Kanon-Wrestling bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur #tddlKanon

von Daniel Stähr

 

Vieles war anders, vieles war neu bei den 44. (digitalen) Tagen der deutschsprachigen Literatur, aber eine Sache hat sich auch 2020 nicht verändert: Auch dieses Jahr griff die Jury in der Diskussion auf einen impliziten „Bachmannpreis-Kanon“ zurück, der die vorgetragenen Texte in einen Bezugsrahmen setzt. Nachdem Berit Glanz im letzten Jahr angeregt  hatte, diesen Kanon festzuhalten und somit abzubilden, welche Werke, Künstler*innen, Schriftsteller*innen und generell kulturellen Erzeugnisse als Referenzen verwendet werden, haben wir auch beim diesjährigen Bachmannpreis auf Twitter unter #tddlkanon die Bezüge der Juror*innen gesammelt.

Dabei bleibt eine Sache deutlich: Der #tddlkanon ist vor allem weiß und cis männlich. Ein Drittel der explizit genannten Personen waren Frauen, zwei Drittel Männer. Werden davon noch die über ein Dutzend Autor*innen und Herausgeber*innen abgezogen, die Sharon Dodua Otoo in ihrer Rede Dürfen Schwarze Blumen Malen? nannte, sieht es noch dürftiger aus.

Auffällig war auch, wie Marcel Inhoff (@sibaerisch) auf Twitter festgestellt hat, dass 2019 die Rede von Clemens Setz noch allgegenwärtig war in der Diskussion über die Texte, jene von Sharon Dodua Otoo aber von der Jury vollständig ignoriert wurde.

 

Dazu kommt, letztes Jahr keine Jurydiskussion ohne Referenz auf die Setzrede – in diesem Jahr keine einzige? Referenz auf die Rede von Sharon Otoo. Schade. Man hätte ja damit gut ins Verhältnis setzen können, was das Schreiben über Erlebnis und Repräsentation bedeuten kann #tddl https://t.co/QZ8VAZ1fH4

— Marcel Inhoff (@sibaerisch) June 20, 2020

 

Bei allen Streitigkeiten innerhalb der Jury, wer denn jetzt ein konservatives Bild von Literatur(-kritik) und dem Feuilleton habe und wer nicht, kann festgehalten werden: Alle sieben Juror*innen bewegen sich in denselben, eng gesteckten Vorstellungen von relevanter Literatur und Kultur und die sind eben selbst Weiß. Das ist unter anderem der Hintergrund, vor dem die Preise verhandelt werden, ob das ausreichend oder angemessen ist, darf zumindest hinterfragt werden. Eine Abbildung der gesellschaftlich existierenden Diversität findet im Sprechen über die Texte jedenfalls nicht statt. Wie das behoben werden kann, dafür gibt Otoos Rede die Antwort. Bei der nächsten Neubesetzung der Jury könnte die gesellschaftliche Vielfalt auch in die Jury gebracht werden. Denn eins zeigt Dürfen Schwarze Blumen Malen? ganz eindeutig: Representation matters und macht einen realen Unterschied.

(Hinweise auf Korrekturen und Ergänzungen können gerne kommentiert werden, auch unter dem Hashtag #tddlkanon.)

 

Tag 1: Mittwoch, 17. Juni 2020

Autor*innen literarischer Werke:

Charles Dickens, Homer, Geoffrey Chaucer, Heinrich Böll, Bertolt Brecht, Michael Götting, Chinua Achebe, Walter Jens

Jackie Thomae, May Ayim, Olivia Wenzel, Zoe Hagen, Melanie Raabe, SchwarzRund, Noah Sow, Toni Morrison

Autor*innen nicht literarische Werke:

Achille Mbembe, Ludwig Wittgenstein

Nivedita Prasad, Chris Lange, Ika Hügel-Marshall

Politische Organisationen:

Bla*Sh, ADEFRA, ISD, Pamoja

Sonstiges:

Michel Friedman, Marcel Reich-Ranicki, Waldorf und Statler, Albert Einstein, Arnold Schönberg, Philippa Ebéné

Tag 2: Donnerstag, 18. Juni 2020

Filme & Serien:

Magische Tierwesen und wo sie zu finden sind (Hubert Winkels bezieht sich explizit auf die Filme), Der Blaue Engel, Blade Runner, Systemsprenger

Literarische Quellen und ihre Autor*innen:

Don Juan (Gedicht von Lord Byron), Manhattan Transfer (John Don Passos), Metamorphosen (Ovid), Unruhig Bleiben, Cyborg Manifesto (beide Donna Haraway), Ultraromantik (Leonhard Hieronymi), Die Letzte Welt (Christoph Ransmayr), Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus (Christine Lavant), Die Gänsemagd (Märchen)

Autor*innen literarischer Werke:

Ingeborg Bachmann, J.K. Rowling,

Franz Kafka, Arthur Schnitzler, Thomas Mann,Thomas Bernhard, Peter Handke, Hermann Hesse, Hubert Fichte oder Gottlieb Fichte (Insa Wilke und Hubert Winkels sprachen wahrscheinlich über verschiedene Fichtes als sie den Bezug aus Leonhard Hieronymis Text diskutierten, was die Verwirrung um den Ort seines Grabes erklären könnte), Hans Henny Jahnn, Mircea Dinescu

Fiktive Figuren:

Linus und Charlie Brown (Peanuts), Leila und Madschnun, Robin Hood, Medusa, Pegasus

Sonstiges:

Marlene Dietrich

Peter Sellers, Donald Tusk, Diogenes, Theodor W. Adorno, das Ü-Ei, The Last of Us (Spiel), The Who – Quadrophenia, Nora Gomringer nennt einen US-Präsidenten, der mit Hilfe von Bots eine Wahl gewonnen hat, Hubert Winkels verweist auf die Historie des Psychatrietexts beim Bachmannpreis

 

Tag 3: Freitag, 19. Juni 2020

Figuren Literarischer Werke:

Yoda (Star Wars), Scheherazade, Eulenspiegel

Literarische Quellen:

Drehtür (Katja Lange-Müller), Die Wand (Marlen Haushofer)

Karl und das 20. Jahrhundert (Rudolf Brunngraber), avenidas (Eugen Gomringer, Nora Gomringer erwähnt bei der Lesung von Levin Westermann den Admirador des Gedichts in ihrer Kritik) Peri hypsous („Über das Erhabene“, Pseudo-Longinos), Statistischer Roman (Gert Zeising)

Autor*innen literarischer Werke:

Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Arno Geiger, David Wagner, Werner Liersch, Jorge Semprún, Johann Wolfgang von Goethe, Leonhard Hieronymi und Jörg Piringer (immer wieder nutzt die Jury Verweise zu vorherigen Texten)

Katja Petrowskaja, Emily Dickinson, Natascha Wodin

Autor*innen nicht literarischer Werke:

Paul Gerhardt, Albrecht Schöne, Matthias Claudius, Erich Fromm, Meister Eckhart, Otto Neurath, Ernst Schubert, Oswald Spengler (Wiederstein nutzt das Zitat “Müde legt der Europäer das Buch aus der Hand”), Walter Benjamin

Sonstiges:

Pop-Literatur, Landschaft mit Eremit (Bild von Carl Blechen), Jesus, Maria Sibylla Merian

 

Tag 4: Samstag, 20. Juni 2020

Filme & Serien:

Lindenstraße (mit Bezug auf Else Kling), Hunde wollt ihr ewig leben

Regisseur*innen:

David Lynch, Éric Rohmer

Literarische Quellen:

Die Wand (Marlen Haushofer), Malina (Ingeborg Bachmann)

Insa Wilke bezieht sich wieder auf das Kafka-Zitat “Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns”, Die Blendung (Elias Canetti), Die Strudlhofstiege (Heimito von Doderer), Mann im Zoo (David Garnett), Meßmers Reisen (Martin Walser)

Autor*innen literarischer Werke:

Dorothee Elmiger, Lydia Haider, Teresa Präauer

Bov Bjerg, Ephraim Kishon

Autor*innen nicht literarischer Werke:

Theodor W. Adorno,

Sonstiges:

Joseph Goebbels, Paul Klee, Nicolas Sarkozy, Urs Fischer

Marina Abramović

Wiener Aktionismus, Schwarze Romantik, Nouvelle Vague, Monty Python,

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