Handlungsfähigkeit – Gewalt und Schuld in Videospielen

von Maximilian John

 

Videospiele sind ein interaktives Medium – Spieler*innen handeln, auch wenn diesen Handlungen natürlich durch die  Regeln des Spiels Grenzen gesetzt sind. In Call of Duty etwa können Spieler*innen nicht desertieren, im Rennspiel Forza Horizon lässt sich nicht das Fahrzeug verlassen, um ein anderes zu stehlen. Diese Grenzen sind in verschiedenen Spielen unterschiedlich eng. Trotzdem sind auch in engeren Spielräumen die Spieler*innen immer noch aktiv. In Call of Duty mag zwar der generelle Ablauf fest vorgegeben sein, aber selbst dort müssen Spieler*innen zielen und schießen und können dafür ihre Waffe selbst auswählen. Es sind immer noch die Spieler*innen, die aktiv zielen und den Abzug betätigen. Es sind immer noch Spieler*innen, die den Tod der anderen Pixelfigur auslösen. Und das Spiel reagiert darauf.

Spiele lösen, im Gegensatz zu passiv konsumierten Medien, wie etwa Filmen oder Büchern, Gefühle und Reaktionen aus, die nur entstehen können, weil Spieler*innen in einer aktiven Position sind. Ein Beispiel  wäre das Erfolgsgefühl, das sich einstellt, wenn ein Hindernis erfolgreich überwunden oder ein Ziel erfüllt worden ist. Dieses Erfolgsgefühl steht sehr häufig in einem Zusammenhang mit vorhergehender Frustration. Emotionale Reaktionen auf Medien sind allerdings individuell. Das Überwinden eines frustrierenden Spielabschnitts kann auch zu Erleichterung führen.

Das gilt auch für eine andere Seite der Gefühle. Ich spreche hier vom Gefühl schuldig zu sein. Schuld erfordert eine Interaktion. Die empfindende Person muss für eine Situation der Auslöser sein, damit sie sich schuldig fühlen kann – sie muss in einem kausalen Sinne verantwortlich sein. Filme und Literatur können dieses Gefühl nur indirekt vermitteln – etwa in Dostojewskis Verbrechen und Strafe, das den langsamen Verfall Raskolnikows nach seinem Mord an der Pfandleiherin erzählt, der an seiner Schuld zu Grunde geht. Indirekt ist diese Darstellung insofern, als wir nicht direkt fühlen können, allenfalls nachfühlen – und in der Fähigkeit des Nachfühlens überschätzen sich Menschen gerne maßlos. 

Im Gegensatz dazu steht das Videospiel, in dem wir die Handlungen direkter erfahren können. Dieses Fühlen ist, wie bereits erwähnt, subjektiv. In diesem Fall heißt das, dass einige Menschen Schuld in Situationen empfinden, die für andere Menschen nicht einmal eine Erwähnung wert sind. Ein überfahrener Passant in Grand Theft Auto (kurz GTA) ist für viele Spieler*innen kaum ein Kollateralschaden, allenfalls eine Störung, wenn durch den überfahrenen Passant die Polizei auf die Spielfigur aufmerksam wird. Die Abstraktionsebene ist stark, denn ein Passant wird hier nicht als Passant angesehen, nicht mal unbedingt als eine virtuelle Repräsentation, sondern als ein Spielelement, ein Schalter mit Zusatzfunktion, der in manchen Fällen ein anderes Spielelement aktiviert oder eben nicht, und ansonsten nur als Kulisse dient, um die Spielwelt lebendiger erscheinen zu lassen. Diese Abstraktion setzt allerdings eine gewisse Abhärtung voraus – eine deutliche Distanzierung der gezeigten Gewalt von echter Gewalt. Und auch wenn in Diskussionen um sogenannten “Killerspiele” gerne auf eine Selbstverständlichkeit verwiesen wird, so beruht diese Abhärtung doch auch auf einer Form der Gewöhnung.

Ohne diese Gewöhnung können Menschen sich dafür schuldig fühlen, einen unschuldigen Menschen überfahren zu haben. Das Spiel ist immersiv genug, um Gefühle auszulösen, die eigentlich, aus einer rein spielerischen Sicht, nicht angebracht sind: Denn heruntergebrochen ist der überfahrene Passant weiterhin nur eine Figur aus Polygonen, die jederzeit neu hervorgerufen werden kann.Doch was heißt das? In Spielen, in denen Gewalt eine wichtige Rolle einnimmt, können Schuldgefühle immer eine Rolle spielen und es ist vom subjektiven Empfinden der Spieler*innen abhängig, ob und in welchem Umfang diese Gefühle ausgelöst werden. Allerdings gibt es neben den Spielen, die ihre Schuldgefühle eher unabsichtlich auslösen, auch solche, die in ihrer Handlung und im Gameplay augenscheinlich darauf angelegt sind.

Eines dieser Spiele ist Spec Ops: The Line, entwickelt von Yager, einem Entwicklerstudio aus Berlin. Es handelt sich nominell um den zehnten Teil der Spec-Ops-Serie, einer Reihe von Low-Budget-Taktik-Shootern, die zwischen 1998 und 2002 hauptsächlich für die erste PlayStation veröffentlicht wurden. Spec Ops: The Line steht aber, abgesehen vom Titel und der dazugehörigen Marke, nicht mit diesen Titeln in Verbindung.

Auf den ersten Blick, und auch in den ersten Spielminuten, scheint Spec Ops: The Line ein generischer Deckungsshooter in einem modernen Kriegsszenario zu sein. Damit verbindet es augenscheinlich zwei Elemente, die sehr prägend für die der Xbox 360 und PlayStation 3 waren. Das moderne Kriegsszenario wurde durch Call of Duty 4: Modern Warfare popularisiert und hat in den späten 0er Jahren den zweiten Weltkrieg als das Hauptszenario für Spiele mit Schusswaffengewalt abgelöst. Dabei war Modern Warfare nicht das erste in der Jetzt-Zeit angesiedelte Ego-Shooter. Der häufig in der “Killerspiel”-Debatte herangezogene Ego-Shooter Counter-Strike hatte fast eine Dekade zuvor bereits die moderne Kriegsführung als Szenario. Allerdings sorgte Call of Duty durch einen durchschlagenden Erfolg auf dem Massenmarkt für eine Welle an Spielen, die dieses Szenario übernahmen. Traditionsserien wie etwa Medal of Honor, das vorher ebenfalls im zweiten Weltkrieg angesiedelt war, wendeten sich nun auch der modernen Kriegsführung zu – mit unterschiedlichem Erfolg. Bereits wenige Jahr nach Modern Warfares Veröffentlichung war das Jetzt-Zeit-Szenario fast schon ein Klischee und, wie schon vorher beim zweiten Weltkrieg, wünschten sich viele Spieler*innen andere Szenarien. 

Im Gegensatz zu Modern Warfare war Spec Ops allerdings kein Ego-Shooter, sondern ein Third-Person-Shooter mit Deckungssystem. Ein Third-Person-Spiel zeichnet sich dadurch aus, dass die Kamera der Spielfigur folgt, statt deren Sichtfeld zu entsprechen. Bekannte Reihen wie Assassin’s Creed und Fortnite nutzen ebenfalls diese Kameraperspektive. Genau wie das moderne Kriegsszenario war auch das Deckungssystem einer der Aspekte, die die 7. Konsolengeneration besonders prägte. Statt wie in früheren Third-Person-Shooter in Deckung zu gehen, in dem die Spielfigur das Sichtfeld zu den Gegner*innen unterbrach, wurde in Gears of War ein System etabliert, bei dem die Spielfigur auf Tastendruck sich an die Deckung lehnt und an dieser “klebt”. Dieses System wurde schnell zu einem neuen Standard für Third-Person-Shooter und viele mittelmäßige bis schlechte Spiele mit dieser Funktion fluteten den Markt.

Spec Ops: The Line nutzt, wie bereits erwähnt, beides und wirkt auf dem ersten Blick wie ein weiterer Titel in einer langen Liste an generischen, uninteressanten und uninspirierten Spielen, die einfach nur den zu diesem Zeitpunkt aktuellen Trends hinterher rannten. Die 2012 veröffentlichte Demo, die aus zwei der frühen Abschnitte bestand, unterstrich diesen Eindruck: Eher belanglose Schusswechsel mit wenigen Umgebungsinteraktionen (so ließen sich etwa Glasscheiben einschießen, um Gegner*innen in Sand zu begraben) gepaart mit flapsigem Militärpathos. Nichts stach heraus, außer vielleicht dem Setting: Einem durch Sandstürme komplett von Sand überzogenen Dubai, in dem ein Squad aus drei Personen (Martin Walker, Alphonso Adams und John Lugo) versucht eine verschollene Militäreinheit unter der Führung von Colonel John Konrad zu retten.

Dieser Eindruck täuscht. Auch wenn es die erste Spielstunde nicht erahnen lassen: Spec Ops gilt bis heute als eines der wenigen expliziten Antikriegsspiele. Das Spiel basiert lose auf Joseph Conrads Roman Heart of Darkness und versucht im Gegensatz zu den Abenteuerkriegsspielplätzen eines Call of Duty explizit Krieg als etwas Grauenvolles darzustellen. Etwas Grauenvolles, an dem Spieler*innen als Spieler*innen dieses Spiel partizipieren. Aber Spec Ops: The Line ist auch ein Spiel, das trotz kaum zu leugnender Qualität letztendlich an seinen erzählerischen Ambitionen scheitert und damit verbunden ein Beispiel dafür, dass Schuldgefühle zu provozieren nicht leicht ist.

Am besten zeigt sich das an einer Szene in der Mitte des Spiels, für die es letztlich vor allem bekannt wurde: Das Trio setzt weißes Phosphor ein, um eine Armee, die sie glauben nicht anders überwinden zu können, zu besiegen. Per Computerbildschirm ordnet Walker die Drohnenschläge an, die von Lugo und Adams ausgeführt werden. Beim Bild handelt es sich um ein Wärmebild – es ist distanziert von der Realität und wird nur durch das Gesicht Walkers, das sich leicht auf dem Bildschirm spiegelt, ästhetisch in der Spielrealität von Spec Ops gehalten. 

Nach der “erfolgreichen” Ausführung müssen die Protagonisten das andere Ende des Schlachtfelds erreichen und dafür direkt durch das Gebiet, auf die das weiße Phosphor abgeworfen wurde. Die Grausamkeit ihrer Tat wird sehr ausführlich gezeigt: Langsamer als sonst bewegt sich die Spielfigur durch den grünlichen Rauch und sieht verstümmelte Leichen, aber auch noch lebende Soldaten, denen Gliedmaßen fehlen – untermalt von einer E-Gitarre und dem gequälten Schreien der Sterbenden. 

Die Szene endet mit einer Zwischensequenz, in der klar wird, dass neben der gegnerischen Armee auch Zivilisten befanden. Bis zu diesem Zeitpunkt gingen die Protagonisten davon aus, dass sie die Zivilist*innen vor der Armee schützen müssten. Es offenbart sich, dass dies nicht so war. Die Armee wollte die Zivilisten schützen. In einer ekelerregenden Szene wird gezeigt, dass diese Zivilisten auch Opfer des weißen Phosphor wurden. Die Folgen der Gewalt werden noch expliziter gezeigt, als es bei den Soldaten der Fall war. 

Die Situation ist abstoßend und für die Zeit auch in seiner Darstellung ungewöhnlich für ein Videospiel. Aber: Sie zeigt auch die Schwäche der Narration. Damit ist nicht gemeint, dass sie Selbstzweck wäre. Die Gewalt dient der Geschichte, die letztlich zumindest versucht einen Antigewaltstandpunkt einzunehmen. Allerdings ist die Zwischensequenz, so beklemmend sie auch ist, ein Film, also nicht Teil des aktiven Gameplays. Sie findet in einem anderen Medium statt und ist nicht interaktiv. 

Die Interaktivität ist im ganzen Ablauf sehr beschränkt. Ein Problem dieser Szene wird durch einen Dialog direkt vor Einsatz des weißen Phosphors veranschaulicht. Als Walker beschließt, das weiße Phosphor zu nutzen, protestiert Lugo dagegen und folgender Dialog entspinnt sich.

Lugo: “You’ve seen what the shit does.”

Adams: “We have no choice.”

Lugo: “There is always a choice.” 

Adams: “No there is really not.” 

And there is really not. Auch wenn es während der Entwicklung des Spiels ursprünglich geplant war – es gibt keine andere Möglichkeit in der Handlung fortzufahren, als das weiße Phosphor zu nutzen und die Gruppe der Zivilisten zu töten. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, ist das Spiel abzubrechen. Die Narration erlaubt keinen Umweg, keine Entscheidung. Spieler*innen können dem Skript folgen oder das Spiel beenden. Spieler*innen werden also in gewisser Weise zu Schauspieler*innen. Ihr Handlungsspielraum lässt nur offen, wo genau das weiße Phosphor einschlägt. 

Ein weiteres Problem ist die ludonarrative Dissonanz des Spiels, die nirgendwo in der Handlung so stark zur Geltung kommt wie hier. Ludonarrative Dissonanz meint einen Bruch zwischen der Geschichte und dem Gameplay. Als Storybegründung für den Einsatz wird die große Armee herangezogen, die anders nicht zu besiegen ist. Das beißt sich allerdings mit dem bisherigen Spielinhalt, in dem die Protagonisten schon unzählige gegnerische Soldaten erschossen haben. Warum sollte ausgerechnet hier nicht mehr möglich sein, die Gegner mit dem Einsatz von Pistolen und Sturmgewehren zu überwinden? Warum muss es gerade hier weißer Phosphor sein? Zwischen der Story “Wir haben keine andere Wahl als weißes Phosphor” und dem Gameplay “Ich habe mich bereits durch ein Armee geschossen” klafft ein Spalt, der die Wirkung der Szene mildert.

Schuld, ist wie bereits mehrfach betont, subjektiv und entsprechend wird es fast garantiert Spieler*innen geben, die sich durch diesen Abschnitt schuldig gefühlt haben. Aber kann Schuld hier provoziert sein, wenn letztendlich nicht die Spieler*innen verantwortlich für den Verlauf sind, sondern die Autor*innen und letztendlich aus einer spielerischen Sicht dieser Storybeat nicht komplett nachvollziehbar ist? Die Szene funktioniert eher wie ein Film. Die Interaktionsmöglichkeit ist beschränkt und würde kaum verlieren, wenn sie gar nicht gegeben wäre. Dies wird auch durch das Ende der Szene deutlich. Sie endet in einer Zwischensequenz, in der die Protagonisten sich ihrer eigenen Schuld bewusst werden. Aber es sind eben nur sie, nicht die Spieler*innen, die Schuld tragen. 

Im Beispiel Spec Ops zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen zwei Formen von Autor*innenschaft. Auf der einen Seite die Autor*innen des Spiels, die den Rahmen vorgeben müssen, auf der anderen Seite die gefühlte Autor*innenschaft der Spieler*innen. Für Schuldgefühle müssen Spieler*innen sich selbst als Autor*innen im Sinne einer Handlungsentscheidung fühlen, selbst wenn diese Autor*innenschaft nur auf die Auswahl einer durch die wirklichen Autor*innen vorgegeben Pfade beschränkt ist. Dies funktioniert am besten, wenn nicht direkt offensichtlich ist, dass es sich um vorgegebene Pfade handelt. 

Auch hierfür bietet Spec Ops ein Beispiel, dass ein Scheitern dieses Versuchs aufzeigt. Kurz vor Ende der Handlungen finden sich zwei der Protagonisten in einer aufgebrachten Menschenmenge wieder, die den dritten Protagonisten erhängt hat. Sie schmeißen mit Steinen nach ihnen, die jeweils Lebenspunkte abziehen. Spieler*innen müssen also agieren, wenn sie nicht sterben wollen. Es gibt zwei Möglichkeiten mit dieser Situation umzugehen. Entweder die Protagonisten eröffnen das Feuer auf die Menge, oder aber sie schießen in die Luft. Beide Handlungen sorgen dafür, dass die Menge sich auflöst. Beide Handlungen haben keine andere Konsequenzen. 

Auch diese Situation erfüllt den Zweck allerdings nur bedingt. Zum einen war Erschießen bis zu diesem Zeitpunkt die einzige wirkliche Spieloption. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass ein in die Luft schießen ausreicht um die Situation zu lösen. Wieso sollten sich Spieler*innen schuldig fühlen, wenn sie weiterhin glauben müssen, nur dem Skript zu folgen? Zum anderen erscheint die Entscheidung viel zu spät im Spiel. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits eine drei-, wenn nicht sogar vierstellige Anzahl an Toten im Spiel. Warum sollte ausgerechnet jetzt, in einer aggressiven Masse, Spieler*innen Schuld empfinden, wenn sie virtuell Menschen töten?

Es muss also, selbst wenn die Entscheidung nicht als Entscheidung ins Gesicht springt, doch deutlich werden, dass es Entscheidungen geben kann, verschiedene Lösungswege, die verschiedene Folgen haben. Das betrifft allerdings die Grundstruktur des Spiels. Einzelne Szenen reichen hier nicht aus. Wenn ein Spiel nicht dafür sorgt, dass die Spieler*innen sich als Mitautor*innen fühlen, ist der Effekt gering, wenn es dann doch einmal eine gefühlte Autor*innenschaft zulässt.

 

 

Photo by Thomas Tucker on Unsplash

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