Autor: Johannes Franzen

Literaturwissenschaftler, Skandal und Fiktion, lebt in Bonn

Boxer, Wodka, Genie – Die Auswüchse des Kunstgeredes

von Johannes Franzen

Genies sind keine natürliche Erscheinung, Genies werden gemacht. Die Vorstellung, dass überragende Talente existieren, vor allem in der Kunst, die ihr Talent allerdings durch Außenseitertum und fragwürdiges Verhalten bezahlen, ist so alt wie die Moderne, also ziemlich alt. Wo der Geniekult in der Gegenwart weiter existiert, ist er deswegen meistens ein Klischee. Das hält die Medien aber nicht davon ab, weiter fleißig mit den überkommenen Strategien Genies zu produzieren. In der Einleitung zu einem eigentümlichen Interview mit dem Maler Neo Rauch in der NZZ etwa heißt es gleich zu Beginn: 

“Mit seinen Malerhandschuhen sieht Neo Rauch, 63, fast aus wie ein Boxer. Überhaupt wirkt der Künstler kräftig, man könnte fast sagen, gestählt. Zwei Boxsäcke hängen in den Weiten seines Ateliers: ein grosser und eine kleine Birne. Träumerei und eiserne Disziplin scheinen in ihm in eigentümlicher Weise zusammenzuwirken. Er verliert sich in seinem Werk, um es dann mit der Schärfe eines Skalpells zu analysieren.”

Diese weihevolle Beschwörung versammelt fast wahllos Versatzstücke des Geniemythos. Der moderne Künstler steht zwischen eiserner Männlichkeit und sensibler Träumerei. Berühmte Kraftkerle der Kulturgeschichte – Picasso, Hemingway – werden unmittelbar aufgerufen. Und als wäre das nicht transparent genug, wird Hemingway zwei Absätze später sogar selbst zitiert. Im Atelier hängt nämlich ein angebliches Zitat des US-amerikanischen Großautors an der Wand: “Never answer a critic”. 

Der Geniemythos wird in diesem Text wie in einem Paartanz zwischen Künstler und Kulturjournalismus aufgeführt. Hinter der sanften Stimme des Malers, hinter seiner zivilisierten Rede glaubt der Interviewer, “eine Kraft zu vernehmen, die unbändig sein könnte.” Es handelt sich um den „Zorn“. Als Leser dagegen muss man sofort an Rilkes lyrischen Schlager denken: “Und hinter tausend Stäben keine Welt.” Zunächst wird aber Wodka kredenzt, denn mit einem echten Künstler trinkt man harten Alkohol.

Irgendwann taucht auch ein schrulliges Tier auf, nämlich der Mops Smylla, der dem Gespräch mit Rauch beiwohnt. Der Hund soll die weiche Seite des männlichen Genies unter Beweis stellen, wie einst der Pudel des notorisch unwirschen Philosophen Arthur Schopenhauer. Heute denkt man mit einiger Beklommenheit an den Hund eines anderen Genies, an den Dackel Gustav nämlich, dessen Herrchen, der Choreograph Marco Goecke, vor nicht allzu langer Zeit eine Kritikerin mit dem Kot dieses Hundes attackierte. Aber Kunst und Kot scheinen beim modernen Genie auch sonst zusammenzugehören. Auch Neo Rauch löste 2019 einen Skandal aus, als er auf Kritik an seinen politischen Aussagen mit dem Bild “Der Anbräuner” reagierte, in dem eine Figur ein Bild mit seinen eigenen Exkrementen malt.

Spätestens hier melden sich aber auch andere Reminiszenzen. Hatte man das mit dem Wodka nicht 2021 schon in einem langen und seltsam unkritischen Porträt im “New Yorker” gelesen? Und tatsächlich schreibt der Autor Thomas Meany darüber, wie er sich von Rauch Wodka anbieten lässt (statt Kaffee). Aber man kann noch weiter zurückgehen im Zeitungsarchiv. Dann stößt man auf ein Interview, das Rauch der „Welt am Sonntag“ im September 2020 gegeben hatte (unter dem charmanten Titel “Bilderstürmerei ist geisteskrank”), und das mit einer Beschreibung des Ateliers beginnt, die einem seltsam bekannt vorkommt: 

„Mitten im Raum hängt ein Boxsack und weiter hinten noch ein kleiner, für die schnellen, harten Schläge. Auf der Tür klebt ein Hemingway-Zitat: ‘Never answer a critic’. Neo Rauch, in Leipzig verwurzelt, international bekannt und gesammelt, ist im April sechzig Jahre alt geworden. Angestoßen wird mit Wodka aus dem Gefrierfach.“

Boxsack, Hemingway, Wodka – diese Art von Geniemythos kann bequem auf einen eingeschränkten Fundus an Bildern zurückgreifen. Es ist die vielleicht müheloseste Form eines kulturellen Rollenmusters. Rauch sagt Dinge wie: “Das Bild selbst kommt zur Welt, wenn es vorliegt. Es entwickelt sich aus einer Anwandlung heraus, die mich anweht oder die mich durchzieht wie eine Verheissung.” 

Diese Art des bildstarken Raunens hat sich als Sprache der Kunst im Hochkultursegment schon lange etabliert. Man darf nichts Konkretes sagen, darf immer nur in Vergleichen und Metaphern sprechen, die den Nimbus einer quasi sakralen Angelegenheit suggerieren. Dabei sollte man aber auch sehr bestimmt (man könnte fast sagen maskulin) auftreten. Rauch beherrscht diesen Ton perfekt: „Ich versuche jedem Bild eine Daseinsberechtigung einzuwirken, die sich aus seiner Unbedingtheit herleitet, aus seiner Sonderbarkeit und aus seiner Eigentümlichkeit.“

Das sind leere, dickflüssige Worte – ein sprachlicher Akt, der sich darin erschöpft, eine reine Geste zu sein. Der Genie-Mythos lebt fast ausschließlich von solchen Gesten. Man arbeitet gemeinsam an der Figur. Diese Arbeit am Genie, auch das ist charakteristisch für den Status des Mythos, hat kaum Berührungsängste mit der Selbstparodie. Da kann man dann Fragen stellen wie „Malen Sie für die Ewigkeit, ist dies Teil der Motivation?“ oder „Was interessiert Sie an der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen?“ Und Antworten geben wie: „Ich würde gern den Eindruck heraufbeschwören, als sähe man in eine Parallelwelt hinein, als hätte man den seltenen Vorzug gewährt bekommen, eine Plexiglasscheibe freischarren zu können.“

So lebt das Gerede über die hohe Kunst von seiner charismatischen Bildlichkeit, die durch eingestreute Vergleiche mit ehrlichem Handwerk geerdet werden soll. Mal ist die Tätigkeit des Künstlers mit der des Bootsbauers verbunden, dann mit der des Tischlers, der ein Möbelstück immer wieder abtastet. So werden das Sakrale und das Kernige, der Sensible und der Boxer, über disparate Bildwelten unter einen Hut gebracht.

Schließlich darf bei einem echten modernen Genie auch die Beteuerung der Weltabgewandtheit nicht fehlen. Politik und Kunst etwa vertragen sich nicht, wie Rauch an einer Stelle in einem vorgestanzten Epigramm verlautbaren lässt: „Man muss die Kunst vor Politik bewahren, weil man sie damit tötet.“ Man habe gerade in Kassel erlebt, was geschehe, wenn die Kunst der Ideologie weichen müsse. Den Raum der Kunst müsse man aber verteidigen, und zwar „bis zum Letzten, bis zur letzten Farbtube.“ So wird selbst die unschuldige Farbtube in den Dienst einer martialischen Rhetorik des Unbedingten gepresst, immer im Bildbereich männlicher Stärke: der Künstler als Boxer, als Tischler, als Soldat.

Rauch verteidigt den Status des Künstlers als Sonderling, als „ein von gesellschaftlichen Grundmassstäben in bestimmter Weise abweichender Könner.“ Diese peinliche Form der Selbstanpreisung gehört ebenfalls zu den rhetorischen Strategien des modernen Genies, das so weit von den gesellschaftlichen Normen entfernt ist, dass es sich selbst krönen darf. Da stört es auch nicht, dass zwischendurch comedypreisverdächtige Sätze auftauchen wie: „Mein Atelier ist die Anti-Tagesschau‘“.

Es wird an dieser Stelle niemanden überraschen, dass Rauch diese mit großer Geste verordnete politische Askese selbst nicht einhalten kann. Der Skandal um „Der Anbräuner“ etwa entstand, weil Rauch über den Feminismus sagte, es handele sich um die „Talibanisierung unserer Lebenswirklichkeit“, oder den Schriftsteller Uwe Tellkamp als „Widergänger Stauffenbergs“ bezeichnete. Rauch ist das beste Beispiel für einen Künstler, der die Autonomie der Kunst gegen die Politik einfordert, das Politisieren aber einfach nicht lassen kann.

Selbst im Interview mit der NZZ folgt wenige Absätze nach der Feststellung, dass Politik die Kunst tötet, die Aussage: „Wir schaffen uns gerade als Industrienation ab. Wir nehmen uns vom Netz, verabschieden uns aus der Riege der ernstzunehmenden Völker.“ Dann heißt es, Deutschland sei nicht in guten Händen und schließlich wird Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ empfohlen – eine Empfehlung, mit der sich Rauch in eine Opfertradition stellt, die bei einem Mann, dessen Bilder – wie im Vorspann des Interviews stolz betont wird – Millionenbeträge einbringen, sicherlich gut zu Gesicht steht.

Am Ende dieses (auch unangenehm langen) Interviews wird dann noch offengelegt, dass der Anlass die Kunstausgabe der NZZ war (Rauch: „Ich habe etwas Ähnliches einmal mit der ‚Welt‘ gemacht, und das war eine schöne Erfahrung.“), was sicherlich auch die wachsweichen Fragen erklärt, die vor allem dazu dienen, Rauch in einem besonders guten Licht erscheinen zu lassen. Das Frappierende an solchen Interviews und Porträts sind nicht nur die Dinge, die Rauch sagt, oder die provokativen Gesten seiner Kunst, sondern die maßlosen Klischees, die in seltsamer Eintracht zwischen dem Künstler und den Medien reproduziert werden. So fallen die Besucher des Ateliers umstandslos auf die potemkinschen Boxsäcke herein, auf den Wodka und die kunstautonomen Floskeln und werden zum Sprachrohr einer Inszenierung, die einem Hauptanliegen der modernen Kunst, den Kitsch zu vermeiden, in jeder Hinsicht widerspricht.

Foto von Nathan Powers auf Unsplash

Kritik und Künstlerscheiße – Notizen zum Hundekot-Eklat

von Johannes Franzen

1.

Da hat man wahrscheinlich etwas mit Medien oder ein kulturwissenschaftliches Fach studiert. Da hat man Praktika gemacht und schließlich einen begehrten Job bei einem sehr seriösen Kulturmagazin auf 3sat ergattert. Und dann muss man plötzlich für einen Beitrag über Tanztheater einen Haufen Hundekot besorgen oder etwas, das einen Haufen Hundekot simuliert, der mit einer Tüte von der Straße aufgeklaubt wird. Dann wiederum habe ich auch mehrere Geisteswissenschaften studiert, wurde promoviert und habe veröffentlicht – und werde nun qua Profession gezwungen, über Hundekot zu schreiben. So sind wir alle Verlierer in diesem Spiel, das wir Diskurs nennen. 

2.

Soviel vorweg: Den Hund trifft keine Schuld. Er ist ein unschuldiger Kerl und hätte niemals in diese schlimme Sache hineingezogen werden dürfen.

3. 

Kritiker*innen sind schon immer ein Feindbild gewesen. Sie stellen eine (oft selbsternannte) Elite der ästhetischen Gesetzgeber dar, die anderen Menschen den Spaß verderben. A.O. Scott, der ehemalige Cheffilmkritiker der New York Times schreibt in seinem Buch Better Living Through Criticism: „Jeder Kritiker gewöhnt sich daran, mit Skepsis und Misstrauen und manchmal auch mit offener Verachtung umzugehen. Wie können Sie es wagen! Was gibt Ihnen das Recht dazu? Warum sollte jemand Ihnen zuhören?”

4. 

“Der Ballettchef der Staatsoper Hannover, Marco Goecke, hat bei einer Premiere die Kritikerin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Wiebke Hüster, mit Hundekot beschmiert.” (Tagesspiegel) “Nach der Hundekot-Attacke: Marco Goecke zeigt zunächst weder Reue noch Einsicht und lässt nun doch noch eine schriftliche Entschuldigung folgen.” (NZZ) “Als Ballettdirektor der Staatsoper Hannover hat Marco Goecke nach seiner Hundekot-Attacke auf Journalistin Wiebke Hüster inzwischen seinen Hut genommen.” (SZ)

5. 

Um den Status, den Kunst und das Künstlerische in unserer Gesellschaft einnehmen, einzuschätzen, kann man ein einfaches Gedankenexperiment machen. Was, wenn der Mann, der hier eine Frau mit Hundekot attackiert hat, kein gefeierter Ballettdirektor gewesen wäre, sondern ein wahlloser Wirrkopf? Allein der Status des Attackierers macht aus einer misogynen Straftat eine Performance, über die auch viel geschmunzelt wurde. 

6. 

Kunstskandale laden Transgressionen mit Bedeutung auf, geben einfachen Schweinereien das Prestige eines ästhetischen Ereignisses. Davon hat die moderne Kunst lange einträglich gelebt. Von Duchamps Fontaine bis zu Manzonis Merda d’artista hatte diese Form der Provokation oft auch direkt mit Fäkalien zu tun, die man in die Institutionen der Kunst schmiert, um die Kunst herauszufordern. Ob das die Kunst vorangebracht hat, ist schwer zu sagen, aber für die Rolle des Künstlers als privilegierter Rebell waren diese Aktionen konstitutiv.

7.

Die Kacke des Künstlers ist etwas besonderes. Sie scheint ästhetisch aufgeladen und entzieht sich der kleinbürgerlichen Moral. Es handelt sich um autonome Scheiße.

8. 

Über 100 Jahre nach Duchamp immer noch der gleiche Witz. Ist den Leuten nicht langweilig?

9. 

“Goecke beschreibt den Anschlag im NDR als Reaktion auf jahrelange Verletzungen durch die Kritikerin: ‘Sie hat mich auch jahrelang mit Scheiße beworfen’, sagt Goecke. ‘Wie würden andere Menschen, die hart arbeiten, damit umgehen, wenn sie so mit Schmutz beworfen werden würden?’, fragt er in dem Beitrag rhetorisch – um dann selbst zu antworten: ‘Kein hart arbeitender Mensch würde sich das auf Dauer gefallen lassen.’” (Spiegel)

10.

In seinem Buch Feindbild werden beschreibt der Kunstwissenschafler Wolfgang Ullrich, wie der Maler Neo Rauch als Reaktion auf einen kritischen Artikel ein Bild mit dem Titel „Der Anbräuner“ gemalt hatte, in der eine Figur ein Bild mit Scheiße malt. Ullrich entwickelt aus diesem Ereignis eine Konfliktgeschichte des Autonomieparadigmas in der Gegenwart, das dazu verwendet wird einen reaktionäres Geniemythos zu legitimieren.

11.

Es ist beeindruckend, wie beflissen die Medien die Genieästhetik Goeckes reproduzieren. In einem Interview mit dem NDR darf er im Wald sitzend mit einer dunklen Sonnenbrille den wilden Künstler spielen. Die Thomas-Bernhard-Imitatio ist frappierend. Aber ohne Thomas Bernhard kein Marco Goecke. Der Autor ist die Blaupause für Generationen von männlichen Künstlern und Intellektuellen, die gerne wilde Burschen sein, aber trotzdem eine Karriere haben wollen.

12.

“Sie könne den Ballettchef aus Hannover verstehen, der eine Kritikerin mit Hundekot attackiert hat, sagt die nun 80-jährige Schriftstellerin und Moderatorin Elke Heidenreich. Das Mittel sei nicht richtig, aber viele Kritiker seien hochmütig.” (Deutschlandfunk)

13.

Die Autorin Sibylle Berg schreibt auf Twitter: “#hundekot Das ist kein Angriff auf die Pressefreiheit. überragende Künstler sind Ausnahmemenschen, sie dürfen nicht alles aber-shit happens. #MarcoGoecke  ist einer der überragenden Künstler in D- ihn zu verlieren wäre ein riesiger Verlust- macht ne Therapie,gebt euch die Hand.”

14.

Hier ist dann alles beisammen: Der Künstler ist ein Ausnahmemensch, dessen überragendes Talent sein anti-soziales Verhalten legitimiert. Der Status verleiht Lizenzen, die sein Verhalten den ethischen Anforderungen, die für den Rest der Gesellschaft gelten, entziehen. Einen solchen Künstler “darf man nicht verlieren”, dafür muss man schon einmal über eine Tat hinwegsehen, die in so gut wie jedem anderen Kontext streng verurteilt worden wäre. In diesem Fall wird sie mit einem amüsierten “shit happens” weggewischt. (Inzwischen hat Berg diese Äußerungen in einem Interview zurückgefahren.)

15. 

Die Anschauung vom “außerordentlichen Rang der Dichtkunst”, schreibt Jochen Schmidt in seiner Geschichte des Genie-Gedankens, habe sich erst im 18. Jahrhundert herausgebildet. In dieser Zeit erhielt der Dichter die Würde eines mit “höchster Autorität auftretenden Schöpfers.”

16. 

Die Autonomie der Künstlerscheiße ist ein wichtiger Identifikationspunkt für die bürgerliche ästhetische Theorie der Moderne.

17.

Es ist doch erstaunlich, wie sehr der moderne Geniemythos wie eine Verkleidung wirkt, die man sich von der Stange nehmen kann. Die Scharlatane aus dem Tech-Sektor übernahmen einfach die Rollkragenpullover und die visionäre Rhetorik eines Steve Jobs. Goecke hat seine Sonnenbrille, seinen Mantel und seinen Dackel. 

18. 

Les Poètes maudits nannte Paul Verlaine sein Buch von 1884, in dem er eine Generation junger Dichter heroisierte, die sich in Text und Leben gegen die Gesellschaft stellten. Was diese verfemten Dichter von ihren Erben in der Gegenwart unterscheidet, ist, dass sie auch Kosten für ihr anti-bürgerliches Verhalten tragen mussten. Seitdem hat sich das Rollenmuster des verfemten Künstlers aber institutionalisiert. 

19. 

 „Das ist die Paradoxie. Dass wir uns bezahlen lassen von den Mächtigen, um sie anzugreifen.“ (Claus Peymann 2022)

20.

Das Bürgertum leistet (hält?) sich den Bürgerschreck als Ablass. Seht her, wir finanzieren die Kritik unserer Herrschaft, wir lassen uns ein paar mal im Jahr auf den Edelbühnen des Landes anschreien. Dann trinken wir Sekt im Foyer.

21.

“Ja, ich habe gebrüllt. Aber nur in größter Not, in schwachen Momenten, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Ich brülle aus Liebe! Zu einer Liebesbeziehung gehört die Auseinandersetzung. Das Leben ist nicht harmlos, es ist Blut und Schrecken. Warum soll ausgerechnet das Theater ein Platz der Seligen sein?” (Claus Peymann 2022)

22.

Wer mit Menschen redet, die am Theater arbeiten oder gearbeitet haben, hört viele Anekdoten von übergriffigem, gewalttätigem Verhalten, das sich grundsätzlich aus einer vagen Kunst- und Genieideologie legitimiert. Die Vorstellung, dass große Künstler*innen, zumeist Regisseur*innen oder Intendant*innen, an einer Extremsituation partizipieren, die ein berserkerhaftes Verhalten nicht nur rechtfertigt, sondern sogar einfordert, gehört zum festen Haushalt der institutionellen Selbsterzählungen. 

23. 

„Nichts ist leichter, als eine Grenzüberschreitung zu verzeihen, die einem anderen zugefügt wurde.“ (Mithu Sanyal)

24.

Der Genie-Mythos scheint eine entlastende Funktion zu haben. Es ist schwer und oft trostlos, sich an die gesellschaftlichen Regeln halten zu müssen, es erfordert viel Energie. Eine Sozialfigur wie das moderne Künstlergenie schafft da zumindest imaginäre Erleichterung. In der Figur kompensiert man die drückende Last der Zivilisation, das ständige Gutseinmüssen. Wer würde nicht gerne einmal seinen Feinden Scheiße ins Gesichts schmieren? Aber das geht natürlich nicht – außer man ist Künstler, dann wird eine solche Tat legitimiert oder es gibt zumindest eine ‘Debatte’. 

25.

Die Sozialfigur des wilden Künstlers lindert das Unbehagen in der Kultur.

26.

Menschen interessieren sich immer mehr für Künstler und immer weniger für Kunst.

27.

Goethes Jugendgedicht “Rezensent” wird oft zitiert, vor allem der letzte Vers: “Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.” Menschen finden das lustig. So wie das Genie sich der moralischen Verantwortung für seine Taten zu entziehen scheint, so gelten auch für das Verhalten der Kritik gegenüber offenbar andere Regeln. Die Verachtung von Kritiker*innen besitzt eine gewisse kulturelle Anerkennung. 

28.

Die Kritiker*in steht unbehaglich zwischen Künstler*in und Fan.

29.

Als Reaktion auf eine schlechte Rezension des Films The Avengers twittert Samuel L. Jackson an seine Follower unter dem Hashtag #Avengersfans: „AO Scott needs a new job! Let’s help him find one! One he can ACTUALLY do!” Als Reaktion auf eine unbeeindruckte Rezension ihres neuen Albums twitterte Lizzo an ihre Follower: „PEOPLE WHO ‘REVIEW’ ALBUMS AND DONT MAKE MUSIC THEMSELVES SHOULD BE UNEMPLOYED.“

30.

“Bloß wirkt das Stück so, als wären dem hinter der Scheibe sitzenden Meeresbeobachter die Trolle durch seine Aufzeichnungen geritten und hätten Goecke die zerfetzten Fragmente hinterlassen mit der Drohung, sie ja nicht sinnvoll in eine Reihenfolge zu bringen. Man wird beim Zuschauen abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht. Dazwischen kommen ab und an zwei genialische, stimmige Minuten. Das Stück ist wie ein Radio, das den Sender nicht richtig eingestellt kriegt. Es ist eine Blamage und eine Frechheit, und beides muss man dem Choreographen umso mehr anlasten, als Virtuosität und Präsenz der Tänzer des Nederlands Dans Theater nach mehr verlangen.” (Wiebke Hüster in der FAZ)

31.

“Der moderne Kritiker vertauscht das überparteiliche Mandat des Richters gegen eine engagierte Doppelrolle: er ist zugleich Verteidiger (des zu unrecht verkannten Künstlers) und Ankläger (gegen das ignorante Publikum).” (Christian Demand: Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte)

32.

Die Moderne hat die Kritiker als eine Art Komplizen der Kunst etabliert. Die schwere, komplexe, provokative Kunst steht immer unter Druck. Spießer und Philister wollen ihr an den Kragen, wollen verbieten, einschränken, den Kulturhaushalt kürzen. Dagegen müssen Kunst und Kritik eine gemeinsame Front bilden.

33.

Seit die Medienkonkurrenz immer stärker die Institutionen der Hochkultur bedroht, hat sich die Kunst selbst unter Artenschutz gestellt. Jede harsche Kritik ist damit nicht nur ein Angriff auf ein bestimmtes Kunstwerk, sondern auf die Kunst selbst.

34.

Die öffentliche Antwort auf Kritik, schreibt Gérard Genette in Paratexte, sei eine “heikle und im Prinzip verbotene” Übung. “Der Grund des Verbots ist wohlbekannt: Die Kritik ist nämlich frei, und ein von ihr schlecht (oder gut) behandelter Autor wäre schlecht (oder zu gut) angeschrieben, falls er sich gegen Tadel zur Wehr setzte oder für Lob dankte, die beide gleichermaßen einem freien Urteil entspringen.”

35.

Im besten Fall sollte die Künstler*in an der kritischen Kommunikation über ihr Werk gar nicht beteiligt sein. Hier geht es um den Austausch zwischen Kritik und Publikum. Das Publikum möchte wissen, ist das gut, soll ich meine Zeit investieren und die Kritik gibt Auskunft. Aber natürlich ist es unerträglich, dabei zuschauen zu müssen, wie sich Menschen öffentlich darüber austauschen, ob du es gebracht hast oder nicht. Man muss sich nur vorstellen, dass man am gleichen Tisch sitzt wie eine Gruppe von Menschen, die heftig über dich lästern. Und du darfst nichts darüber sagen. (Beim Bachmannpreis ist diese Erfahrung sogar institutionalisiert).

36.

Eine Künstler*in, deren Werk man schlecht besprochen hat, wird danach kein Bier mehr mit dir trinken wollen. Und das ist auch ok. Das Problem ist aber, dass man am Ende mit einem Bier in der Hand auf den selben Partys steht. 

37.

Wie frei ist die Kritik? Als freie Autor:in bekommt man bei den großen Zeitungen in Deutschland heute für eine Kritik von 9.000 Zeichen manchmal 90, manchmal 130, manchmal 300, manchmal 350 Euro. 

38.

Feindschaften muss man sich leisten können.

39.

Muss es einen Ort für den Zorn der Künstler*in über eine schlechte Rezension geben? Wenn ja, wo wäre das?

40.

Bis in die 1970er Jahre hinein waren die Rezensionen im Times Literary Supplement anonym. Das galt auch für Autor*innen wie T.S. Eliot oder Virginia Woolf.

41.

Wer ab jetzt über eine Aufführung von Marco Goecke berichtet, egal in welcher Form, der verrät die Kritik als Profession. Eine Kunst, die sich der Kritik auf diese brutale Art verweigert, hat das Recht verwirkt, kritisiert zu werden.

42.

Aber jetzt reden wir über Hundekot und was vom Künstler übrig blieb. Wenige Menschen interessieren sich für Tanztheater, aber viele interessieren sich für scheißewerfende Genies. Wir unterhalten uns angeregt über Serien, Filme, Spiele, können intelligent und mit Wärme über die Vor- und Nachteile der ästhetischen Artefakte sprechen, die wir in unserer Freizeit konsumieren – aber der Diskurs über Hochkultur findet inzwischen vor allem im höheren Lästern über den Skandal statt. Kunst mit einem großen K braucht die Kontroverse, um überhaupt noch ein Gesprächsgegenstand zu sein.

43.

Es gibt inzwischen viele gute Gründe, den Begriff der “Kunst” durch “Content” zu ersetzen. Es wäre ein Befreiungsschlag, der das ästhetische Artefakt endlich vom Künstler befreien würde.

44.

Niemand hat der Kunst in den letzten Jahrzehnten so sehr geschadet wie der Künstler.

Foto von Kev Costello auf Unsplash

Verlorene Unschuld – Über Wut und Winnetou

von Johannes Franzen

In den letzten Jahren hat sich im deutschen Kulturbetrieb eine ermüdende Debattenfolklore etabliert, die wie am Fließband die immergleichen Diskussionsereignisse produziert. Dabei geht es meistens darum, dass etwas angeblich verboten werden soll. Ein Künstler wurde irgendwo ausgeladen, die Wahl eines Preisträgers wurde heftig kritisiert, ein Buch wurde aus dem Sortiment genommen, ein Lied soll in der Öffentlichkeit nicht mehr gespielt werden.

Die Anlässe dieser Debatten scheinen vollkommen arbiträr. Egal, ob es um Peter Handke oder Lisa Eckhart geht, ob das Objekt des Streites das Gedicht ciudad (avenidas) oder der Party-Song Layla ist – immer werden die gleichen Argumente mit der gleichen Intensität ausgetauscht, immer scheint die Kunstfreiheit und überhaupt die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft in größter Gefahr zu sein.

Der Schematismus, mit dem diese Debatten geführt werden, verbreitet inzwischen vor allem ein Gefühl von intellektueller Klaustrophobie, von lähmendem geistigen Überdruss. Deshalb erzeugt die Nachricht, dass es nun also auch Winnetou erwischt hat, unmittelbar vor allem eine gewisse Beklommenheit. Der Verlag Ravensburger nimmt nach heftiger Kritik zwei Kinderbücher aus dem Programm, die zum Start des Films Der junge Häuptling Winnetou erscheinen sollten. Den Publikationen war fehlende Sensibilität und kulturelle Aneignung vorgeworfen worden. In der etwas wirren Pressemitteilung des Verlags auf Instagram heißt es, man habe viele negative Rückmeldungen bekommen und deshalb beschlossen, die Auslieferung der Titel zu stoppen.

Wer in den letzten Jahren halbwegs aufmerksam Zeitung gelesen hat, der konnte voraussehen, was folgen würde, nämlich eine trostlose Debatte über die Kunstfreiheit und ihre angeblichen Feinde. Und es dauerte nicht lange, bis sich ein massenhafter digitaler Protest hörbar machte. Der Artikel zum Thema auf Zeit Online verzeichnete schnell um die tausend Kommentare und auf Twitter wurde unter #woke bitterlich darüber geklagt, dass die Identitätspolitik nicht einmal mehr vor Kinderbüchern halt machen würde.

Es wäre niemandem zu verdenken, wenn er genervt abwinken und einer durch und durch erwartbaren Diskussion aus dem Weg gehen würde. Allerdings verdeckt die langweilige Debatte über die angeblich bedrohte Kunstfreiheit oft auch faszinierende Rezeptionsphänomene und kulturelle Aushandlungsprozesse. In diesem Fall lässt sich im Aufschrei über ein angebliches Winnetou-Verbot eine tiefempfundene Verlustangst beobachten, die Erkenntnisse über das Verhältnis von Jugendliteratur, kultureller Sozialisation und einer Utopie politischer Unschuld bereithält.

Es steht zu vermuten, dass sich diese Angst nicht unbedingt darauf bezieht, dass man die Bücher heute nicht mehr lesen darf. Ein schneller Blick in einen beliebigen Roman von Karl May bestätigt den Verdacht, dass die Bücher heute kaum noch mit Genuss gelesen werden können. Die Sprache wirkt umständlich und altertümlich, stark den Konventionen des 19. Jahrhunderts verpflichtet und überschreitet ständig die Grenzen zum Kitsch. Die Dialoge sind unfreiwillig komisch und selbst dem abgebrühtesten Anhänger literarischer Autonomie muss der offensichtliche Rassismus sauer aufstoßen.

Vor diesem Hintergrund fragt man sich, woher der Zorn kommt, woher das Potential für die rasend schnelle Politisierung dieses Falles. Gibt es im Milieu der bürgerlichen Panik vor der angeblich grassierenden linken Cancel Culture gar kein Gespür mehr für kulturellen Fortschritt? Kein Verständnis dafür, dass auch der populäre Kanon ständigen Revisionen unterliegt? Wir leben zwar in einer Zeit der Retromanie, in der kulturelle Nostalgie als hochwertige Ressource gilt, aber heißt das wirklich, dass wahllos jedes ästhetische Artefakt, das einmal in irgendeiner Kindheit eine wichtige Rolle gespielt hat, neu aufgelegt werden muss?

Ein Teil der politischen Emotionen, die der Fall freigesetzt hat, erklären sich natürlich durch das aufgeheizte Klima der Debattenlandschaft. Jedes noch so nichtige Ereignis wird zum Baustein einer Fiktion der Verfolgung. Allerdings scheinen diese Emotionen im Fall Winnetou etwas komplexer: Die meisten Menschen kennen Karl May wahrscheinlich aus der autobiographischen Distanz der eigenen Kindheit, medial oft vermittelt über die erfolgreichen Filme aus den 1960er Jahren. Das Bedrohungsszenario, das durch den Protest gegen die Bücher von Ravensburger entworfen wurde, scheint in dieser Distanz seinen Ursprung zu finden. Unter den namhaften Politikern, die sich zu dieser Geschichte äußern zu müssen glaubten, findet sich unter anderem Sigmar Gabriel, der am 23. August auf Twitter schrieb:

„Als Kind habe ich Karl Mays Bücher geliebt, besonders #Winnetou. Als mein Held starb, flossen Tränen. Zum Rassisten hat mich das ebenso wenig gemacht wie Tom Sawyer & Huckelberry Finn. Und deshalb bleibt Winnetou im Bücherregal für meine Kinder. Und den Film schauen wir uns auch an.“

Es handelt sich um eine seltsame Wortmeldung, die viele Dinge vermischt, die scheinbar nicht zusammengehören. Das kann man darauf schieben, dass hier wahllos reaktionäre Ressentiments mitgenommen werden sollen, aber die Verwirrung ist auch repräsentativ für eine Disposition, die besonders ängstlich auf Revisionen des Kanons reagiert. Die Rede ist zunächst von der Liebe zu einem ästhetischen Artefakt. Es handelt sich um die besondere Zuneigung, die speziell Kinder zu Büchern, Filmen, Serien oder Spielen entwickeln können. Diese Liebe verbindet sich mit der Investition echter Emotionen. Der Tod Winnetous lässt Tränen fließen.

Was hier entworfen wird, ist ein autobiographischer Gründungsmythos, der die politische Unschuld der eigenen Kindheit verteidigen möchte. Die Vorstellung, die distanzlose kindliche Versenkung in eine geliebte fiktionale Welt könnte von Rassismus kontaminiert sein, erscheint aus dieser Perspektive unerträglich. Denn dann müsste man sich eingestehen, dass die Spannung, der Stolz, die Trauer oder der Hass, die man als Kind in fiktive Figuren investiert hat, eingefärbt war von ideologischen Ressentiments. So erklärt sich auch, dass Gabriel mit den beiden berühmtesten Romanen Mark Twains zwei Bücher in die Diskussion hineinzieht, die von Karl May denkbar weit entfernt sind. Gemeinsam haben sie eigentlich nur, dass es um Jugendliteratur geht, deren Rassismus diskutiert wurde, und Jugendliteratur soll hier als Ort politischer Unbeflecktheit verteidigt werden.

Gabriels Tweet schließt mit dem trotzigen Bekenntnis, dass die Bücher „deshalb“ im Regal bleiben und dass man sich auch den Film anschauen werde. Es ist kein Zufall, dass der Bezug dieses „deshalb“ unbestimmt bleibt. Es ist die verwirrte Mischung aus erinnerter Liebe und Unschuld, die nicht nur für kommende Generationen von Kindern gerettet werden soll, sondern vor allem auch für ihre Eltern. Das führt zum zeitgenössischen Phänomen der Trotzrezeption, die sich zuletzt im Fall Layla beobachten ließ, als zahlreiche Menschen mit grimmiger Geste demonstrativ den Schlager hörten. 

Auch im Fall der Winnetou-Bücher mangelt es nicht an peinlichen Gesten. In den Sozialen Medien kursierte ein Bild des FDP-Politikers Thomas Kemmerich, der 2020 traurige Berühmtheit erlangte, als er sich mit den Stimmen der AfD für wenige Tage zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen ließ. Auf dem Bild sitzt er auf einer Bank und liest mit verbissener Konzentration in den alten Romanen von Karl May. Versehen ist das Bild mit dem Schriftzug: “Ich lasse mir Winnetou nicht nehmen.” Die Rezeption wird zum Akt des Widerstandes gegen die Feinde der kulturellen Unschuld, die noch die letzten Bastionen des befreiten Genusses schleifen wollen. Ein ähnliches Bild wird auch in einem Tweet von Kemmerich geteilt, wo er beteuert, am Ende von Winnetou III “haben wir alle geweint … Winnetou ging in die ewigen Jagdgründe ein und dennoch ist er unsterblich. Winnetou lebt weiter in unseren Herzen.” 

Mit der Unschuld kindlicher Kulturrezeption verteidigen Erwachsene auch die eigene politische Unschuld. Anders lässt sich nicht erklären, dass auf eine dermaßen unreflektierte Art die Tatsache beiseitegeschoben wird, wie politisch Kinderliteratur tatsächlich ist. Die kindliche Lektüre selbst mag unschuldig sein, aber was schließlich zum Kanon gehört, war schon immer extrem umstritten. Man kann dieses Konfliktpotential auch als produktiv ansehen, als eine Herausforderung für die ständige Revision dessen, was uns an Fiktionen begeistert. Aber dafür müsste man aus einer erwachsenen Perspektive argumentieren und nicht aus der Perspektive der verletzten kindlichen Unschuld.

Johannes Franzen ist Redakteur bei 54books. Hier können Sie ihm schreiben: johannes.franzen1[at]gmail.com

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Zynischer Nonkonformismus

von Johannes Franzen

Politische Kommunikation ist oft ein Zirkus mit schrecklichen Spätfolgen. Der Podcast „The Flamethrowers“, der die Geschichte des rechten talk radios in den USA erzählt, macht immer wieder deutlich, dass die schwierigen Helden dieser ‚Kunstform‘ als Entertainer auf der Suche nach einer erfolgreichen Nische angefangen haben. Der Meister des rechten Radios, Rush Limbaugh, der zum Zeitpunkt seines Todes im letzten Jahr ein Vermögen von über 500 Millionen Dollar besaß, begann als erfolgloser Moderator. Dann entdeckte er das schier unerschöpfliche Bedürfnis nach einer Stimme, die den angeblich linksliberalen Zeitgeist herausforderte. Sein wütendes Geschrei gegen Feminismus, Anti-Rassismus oder LGBTQ-Aktivismus fand ein riesiges Publikum und wirkte stilbildend für ein rechtes Unterhaltungsformat, das seine Energie aus dem höhnischen Zorn über progressive Anliegen zog.

‚Owning the Libs‘ – Linksliberale provozieren – wurde zu einer der wichtigsten Strategien einer intellektuell entkernten Rechten, die es sich seit den 1970er Jahren zusehends auf dem muffigen Theaterboden der ‚Culture Wars` gemütlich gemacht hatte. Die erfolgreichen Karrieren Limbaughs und anderer Moderatoren, von denen „The Flamethrowers“ erzählt, verweisen aber auch auf die Geschichte eines Geschäftsmodells, das in der gegenwärtigen Aufmerksamkeitsökonomie den Gipfel seiner Lukrativität erreicht hat – das Geschäftsmodell des mutigen Nonkonformisten, der den uniformierten Zeitgeist herausfordert. Es handelt sich um ein Rollenmuster, dessen Attraktivität sich durch alle Register des kulturellen Anspruchs zieht, und auch solche Figuren der jüngeren Kulturgeschichte betrifft, die von einem Limbaugh auf den ersten Blick denkbar weit entfernt erscheinen.

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Kunst als Machtmissbrauch

von Johannes Franzen

Die Vorstellung, dass Kunst einen Sonderstatus besitzen muss, wird in der Gegenwartsgesellschaft wie ein Fetisch verteidigt. Sie gehört zu den semi-sakralen Mythen der Moderne. Die “Anschauung vom außerordentlichen Rang der Dichtkunst”, schreibt Jochen Schmidt in seiner Geschichte des Genie-Gedankens, habe sich erst im 18. Jahrhundert herausgebildet. In dieser Zeit erhielt der Dichter die Würde eines mit “höchster Autorität auftretenden Schöpfers.” Weiterlesen

Verpuffter Skandal – Wie ein Schlüsselroman scheitern kann

von Johannes Franzen

 

Die Art, wie wir Literatur konsumieren, ist immer geprägt von einer gewissen Unaufrichtigkeit. Es gibt die Dinge, die wir mögen sollen, und die Dinge, die wir wirklich mögen. Der Schlüsselroman etwa, in dem es darum geht, reale Vorbilder hinter den scheinbar fiktiven Figuren zu entschlüsseln, ist eine dieser Gattungen, bei denen die Diskrepanz zwischen dem schlechten Ruf einerseits und der konstant hohen Nachfrage andererseits auf die Heucheleien ästhetischer Wertsetzung verweist. Das Ratespiel, das uns verspricht, dass hinter den fiktiven Figuren reale Vorbildern lauern, verstößt natürlich in jeder Hinsicht gegen die Reinheit der Kunst. Statt uns an schönen Sätzen oder psychologischer Tiefe zu erfreuen, weiden wir uns am boulevardesken Trash, am indiskreten Geheimnisverrat. Der Roman – doch eigentlich die bestimmende Kunstform der Moderne – wird hier degradiert zum Vehikel für das Waschen schmutziger Wäsche.  Weiterlesen

Text und Geld – Über den Wert geistiger Arbeit in der digitalen Gegenwart

von Johannes Franzen

 

Alan Rusbridger, der ehemalige Chef des Guardian, erzählt in seinem Buch Breaking News, wie er 2005 zum ersten Mal davon gehört habe, dass ein 52 Jahre alter Internetenthusiast namens Craig Newmark mit einem Team von nur 18 Leuten in einem baufälligen Haus in San Francisco gerade dabei sei, im Alleingang den Zeitungsmarkt zu ruinieren. Die Geschäftsidee von „Craig’s List“ war einfach und erschien absolut naheliegend für ein digitales Format. Kleinanzeigen konnten dort schnell und eigenhändig für wenig oder gar kein Geld geschaltet werden. Für die Printmedien bedeutet das, dass sie mehr oder weniger über Nacht ihr Monopol auf den Verkauf von Aufmerksamkeit verloren. Eine Stellenanzeige in New York, die in der New York Times zwischen 672 und 954 Dollar gekostet hätte, war bei „Craig’s List“ schon für 25 Dollar zu haben. Weiterlesen

Nostalgie als Droge – Warum hört das „Literarische Quartett“ nicht auf

Wir leben in einer Zeit, in der kulturelle Nostalgie es uns schwer macht, Formate, die ihre beste Zeit lange hinter sich haben, in Würde sterben zu lassen. Anders lässt sich nicht erklären, warum das „Literarische Quartett“, dessen Exhumierung im Jahr 2015 (nach fast 15 Jahren friedlicher Ruhe) schon keine allzu gute Idee war, immer noch weitergeführt werden soll. Nachdem sich die gesamte ursprüngliche Besatzung verabschiedet hat, wird nun Thea Dorn alleine das Geisterschiff dieser Sendung steuern – fragt sich nur, wohin. Bedrohlich klingt schon die Ankündigung, man wolle „die Glut der Leselust, die in vielen immer noch schlummert, sechs Mal im Jahr zum Glühen bringen.“ Weiterlesen

Frauen zählen gegen #frauenzählen?

Der zeitgenössische literarische Diskurs ist ein streitgeplagter Ort. Und Mara Delius, die Leiterin der Literarischen Welt, ist nicht zufrieden damit. Wieder werden nämlich Verlagsprogramme kalt durchgezählt, und wieder wird der Umstand angeprangert, dass in manchen Verlagsprogrammen Autorinnen signifikant weniger präsent sind als Autoren. Einen Überblick über diese Misere hatten Nicole Seifert und unsere Autorin Berit Glanz für Spiegel Online zusammengestellt. Aus dem Durchzählen der Verlagsprogramme ergab sich vor allem, dass die etablierten Literaturverlage nach wie vor kein Problem damit haben, Programme mit wenigen Autorinnen in die Saison zu schicken (Hanser 4/14, Fischer 4/11, Diogenes 5/15). Weiterlesen

Romanerfolg für alle! Zur Buchmesse verschenkt 54Books fünf Romanideen

Die Pitch-Meetings für die Buchmesse sind geplant, der Kalender ist voll mit Terminen. Nur eine Sache fehlt: Die zündende Idee für einen Roman, der Kritik und Leserschaft gleichermaßen begeistert, der den Buchmarkt rettet, die zig Millionen Leser*innen zurückbringt, die über die Jahre verloren gegangen sind und der die deutschsprachige Literatur endlich wieder konkurrenzfähig macht. 54Books hilft und verschenkt an dieser Stelle fünf Romanideen, komplett mit Titel, Inhalt und Leseprobe: You’re welcome!

 

Ginsterträume (400 Seiten)

Nach dem Tod ihrer geliebten Leguane nimmt die Literaturprofessorin Friederike Weißner ein Freisemester und zieht in ein kleines Dorf im Südschwarzwald, um ihr Buch über Adalbert Stifter endlich zu Ende zu schreiben. Auf ihren täglichen Spaziergängen durch die unverdorbene Wildnis schweifen ihre Gedanken ab wie Kinder, die sich verirrt haben. Ginsterträume ist eine tiefe Meditation über den Tod, die Natur und das Leben. Der handlungsarme Roman – es gibt keine weiteren Figuren, außer eine vage weise lächelnde Bäckerin – wird in 12 Spaziergängen erzählt (Die Kapitel heißen „Spaziergang 1“ etc.) . Es handelt sich um ein leises, subtiles Buch, das es seinen Leser*innen nicht leicht macht. Man muss sich auf die Naturbeschreibungen bewusst einlassen, um diesem betörenden Meisterwerk seine tiefen Weisheiten abzulauschen. Es empfiehlt sich, während der Lektüre das Handy auszumachen.

Auszug: Den Hang hinab konnte man Krähen hören, deren vielstimmiges Krächzen den Wald mit einer dunklen Aura erfüllte. Elisabeth verharrte vor dem majestätischen Farn, fasziniert von der grünen Symmetrie seiner Blätter. Auch Stifter, dachte sie, hatte Harmonie in der Natur gesucht, aber hatte er sie gefunden? Wie lange hatte sie sich nicht mehr in ein einzelnes Phänomen so stark versenkt wie in diesen Farn? Im Hintergrund ihrer Gedanken konnte sie das ferne unruhige Rauschen der Hauptverkehrsstraße in der Stadt hören. Fern – Farn, fern – Farn … fast unwillig verscheuchte sie die Gedanken an das Anderswo und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.

 

Klinger (350 Seiten und eine Weltkarte von 1809)

Der historische Roman befasst sich mit dem Leben des vergessenen Dichters Friedrich Maximilian Klinger (1752–1831), der heute wenn überhaupt dafür bekannt ist, dass der Titel seines Dramas Sturm und Drang der Epoche ihren Namen gab. Zu Beginn befinden wir uns im Jahr 1830. Der greise Klinger sitzt in einem Zimmer in Dorpat, Estland und sinniert über sein ereignisreiches Leben. Insbesondere die Erinnerung an seine Zeit als Wegbereiter des ‚Sturm und Drang‘ lassen ihn nicht los. In der retrospektiven Erzählung wird deutlich, wie der umtriebige Goethe Klinger erst um seine große Liebe und dann um den verdienten literarischen Ruhm gebracht hatte. Dem Roman liegen ausgiebige Recherchen zugrunde (Safranski, Wikipedia) und er ist randvoll mit saftigen historischen Details; er ist das Beispiel für eine Erzählkunst, die der deutschen Literatur leider abhandengekommen ist.

Auszug: Klinger konnte sehen, wie der Herzog erst blass dann rot im Gesicht wurde, sich unwirsch abwandte und unverwandt einen Blick auf Goethe warf. Ob es denn wirklich wahr sei, rief er voller Zorn. Das Brokat seiner Ärmel spiegelte die Farbe seines Gesichts. Goethe wurde kerzenbleich, die bläulichen Schatten unter seinen Augen traten deutlich hervor. Er wich zurück und schien im Begriff, mit der Wand zu verschmelzen. Der Fürst verlangte ein weiteres Mal zu wissen, ob es wahr sei und trat dabei einen Schritt auf den Dichter zu. Es sei wahr, erwiderte Goethe mit einer Stimme, die heiser war wie ein ungestimmtes Cembalo. Dabei beugte er sein Haupt in der Art, als wolle er mit der Nasenspitze den Marmor des Bodes berühren. Selten hatte Klinger, der eine gepuderte Perücke trug, ein erbärmlicheres Schauspiel gesehen. Er dachte an Lenz, der ihm damals zuerst gesagt hatte, man dürfe Goethen nicht vertrauen. Oh guter Lenz, was war aus ihm geworden?

 

Was uns verbindet (250 Seiten plus achtseitige Danksagung an anonyme Menschen, ohne die dieser Roman nicht hätte geschrieben werden können.)

Lars Lange ist erfolgreicher CEO in einem großen Unternehmen. Die Lehren des Neoliberalismus hat er tief verinnerlicht. Als er im Zuge der #metoo-Bewegung seine Job verliert, rutscht er durch den obsessiven Konsum salafistischer Propaganda im Internet in die ostdeutsche Neonaziszene ab. Erst die Liebe der veganen Aktivistin Claudia, die er auf einem Spaziergang im Hambacher Forst kennenlernt, lässt ihn neuen Lebensmut schöpfen. Nachdem er seine Leidenschaft für Crystal Meth überwunden hat, beginnt er, sich für den Klimaschutz zu interessieren und wird  einer der Wegbereiter von #fridaysforfuture. Was uns verbindet ist ein Roman, der sich nicht scheut, aktuelle Themen aufzugreifen; ein Roman von geradezu überbordender Welthaltigkeit, erzählt in ehrlichen kurzen Sätzen, die nichts verschleiern. Der Autor hat alles, was im Roman passiert selbst erlebt oder mit Menschen gesprochen, die etwas ähnliches erlebt haben. Ein Roman, der weh tut, der seine Leser*inne nicht kalt lässt.

Auszug: Es war die Ruhe vor dem Sturm. Gleich begann der Tanz auf dem Vulkan. Öggie liest die Flasche Korn noch einmal kreisen. „Let’s rumble“, brüllte er und schlug sich mit beiden Fäusten gegen den rasierten Schädel. „Let’s rumble“, kam es aus Zweidutzend Kehlen zurück. Man konnte ihn spüren, den Hass, die Wut. Die Straße gehörte ihnen! Öggie stürzte los und die anderen hinterher. Alles war jetzt nur noch Schreie und Tritte. Rückspiegel krachten, Autoscheiben barsten. In der Ferne Sirenen. Lars sah nur noch Leiber, er roch nur noch Schweiß. Geil, einfach nur geil. Es gab keinen Lars mehr, es gab nur noch das Rudel.

 

Wetterleuchten (200 Seiten)

Der autobiographisch eingefärbte Roman erzählt von einer Jugend im Karlsruhe Anfang der 2000er. Karl ist 18 Jahre alt und wird von allen Seiten mit Fragen bombardiert: Was willst du studieren? Wo willst du dein freiwilliges soziales Jahr verbringen? Welches Auto sollen wir dir kaufen? Lieber Apple oder Windows? Ihn quälen diese gesellschaftlichen Imperative, aber vor allem quält ihn seine unerhörte Liebe zu Lisa, der Tochter des Rektors am H-Gymnasium. Mit seinen Freunden Thorben (der Dicke), Jan (der Liebe) und Olav (der Versoffene) klaut er den Ford seines Vaters (Zweitwagen), um einen letzten Trip an die Nordseee zu machen. Die Geschichte eines verzauberten Sommers zwischen Kindheit und Erwachsenensein, gleichzeitig auch ein zarter Freundschaftsroman, der in den kleinen Anekdoten der Jugend die ganz großen Fragen stellt.

Auszug: Ich weiß nicht mehr genau, wann wir auf die Idee gekommen sind, noch ein letztes Mal rauszukommen. Bevor alles auseinander ging, bevor wir endlich „Entscheidungen“ treffen mussten, dem „Ernst des Lebens“ ins Gesicht schauen. Wir saßen jedenfalls im Schlossgarten, den alle nur „Schlo“ nannten, tranken Zäpfle und hörten Robbie Williams auf unseren iPods. Es war eine dieser Nächte, die voller Geräusche war und dem Geruch von Flieder. „Fuck den Ernst des Lebens“, lallte Olav, der gerade aus den Fichten hervortrat und sich umständlich den Hosenladen zuzog. Olav war der Clown der Truppe, immer zu Späßen aufgelegt, aber er hatte auch Schlag bei den Weibern. Ein echter Gentlemen, aber wir sprachen uns damals alle mit „Gentlemen“ an.

 

Strobodreams (140 Seiten und zehn zusammenhangslose Fotografien von Parkbänken)

Was wiegt die Seele im Spätkapitalismus? Gibt es Ironie nach Lacan? Ist Berlin ein state of mind? Diese Fragen versucht der popmoderne Kurzroman Strobodreams zu beantworten. Flip, Mo und Finn sind zeitgenössische Stadtpiraten und das Berliner Nachtleben ist ihr Atlantik. Zwischen DJ-Gigs, Konzeptkunst und Chemsexparties diskutieren sie, was Deleuze mit Ketamin zu tun hat, wie Žižek den Kotti gesehen hätte und warum man seit Jordan Peterson nicht mehr ins Berghain gehen kann. Ausgestattet mit rätselhaften Einkommen, die nie thematisiert werden, ziehen diese drei Mittzwanziger durch die Nächte, feiernd und redend, redend und feiernd – so, dass man am Ende nicht mehr erkennen kann, wo der Diskurs aufhört und die Party anfängt.

Auszug: Verirrt im Darkroom, während der Bass rhythmisch über sie zu lachen scheint. Mo stolpert über Leiber, und das Miasma aus Fleisch und Latex machte sie unglaublich glücklich. Das Teilchen hat gekickt und die angenehme Kälte ihrer Hände machte sie wach wach wach. Von Links sieht sie Janosch an die Wand gelehnt; die Goldrandbrille tief auf der Nase, die Mütze bedeckt diskret die leicht Tonsur auf seinem Hinterkopf. Janosch schreit ihr ins Ohr: Ranciere hat mich abgefuckt! Rancier ist der MC des Grauens! Hilfesuchend schaut sie sich um, wo ist Finn? Janosch packt sie an der Schulter, seine Augen flackern panisch: Woher kommen die Cyborgbabies? Mo reißt sich los, geht drei Schritte, der Bass klingt anthropomorph, höhnisch, ha ha ha. Zuckende Konturen halbnackter Körper, Priester des Exzess. Hände wippen, wirbeln. Was ist Identität, denkt Mo und nimmt einen Schluck von ihrer Fritz-Cola, was ist Leben?

 

Photo by Artem Bali on Unsplash