von Jasper Nicolaisen
„A room of one´s own“ – Ein Zimmer ganz für sich, so lautet eine alte, aber leider keineswegs überkommene Forderung feministischer Künstler*innen. Virginia Wolf brachte in ihrem Essay von 1929 die Notwendigkeit auf den Punkt, dass Frauen für ihre Arbeit als Künstlerinnen – hier: Autorinnen – eben auch die grundsätzlichen Bedingungen ungehinderter, ungestörter Betätigung brauchen, wie sie Männer damals wie heute für selbstverständlich nehmen. Dieses „eigene Zimmer“ steht natürlich auch stellvertretend für den „Freiraum“, den ein solcher physischer Rückzugsort erst ermöglicht. Muße, Stille, Sich-Versenken-Können, Eintauchen in den Flow, Gelegenheit zur Detailarbeit, zum Verbessern, Überarbeiten, eben Raum, Zeit und Gelegenheit etwas zu tun, das keinem unmittelbaren Zweck dient.
Ein solcher Platz, eine solche Tätigkeit gerät zwangsläufig in Konflikt mit den Erwartungen, die damals und allzu oft auch noch heute an Frauen gerichtet werden, nämlich die scheinbar zweckfreie Tätigkeit, die künstlerische Arbeit doch bitte abseits der täglichen Pflichten zu verrichten. Wenn alles erledigt ist, dann bitte gerne, schreibt, ihr Frauen, so viel ihr wollt, es kann ja auch was Schönes dabei rauskommen, und ein nettes Hobby hat noch keiner geschadet. Nur die Wohnung muss geputzt sein, der Einkauf gemacht, die Kinder versorgt und möglichst schon im Bett – und wenn eines aufwacht, dann bitte das Geschreibe unterbrechen, der Gatte muss sich ausruhen. Wer schon einmal hauptsächlich für die Sorgearbeit – so unser zeitgenössischer Begriff – verantwortlich war, weiß nur allzu gut: es hört nie auf, der Haushalt ist nie fertig und irgendein Kind wacht garantiert immer genau dann auf, wenn eine den Computer hochgefahren und die ersten Sätze getippt hat, wenn du denn vor lauter Müdigkeit überhaupt dazu kommst.
In meinem Fall zum Beispiel – und ich bin nicht mal eine Frau, sondern ein verpartnerter Mann, der zurzeit keiner Erwerbsarbeit nachgeht, sondern „nur“ einer freiberuflichen Tätigkeit, also noch relativ gut dran, im Vergleich mit den meisten Frauen zu Woolfs Zeit und auch heute noch – in meinem Fall tippe ich jetzt um kurz nach halb neun (abends) am Küchentisch, und mein Mann kommt rein und meckert, ich solle doch nicht immer seine Schlafhose waschen, die fehle ihm dann zur Nacht. Immerhin bringt er das größere Kind ins Bett. So kann ich schreiben, aber gleich, gegen neun, ruft jemand an, wegen meiner freiberuflichen Tätigkeit. Also tippe ich sehr schnell und achte erstmal wenig auf Schreibfehler. Meine Beiträge sind ohnehin immer legendär voll mit Schreibfehlern und Flüchtigkeitskommas. Ich habe oft keine Zeit, alles noch mal durchzulesen oder eine Nacht drüber zu schlafen.
Trotzdem schreibe ich – und nicht nur als Hobby. Für Geld, weil mir was wichtig ist, um mich auszudrücken, um an Diskussionen teilzunehmen, Zeitgenosse zu sein, um eine wichtige Seite meiner selbst zu erleben, aus Eitelkeit, for fun. Gut, dass das klappt.
Natürlich könnte ich viel mehr darum kämpfen, abends wirklich frei zu haben. Vielleicht sogar ganze Nachmittage. Tage! Wochenenden! Warum ich das nicht genug tue, also, das ist Stoff für eine Psychoanalyse oder wenigstens für einen viel längeren – ich traue mich gar nicht zu sagen – Essay, als ich ihn heute zwischen halb neun und neun schaffe. Kindheit, Konfliktverhalten, Selbstbild, man kennt es.
Natürlich könnte ich auch das, was mir im Leben am Wichtigsten ist, Schreiben, tatsächlich an erste Stelle stellen. Ich könnte mich scheiden lassen, die Kinder verlassen oder nur noch im Wechselmodell betreuen.
Tatsächlich liegt mir aber was an der Familie, auch wenn sie mich oft nervt. Das ist ja gerade die Falle, wie sie auch viele Frauen kennen. Die Sorgearbeit nervt, aber die Menschen, denen sie gilt, sind einem wichtig. Nicht immer sind diese Verhältnisse ausbeuterisch, voll Zwang, ein Gefängnis. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass mich die Familie auch als Autor weiterbringt. Sie verschafft mir Stoff, Stimmen, Dialoge, Figuren, die ich oft ziemlich eins zu eins weiterverwurste. Sie ist Hallraum, gibt mir Feedback, kritisiert und ermuntert mich. Sie gibt mir Sicherheit und schafft, bei aller Belastung, ein angstfreies Klima zum Schreiben. Was nützt mir alle Zeit der Welt, wenn ich von Ängsten und Neurosen geplagt am Schreibtisch sitze?
Ich kenne zu viele Kolleg:innen, die außer Schreiben nichts haben. Und die meisten Autor:innen rücken ja niemals in die finanziell und statusmäßig gut versorgten Ränge vor. Sie hangeln sich von Buch zu Buch, von Kleinverlag zu Kleinverlag, müssen immer wieder um Aufträge, Chancen und Wahrnehmung kämpfen. Das zehrt, wenn man irgendwann begreift, dass der Durchbruch nicht mehr kommt, dass man ewig ein:e Autor:in des Mittelfeldes bleiben wird. Wenn dann an das eigene Zimmer kein anderes anschließt, wird es schnell einsam, krank, von Süchten und Ängsten geplagt.
Manchmal habe ich sogar den Eindruck, die Familie, das Hickhack um die Sorgearbeit macht mich als Autor besser. Erstens habe ich weniger Ausreden. Ich kann es mir nicht leisten, auf Inspiration zu warten. Wenn Zeit ist, wird geschrieben. Ich schreibe prinzipiell anders als jemand, der alle Zeit der Welt zu haben glaubt. Ich blicke nicht zurück. Ich verliere mich nicht in Revisionen. Ich weiß: Texte entstehen in einer gegebenen Zeit. Sie müssen nicht perfekt sein, weil ich es mir nicht leisten kann, perfekte Texte abzuliefern. Sie dienen ihrem Zweck und fassen eine Kette von Gedanken, Gefühlen, Bildern so gut, wie ich es hier und heute abend (mir bleiben noch zehn Minuten bis neun) vermag. Wenn es nicht hinhaut, muss es der nächste Text richten. Ich erkenne auch immer wieder: weder die Leute, die mich drucken, noch die Leser:innen erwarten perfekte Texte. Gute Texte, engagierte Texte, Texte, die überhaupt da sind und fertig geworden sind, das ist mehr als genug.
So lange, bis die Zeit um ist, schreibe ich also. Zweitens muss ich mich immer wieder aufs Neue entscheiden, wie wichtig ich mich nehme, welche Rolle das Schreiben in meinem Leben einnehmen soll. Ich muss sagen: jetzt nicht. Heute Abend setze ich mich hin. Lasst mich in Ruhe. Das macht manchmal Verhandlungen nötig. Ohne Witz, ich kann bessere Figuren schreiben und ihre Konflikte schildern, weil es auch in meinem Leben nicht nur um mich geht.
Die Forderung nach dem eigenen Raum bleibt bestehen. Nicht nur, weil es vielen, vielen Frauen noch viel schwerer gemacht wird als mehr – von den vielen Vorteilen, die ich genieße, war hier noch kaum die Rede, angefangen von der warmen Küche und dem selbstverständlich funktionierenden Laptop (es wäre sonst auch noch ein zweiter und ein Handy da), bis zum nicht betrunkenen und gewalttätigen Ehemann. Auch für alle, die es so verhältnismäßig gut haben, wie ich, aus Solidarität und weil es ohne ein bisschen Ruhe eben doch nicht geht. Ich möchte (von 20:53 Uhr bis 21:01 Uhr) aber noch anmerken, dass ich die ergänzende Forderung nach der Möglichkeit, trotzdem und gleichzeitig in Beziehung zu sein, für ebenso wichtig halte.
Das Schreiben in absoluter Ruhe und Freiheit, die völlige Autonomie, das strahlende, eisige Genietum, das nur abseits der Welt gedeihen kann, ist auch ein fürchterliches Männerding. Allzu schnell wird daraus die Ausrede: ich kann jetzt nicht schreiben, ihr lasst mich ja nicht in Ruhe, ich kann mein großes Werk nicht vollenden, wenn ich mich allzu sehr auf dich einlasse, verstehe bitte, dass ich dich nicht unterstützen kann, ich bin ein wichtiger Künstler. Alles steckt darin, wenn der eigene Raum auf patriarchale Typen trifft, die maßlose Selbstüberschätzung der eigenen Kunst, die beschissene Ausrede für jedes schlechte Benehmen, weil man sich´s als Genie schuldig ist, und die ins ewige verlängerte Kindheit mit den Jungs beim Saufen und Frauenbelästigen, weil so eben das echte Künstlerleben ausschaut und man ja Inspiration braucht.
Autor:innen, die das eigene Werk etwas tiefer hängen (ohne es aufzugeben), die in Beziehung(en) sind – das muss keine klassische Familie sein, nicht hetero- oder homosexuell –, die gestresst und in Beschlag genommen sind, schreiben formal und inhaltlich anders, und ich behaupte: vielleicht nicht im absoluten Sinn besser, aber doch anders, als wir es so sattsam von den genialen Männern kennen, die außer der Großkunst nichts gebacken gekriegt haben.
Ich war gezwungen – von mir selbst gezwungen – einen kleinen Roman auf dem Handy zu schreiben, während mein zweites Kind im Tragebeutel vor meiner Brust hing, sonst war keine Zeit da. Dieses Buch ist notgedrungen kürzer, gedrängter, fetzenhafter, sicherlich unperfekter nach manchen Maßstäben, weniger geschliffen, mit weniger ausgefeilten inneren Bezügen versehen, als welche, die ich unter anderen Bedingungen geschrieben habe.
Punkt Neun. Schnell jetzt.
Aber es ist auch lebendiger, es geht neue Wege, es überrascht mich. Es ist vor allem inhaltlich und formal Ausdruck seiner Entstehungsbedingungen. So, wie wir erst heute lernen, Briefe, Tagebücher, Notizen und andere Literaturformen von Frauen neben die als „groß“ angesehenen Romane und Stücke von Männern zu stellen, gerade weil sie nicht so sind und den dort implizit aufgestellten Ansprüchen, neun Uhr zwo, nicht genügen, uns andere Einblicke, andere Welten, okay, das Telefon klingelt, ihr wisst, was ich meine, es muss beides sein. Vielleicht sprechen solche Bücher mehr zu Leuten, die unter ähnlichen Bedingungen leben.
P.S. am nächsten Tag, kleineres Kind schläft, größeres ist in der Schule, Elterntermin aber mal wieder verpasst, peinlich: Ich sehe die Nachteile eigentlich wieder mehr. Vor allem mein Selbstbild: das Schreiben in den Nischen des Alltags lässt mich das eigene, na ja, Werk seltsam gering schätzen, ich erzähle oft nicht davon und stapele eigentlich immer sehr tief. Mir fällt es schwer, mich als „Autor“ zu bezeichnen und ich lade ungern alle meine Online-Kontakte zur Winzlesung in der Kirche von Sackdoden oder so ein als wär´s die Nobelpreisverleihung. Twitter-Diskussionen über „Autorendinge“ scrolle ich schnell weiter: ich habe da nichts verloren, ich „revise“ nicht und habe keine „beats“ und wo soll ich bitte die „draft readers“ hernehmen, die mir sagen, wie die dritte und vierte Manuskriptfassung aussehen soll, also ehrlich.