagen können (die Diskussion wurde unter #vorschauenzählen geführt). Delius geht es aber, das wird recht schnell deutlich, gar nicht ums Diskutieren, sondern ums Delegitimieren:

„[E]benfalls offen blieb“, schreibt sie, „ob ein Literaturkritiker heute auch als Aktivistin auftreten muss und ein Verlagsprogramm vom Gleichstellungsbeauftragten geprüft; kurz, ob nicht langsam der an sich richtige Impuls, auf ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen zu Männern im Literaturbetrieb zu achten kippt, von aufklärerisch zu eindimensional – nicht unbedingt die beste Haltung, um sich der Welt der Literatur zu nähern. Und dürfte es ein 50-jähriger Debütant momentan am Markt nicht schwerer haben als die instagramkompatible 20-jährige, selbst wenn er den besseren Roman geschrieben hat?“

Schon in der verunglückten sprachlichen Geschlechterverwirrung, die dem ewig männlich-stabilen „Literaturkritiker“ die nervös-destruktive „Aktivistin“ beiseite stellt, entbirgt sich ein generelles konservative Ressentiment gegen die politische Kritik an den Verlagsprogrammen. Man befindet sich nun in einer Welt, in der ein höhnischer Verweis auf den „Gleichstellungsbeauftragten“ (nun wieder generisch männlich) eine legitime Form der Abwertung ist. Offenbar geht die Leiterin der Literarischen Welt davon aus, dass ihre Leser*innen ebenfalls schaudernd zusammenzucken, bei der Vorstellung, die Gleichstellungsbeauftragte würde sich über die Literatur hermachen. Zumindest kann man diese Leser*innen in Bezug auf das Wohlergehen der männlichen, nicht jugendlichen, nicht instagramkompatiblen Autoren beruhigen. Immerhin wurde einer von ihnen im letzten Jahr noch mit 870 000 Euro alimentiert.

Nun darf man aber nicht zu dem Schluss kommen, Delius habe sich hier gegen feministische Kritik gestellt, denn es geht ihr in ihrem Text, der den Titel Die Frauen des Frühlings trägt (man würde der Literarischen Welt eine Gleichstellungsbeauftragte – oder geschmackvolle Person – wünschen, die bei solchen Titeln Einspruch erhebt) eigentlich ja darum, die vielen Autorinnen, die unser literarisches Leben doch gerade sichtbar bereichern, davor zu beschützen, dass sie durch das abstrakte Zählen unsichtbar gemacht werden. Gibt es nicht Ottessa Moshfegh und Delphine de Vigan? Was ist mit Lisa Taddeo oder  Jhumpa Lahiri?  Und so vielen mehr? So viele Frauen! Könnte man da nicht zu dem Fazit kommen: „Bei aller berechtigter Kritik an strukturellen Unausgewogenheiten in der Verlagswelt sollte man nicht übersehen, welche Autorinnen welche Bücher schreiben.“

Wenn Kritik auf diese großzügige Art „berechtigt“ genannt wird, dann ahnt man schon, wie ernst sie genommen wird. Und dann drängt sich auch der leise Verdacht auf, dass die Autorinnen, die dieses Jahr einen ‚Frühling der Frauen‘  herbeigezaubert haben, hier vielleicht nur benutzt werden, um eine politisch unliebsame Agenda zu diskreditieren. Immerhin kam Delius in ihrer Kolumne mit dem Titel Im Zweifel für die Literatur  im Sommer noch ganz ohne die Fotowand brillanter Frauen aus. Allerdings hieß es damals schon: „Inzwischen aber scheint die Haltung, mit der gezählt wird, zu kippen: von aufklärerisch zu eindimensional.“ Und auch das Schreckgespenst der Gleichstellung hatte bereits einen Auftritt: „Ein Verlagsprogramm ist kein Gleichstellungsbeauftragtenpapier, das 50/50 durchsetzt, und die Qualität von Literatur hängt nicht vom Geschlecht ihres Verfassers ab.“ Offenbar ist die Kritik an dem Durchzählen von Verlagsprogrammen ein so wichtiges Anliegen, dass man ein halbes Jahr später die gleichen Argumente bis in den Wortlaut hinein recyclen muss.

Es gehört zu den Strategien zeitgenössischer konservativer Kritik, aufklärerische Aktionen vordergründig zu loben, um dann sofort (über die Diagnose eines angeblichen Exzesses) ein Umkippen dieser Aktionen ins Antiaufklärerische zu beklagen. Im Sommer 2019 war die Irritation über das Ungleichgewicht in den Verlagsprogrammen überhaupt erst gerade angelaufen, da wollte Delius das Ganze bereits wieder abblasen, weil es zu kippen drohte, aber eine Kritik, die man von Anfang an als bedrohlich und illegitim empfindet, ist natürlich auch von Anfang an gekippt.

Was im Sommer aber noch damit begründet wurde, dass der Wert von Literatur nicht am Geschlecht hängen kann (Judith, die von Virginia Woolf erfundene Schwester Shakespeares, wird es mit Erleichterung hören), wird jetzt damit begründet, dass das Zählen doch eigentlich selbst den individuellen Erfolg individueller Frauen unsichtbar macht. Das entspricht der gängigen konservativen Kulissenschieberei von Evidenz: Wenn Diskriminierung beklagt wird, dann werden streng Fakten eingefordert, Statistiken, Belege. Wenn diese Belege dann vorliegen, wird ein kaltes Abzählen beklagt, das den Blick auf die individuellen Erfolge von diskriminierten Personen verstellt. Beide Strategien geben sich gerne als unpolitisch aus: Es geht ja um die Kunst oder um Individuen! Unpolitisch sind sie aber nur in dem Sinne, dass sie legitime Anliegen aus dem literarischen Diskurs ausschließen wollen. Dass diese Form der Kommunikation je nach Kontext vom Statistischen ins Anekdotische und zurück fallen kann, zeigt, wie eminent politisch die Strategie dahinter tatsächlich ist.

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