Mit Heyms Träumen stimmt etwas nicht. Mal kommen ihm in der Nacht Bilder davon, wie er sich schreiend mit einem marokkanischen Fensterputzer auf einem Fensterputzlift unterhält, mal träumt er „von einem Wald, in dem Tiere ohne Haut umhergehen und sich wundern“. Heym arbeitet als Designer, als „Fleurateur“, wie die Kollegen sich gegenseitig nennen, in einer Firma, die möglichst realitätsgetreue Imitate von Pflanzen herstellt. Dabei interessiert ihn besonders die Verweigerungshaltung seiner echten Gegenstände, die „Intelligenz der Pflanzen“, wie er es nennt, die sich „dem Prozess der Fälschung“ widersetzen: „Es war das beste Beispiel für das Wunder, das Heym faszinierte, für die Sache an sich, die er nie ganz begreifen konnte, egal wie lange er darüber nachdachte, und die ihm gleichzeitig das letzte, unüberwindbare Hindernis seiner Arbeit aufzeigte. Die Himbeere, deren Samen erst keimfähig werden, nachdem sie gepflückt, gegessen und verdaut wurden.“
In Roman Ehrlichs Erzählung aus seinem Band „Urwaldgäste“ von 2014 wird Heym, grundsätzlich verunsichert von sich und Welt, in den Fängen einer obskuren Erlebnisfirma namens „Agentur Lateralis“ landen, die mit dem Spruch „Lassen Sie sich täuschen“ alternativ gescriptete Realitäten anbietet, ganz ähnlich, wie es im (ziemlich großartigen) Spielfilm „The Game“ die „Consumer Recreation Services“ einem Investment-Banker (Michael Douglas) verspricht. Aber Ehrlichs Figur ist – anders als die Hollywood-Variante – kein Patrick-Bateman-Verschnitt, der sich einem dekadenten Ennui hingibt, sondern ein mattes und medial verstörtes Männlein, das eine Art von Simulationsfieber erfasst hat. Er produziert Plastikpflanzen als „immerschöne Ergänzung des Natürlichen“ und sehnt sich doch nach dem „Echten im Hoheitsgebiet der Nachbildungen“.
Bevor Heym sein erstes Treffen mit der Agentur wahrnimmt, streift er durch die Stadt und „schaut sich in einer Buchhandlung lange Zeit Bildbände über unberührte Urwaldgebiete in Kanada, Alaska und Sibirien an, über Blauwale und ein Kunstbuch über europäische Marinemalerei“. Nachdem ich „Hysteria“ von Nickel gelesen und mir daraufhin Ehrlichs Erzählung nochmal angeschaut habe, hätte ich mich nicht gewundert, wenn Heym an dieser Stelle in der Erzählung als nächstes Nickels Roman in die Hand genommen hätte, so gruselig nah sind sich beide Texte.
Es wirkt tatsächlich, als seien Ehrlichs Himbeeren weitergereicht worden, bis sie endlich, vier Jahre später, bei Nickel angelangt seien, der sie sich nochmal ganz genau angeschaut hat. Sein erster Roman, erschienen bei Piper, beginnt so: „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht. Die kleinen geflochtenen Holzschalen, die Bergheim [ja, der heißt wirklich so, wie der große Bruder von Heym] auf dem Markt immer hochhob, um zu sehen, ob sich das weiße Vlies am Boden schon von zerfallenden Früchten rötlich verfärbte, waren übervoll mit zu dunklen Beeren.“ Verstört blickt sich Nickels Protagonist nun auf dem Markt um; ihm ist, als sei etwas Grundsätzliches ins Wanken geraten. Er schaut sich das provisorische Gehege einer Weidefarm für Wagyu-Rinder an, und ihm, dem hypersensiblen Neurotiker, fällt ein Rind auf, das sich eigenartig bewegte:
„Während die anderen bereitwillig zu den Kindern der Einkäufer am vorderen Rand der Koppel kamen, um sich streicheln zu lassen, blieb das Tier verstört an der Tränke stehen. Es kratzte mit den Hufen monoton das Stroh zur Seite und rieb sein Fell an den mit krumm geschlagenen Nägeln übersäten Brettern des Zauns. Dabei blieben Hautteile am Holz hängen, sodass allmählich das Fleisch durchzuschimmern begann. Als er genauer hinsah, entdeckte Bergheim, dass trotz der Verletzungen, die sich das Tier beibrachte, kein Blut zum Vorschein kam, sondern immer größere Flächen einer gräulich glänzenden Fleischmasse, die verdorbener Hähnchenbrust in Zellophan ähnelte.“
Der Traum von hautlosen Tieren, den Ehrlich seine Figur träumen lässt, hat, so scheint es, ein Eigenleben entwickelt. Die waidwunden Gestalten sind schlafwandlerisch aus dem einen Buch hinein ins andere getorkelt, um dort Nickels Figur zu traktieren. Denn die Erfahrung auf dem Markt setzt den Startpunkt für Bergheims investigativen Irrweg, der auf den folgenden gut 230 Seiten skizziert wird. In einer Kooperative namens „Sommerfrische“ lernt er eine Mitarbeiterin namens Asche und einen Wissenschaftler namens Dr. Haupt kennen, die ihm stolz eine belebte Natur-Szenerie in Miniatur-Maßstab zeigen: „Erst jetzt bemerkte Bergheim, dass das, was er sah, nicht nur eine perfekte Nachbildung der Natur in Form einer Spielzeugwelt war, sondern dass sich alles noch dazu bewegte.“ Die „Dermo-Plastiker“ haben ganze Arbeit geleistet. Sie sind in der Fälschungsindustrie die nächste Entwicklungsstufe nach den „Fleurateuren“ und arbeiten daran, „ein Abbild dessen, was so sein sollte, wie es einmal war“, zu erschaffen.
Noch am selben Tag nimmt Bergheim einen Termin im sogenannten „Kulinarischen Institut“ wahr, wo er auf zwei frühere Freunde trifft, zuerst auf Charlotte, später auf Ansgar. Das Trio hatte gemeinsam studiert und sich u. a. Vorlesungen über das Leuchten von Meeresquallen angehört. Wir erfahren insbesondere von einem Abend in der sogenannten Aromabar, in der – nachdem Kaffee und Alkohol verboten wurden – die Studis Trips auf Basis von biologischen Rauschstoffen haben. Aber diese unbekümmerten Zeiten sind längst passé, die Ideologeme des sogenannten „Spurenlosen Lebens“, die dem Trio erstmals im Studium begegnet waren, sind zur Staatsdoktrin geworden. Die „Naturpartei“ ist an der Macht und verkündet salbungsvoll ihre Gebote: Die Existenz der Menschheit sei „ein biologischer Zufall“, eigentlich sei sie „nutzlos“ und „sämtliche Eingriffe in das natürliche Leben“ durch den Menschen seien zurückzunehmen. Dementsprechend seien „Einfluss und Auswirkungen, die seine Existenz an sich auf [die Natur] hat, nach bestem Wissen und Gewissen [zu] reduzieren, und, in letzter Konsequenz, auf[zu]heben“.
Im „Kulinarischen Institut“ laufen alle Stränge zusammen: Charlotte ist die Leiterin des Hauses und eine Adeptin des „Spurenlosen Lebens“ geworden, Ansgar hat als „Frucht-Detektiv“ Karriere gemacht, der besonders raren, noch nicht ausgestorbenen Pflanzen nachspürt. Es entspinnt sich eine merkwürdig motivationslose, zugleich soghaft irritierende Handlung, in deren Verlauf Bergheim für mehrere Stunden abtaucht, um mit einer Gedächtnis-Apparatur frühere Studienerfahrungen nachzuerleben. Später werden die Figuren ein absurd aufwändiges mehrgängiges Menü zu sich nehmen, das Nickel in penetranter Eleganz beschreibt. (Ja, wer mag, kann hier eine aristokratische, parfümierte Wertschätzung des Erlesenen erkennen, eine Absage an die Masse. Aber nicht jeder Typ in der Fußgängerzone, der mit einem beigen Trenchcoat und langstieligen Regenschirm herumläuft, ist ein Dandy, und nicht jeder Text, der sich dem Fetisch der Oberfläche und dem Sezieren von Genuss-Mechanismen widmet, ist ein apolitisches, popiges und dekadent-reaktionäres Stück Literatur.) Im Laufe des Abendmahls werden persönliche und institutionelle Geheimnisse zu Tage gefördert, letztlich aber kreist alles um die Frage, die Charlotte einst als Studentin gestellt hatte: „Was ist mit dem Menschen und seinen Spuren? Da wird es doch erst richtig interessant. Wie schaffen wir es, nicht nur unseren, wie haben sie früher noch gesagt, Kohlenstoffdioxid-Fußabdruck, verschwinden zu lassen, sondern den biografischen, mit dem wir uns so viel nachhaltiger in den Leben der anderen verewigt haben, die wir im Laufe unserer Existenz gemeinhin mit den Füßen getreten haben oder noch treten werden?“
Wie eine erste Erprobung dieser Selbsttilgungsphantasie kommt – lange vor „Hysteria“ – Christoph Ransmayrs bizarres Prosagedicht „Strahlender Untergang“ daher. Es ist im Tonfall einer pathetischen TED-Konferenz geschrieben und verkündet in bemerkenswerter Nähe zu Nickel die Lehre von einer „Neuen Wissenschaft“, welche „Beihilfe zur Zukunft“ sei. Denn sie „erzeugt […] nichts anderes mehr / als die Bedingungen des Wesentlichen: / die Organisation des Verschwindens“. Der Mensch solle sich abschaffen, aber dieser „planmäßige Untergang ist längst / nicht das Ärgste – im Gegenteil: / Seine umsichtige Organisation / und rasche Verwirklichung / bringt alles zurück, was im / Verlauf der beschämenden Entwicklung / eines von der Herrschaft / über die natürliche Welt / blind faszinierten Denkens / schon verloren schien.“
Ransmayrs Debüt, das bei der Veröffentlichung 1982 größtenteils unbeachtet blieb, ist stark durch das postmoderne Phantasma vom Ende des Subjekts geprägt, von Foucaults Bild eines Menschen, der „verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ „Les mots et les choses“, aus dem das Zitat stammt, war 1966 im Original erschienen, fünfzehn Jahre vor Ransmayrs post-humanistischer Verstirade. Letzterer malt sich die „die Organisation des Verschwindens“ derart aus, dass in Wüsten Terrarien angelegt werden, „[m]eterhoch die Umzäunung, / sorgfältig geglättet / die Ebene aus Steinen und Sand / und frei von Wasser und Bewuchs“, in die dann ein Mensch eingesperrt wird, bis er dehydriert und sich bis zur Substanzlosigkeit auflöst: „Ich bin der Zusammenbruch der Thermoregulation, / ich bin / der allesumfassende Verlust. / Ich konzentriere mich in allem / und werde weniger.“
„Strahlender Untergang“ mag es sich ein wenig zu schnell zu bequem gemacht haben in seiner Untergangslust. Und doch zeigt das Langgedicht die Nervosität der menschlichen Spezies auf, die zwischen verfluchter Präsenz und ersehnter Abwesenheit, zwischen der schuldbehafteten Unlust am Hier und der schamvollen Lust am Dort pendelt. Bei Nickel ist das „spurenlose Leben“ zur „Neuen Wissenschaft“ geworden. Die Doktrin wird als kritische Fortsetzung eines ambigen Verhältnisses zur Natur entworfen, freilich als zeitgeistige Aktualisierung: Das Programm besteht wesentlich im Versprechen von bzw. in der Nötigung zu einer ethischen Gesundung durch ein dauer-achtsames Leben. Als finale Pointe lockt die Wiederherstellung eines wildwüchsiges Paradieses ohne menschliche Makel. In der Kooperative ebenso wie im Institut wird indes klar, wie schizophren diese Unternehmung ist: Der Wissensstand und die Apparaturen, die nur eine hochentwickelte Kultur hervorbringen können, werden eingesetzt, um eben diese dem Abgrund entgegenzuführen. Nickels schelmisches Buch führt uns eine alte zivilisationskritische Dauerschleife vor: Je mühsamer sich der Mensch im Anthropozän danach sehnt, vom Erdball zu verschwinden, umso stärker schreibt er sich ihm ein.
Aber was gehört überhaupt getilgt? Wer definiert, was am Leben lebenswert, was verabscheuenswürdig ist? Hier treffen sich Nickels Öko-Dystopie „Hysteria“ und Juli Zehs Medizin-Dystopie „Corpus Delicti“: Beide kritisieren eine Form der hygienischen Moralisierung, die keinen Erreger und keinen Abfall, keine Spuren und keine Rückstände zulässt. Während Zehs Roman aber ziemlich konform vor sich hin erzählt und ständig auf seine alarmistische Botschaft schielt, ist Nickels Roman ästhetisch weit anspruchsvoller und verspielter. Der Text inszeniert auch auf einem formalen Level das Thema der Künstlichkeit, etwa durch das unorganische Gebaren der Figuren. Ihnen wohnt kein Leben inne, ihr Habitus ist widernatürlich, sie sprechen an den unpassenden und schweigen an den falschen Stellen. Insgesamt wirken Bergheim, Charlotte & Co wie Apparate, die ruckeln, wie Maschinen, die stottern, während sie so tun, als seien sie Menschen. Ständig hat man das Gefühl, Widergängern aus anderen Büchern zu begegnen, literaturhistorischen Kopien, die in „Hysteria“ als schlechter Import umherstolpern.
Auch glänzt und brilliert und blendet die höchst stilisierte Text-Oberfläche mit Adjektiven, Archaismen und Anspielungen. Das Buch ist ein Pastiche, und die Feuilletons sind ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Erbuddelung intertextueller Referenzen, längst nachgekommen. Zeit, SZ und FAZ warten u. a. auf mit: Sigmund Freud (das Unheimliche als Grundgefühl), Edgar Ellen Poe (grusel, grusel), E. T. A. Hoffmann (die Ununterscheidbarkeit menschlicher und nicht-menschlicher Sphären, die Krise des Subjekts), Joris-Karl Huysman (die unbedingte Verschönerung der Natur) und Franz Kafka (Irrwege in einem institutionellen Apparat). Neben der gesättigten Lektüre-Erfahrung bietet einem dieses erratische und kokette und zehnfach geschichtete Werk zwei Boni an: dass erstens jede Seite einen immer neu dazu einlädt, die in launigen Kolumnen gelesenen Bio- und Anti-Bio-Kommentare weiterzudenken und auf ihre Widersprüche und Möglichkeiten, auf ihre Verschwiegenheiten und Selbstlügen hin zu überprüfen, und dass, zweitens, dieser bemerkenswerte opake Text einem – endlich mal – ein genuin ästhetisches Reflexionsangebot unterbreitet, um dem irrsinnigen Zeitgeist beizukommen.