In der Rubrik “Kulturkonsum” stellen wir einmal im Monat gemeinsam mit ausgewählten Beiträger*innen in Kurzrezensionen vor, was wir in den letzten Wochen gelesen, gehört, gespielt oder geschaut haben. Ein Versuch in den dichten Wald aus Literatur, Musik, Filmen, Serien und Spielen eine kleine Schneise aus Empfehlungen und Warnungen zu schlagen.
(Die Empfehlungen von Sebastian Restorff und Leonardo Chiaramonte gehen auf die Initiative des Literaturwissenschaftlers und Mediävisten Stefan Seeber von der Universität Freiburg zurück, der seine Studierenden bat, in Kurzrezensionen von Lektüre zu berichten, die nicht in erster Linie mit dem Studium zusammenhängt.)
Marie Isabel Matthews-Schlinzig (@whatisaletter)
Es ist ein Buch, das dich nicht loslässt. Das nachhallt in Kopf und Gefühl. Das du gleich noch einmal lesen möchtest, sobald du die Lektüre beendet hast: Bernardine Evaristos Girl, Woman, Other (Booker Prize, 2019).
Anhand der miteinander verwobenen Einzelgeschichten vornehmlich von Frauen of Colour entfaltet die Autorin ein eindrückliches Panorama weiblicher Existenz im Großbritannien des 20. und 21. Jahrhunderts. Alter, Herkunft, soziale Stellung und Lebensort der Figuren sind breit gestreut, reichen von der lesbischen Theaterautorin, die nach Jahren des kompromisslosen Arbeitens im Londoner Establishment ankommt, bis zur greisen Farmerin an der Grenze zu Schottland, deren Kinder sich der dunklen Hautfarbe vor allem des Vaters schämen.
Während die grundsätzliche Architektur des Buchs nicht neu ist, sind es die Sprache und Dichte der Inhalte, mit denen Evaristo erstere füllt, schon. Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung prägen den Alltag und das Verhalten ihrer Hauptfiguren. Die innerhalb dieses Rahmens behandelten Themen sind zu zahlreich, um sie alle aufzuführen. Neben sexueller und psychologischer Gewalt gehören die Suche nach der eigenen, eigentlichen Geschlechtsidentität, postnatale Depression, das Ringen um sozialen Aufstieg, das Dasein als Einwander:in sowie multiple, gesellschaftlich vermittelte Einhegungen weiblicher Identität dazu.
Manchmal quietscht die Prosa etwas unter der Last dieser Fülle, erscheinen Figuren eher als Sprachrohre von Information, denn als lebendige Charaktere. Das bleibt jedoch die Ausnahme. Unter anderem, weil Evaristos Darstellung nie schematisiert oder beschönigt. Keine:r ist frei von Eitelkeiten, Vorurteilen, Fehleinschätzungen. Nicht alle Unterschiede oder Brüche individueller Lebensgeschichten und -wirklichkeiten lassen sich überwinden.
Aber sie lassen sich erzählen, und das tut Evaristo meisterhaft in einer formal innovativen, lyrisch rhythmisierten Sprache: Ihre Sätze sind nicht durch Großschreibung und Punkt gekennzeichnet, sondern durch Zeileneinzug und -umbruch; mancher Satz zieht sich in Gedichtform über mehrere Zeilen. Bemerkungen am Absatzende dienen der Pointierung. In kurzen, aufeinanderfolgenden Absätzen wird so Zeit gerafft – oder gedehnt. Sprachliche Eigenheiten der Figuren (Akzent, historischer Sprachgebrauch etc.) webt die Autorin mit leichter Hand in den alles vereinenden Erzählton ein.
Diese Form orchestriert die Dringlichkeit und Emotionalität der verhandelten Inhalte. Das Private wird bei Evaristo immer wieder greifbar als das Politische – und umgekehrt. Girl, Woman, Other sind viele, viele Leser:innen zu wünschen. Bleibt zu hoffen, dass sich ein deutscher Verlag und ein:e Übersetzer:in (bzw. ein Übersetzer:innenteam) finden, die sich dieses großartigen Texts annehmen.
Simon Sahner (@samsonshirne)
In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass es im Moment eine ganze Reihe von Autorinnen aus Großbritannien und Irland gibt, die in etwas, das man als moderne Konversationsromane bezeichnen könnte, über das Alltagsleben von insbesondere jungen Frauen in ihren Zwanzigern und frühen Dreißigern schreiben. Vor wenigen Jahren war Sally Rooney damit eine große Sensation, inzwischen würde ich in die gleiche Reihe auch Olivia Sudjic (auf deren neuen Roman im Februar 2020 ich sehr gespannt bin), Naoise Dolan und Candice Carty-Williams einordnen. Insbesondere Dolans Exciting Times und Carty-Williams Queenie möchte ich heute vorstellen.
Dolan erzählt von der jungen Irin Ava, die in Hongkong an einer Schule den Kindern reicher Eltern Englisch beibringt. Sie lernt den englischen Banker Julian kennen und beginnt eine Affäre, die geprägt ist von gegenseitiger Abhängigkeit, Anziehung, Verachtung, aber auch von gegenseitigem Verständnis zweier Expats. Spannend wird der Roman jedoch erst als Edith, eine junge Hongkongerin, auftaucht und Ava auch mit ihr eine Affäre beginnt.
Carty-Williams Queenie lese ich gerade erst, würde ich aber auch schon hier aufnehmen. Weil ich glaube, dass hier gerade eine Art literarische Strömung entsteht, zu der auch dieser Roman gehört. Carty-Williams’ titelgebende Protagonistin Queenie ist eine junge Schwarze Britin, die in London lebt, sich gerade in einer Beziehungspause mit ihrem Freund Tom befindet und sich durch Job, Freundschaften, Affären und Wohnungen schlägt.
Das Interessante an diesen beiden Romanen – wie auch an Sally Rooneys und Olivia Sudjics – ist die Darstellung junger Menschen, vor allem Frauen, in ihren sozialen Gefügen, ihrem Beruf und ihrem Liebesleben insbesondere durch Dialoge. In allen diesen Roman wird permanent kommuniziert, sei es im direkten Gespräch oder im Messengerchat oder per Mail. Nicht nur dadurch sind diese Romane in ihrer Darstellung des Lebens von Millenials im mehr oder weniger akademischen Umfeld sehr nahe an der Realität. Gleichzeitig ist eines der großen Themen dieser Geschichten die Aushandlung von Macht und Sexualität. Geschrieben während einer Zeit, in der das Bewusstsein für dieses Thema in der Vordergrund getreten ist, sind die Texte damit auch die literarische Ausformung einer alltäglichen Auseinandersetzung mit Sex, Macht und Beziehung unter dem Einfluss gesellschaftlicher Debatten, ohne diese direkt zu benennen.
Wer also Sally Rooneys Romane Normal People und Conversations with Friends mochte, der*die ist mit Naoise Dolan Exciting Times und Candice Carty-Williams Queenie gut bedient.
Sebastian Restorff
Zur Abwechslung habe ich mich jetzt, da mehr Zeit als genug ist, um der Routine des Germanistik-Studiums zu entgehen, an ein brandneues Buch gewagt: Auf Erden sind wir kurz grandios, ein Roman von Ocean Vuong. Der Autor hat bisher Lyrik verfasst, es handelt sich hier folglich um sein erstes Prosawerk. Allerdings – und an dieser Stelle möchte ich die These einer Dozentin aufgreifen, dass „Lyrik die komprimierteste Form von Sprache ist“ – liest sich auch sein Debütroman wie ein fast dreihundertseitiges Gedicht. Jeder Satz hat Bedeutung – jeder Satz regt zum Nachdenken an. Eben wie ein gutes Gedicht sein sollte.
Der Inhalt besteht aus Briefen, die der Erzähler seiner Mutter schreibt. Dabei vereint er fragmentarisch in Gedankenfetzen und Erinnerungssequenzen seine eigene mit der tragischen Lebensgeschichte seiner vietnamesischen Familie, die den Vietnamkrieg überlebte und dann nach Amerika floh. So steht auf der einen Seite seine alles andere als leichte Beziehung zur kriegstraumatisierten Mutter, die tagtäglich im Nagelstudio bis zum Umfallen arbeiten muss, im Vordergrund. Dadurch erhält man Einblicke in ein Schicksal, welches die meisten vietnamesischen Immigranten teilen: Ein neuer Einwanderer wird innerhalb von zwei Jahren begreifen, dass das Nagelstudio letztlich ein Ort ist, wo Träume zu dem Wissen verkalken, was es bedeutet, in amerikanischen Leibern – mit oder ohne Staatsbürgerschaft – wach zu sein: schmerzhaft, toxisch, unterbezahlt (S. 92). Ebenso geht es um eine innige, schonungslos und daher besonders nachfühlbar beschriebene Liebesbeziehung des Erzählers zu einem amerikanischen Jungen, der seine Homosexualität zuerst nicht mit seiner amerikanischen Identität vereinbaren kann; um jugendlichen Drogenmissbrauch in dem Armenviertel Connecticuts, wo der Erzähler mit Mutter und Großmutter aufwuchs; um die alltägliche Präsenz von Gewalt. Und um den Versuch des Erzählers, sich selbst zwischen alldem zu finden.
Der Roman hat mich durch Vuongs ganz eigene Sprache und seine ganz eigene Traurigkeit in den Bann gezogen.
Leonardo Chiaramonte
Robert Gwisdek hat mit dem Unsichtbaren Apfel keinen gewöhnlichen Coming-of-Age Roman geschrieben. Zwar lässt er sich diesem Genre auf der oberflächlichen Ebene zu ordnen, doch liegt der Unterschied darin, dass der Protagonist – Igor – sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, sich mit sich selbst beschäftigen muss, damit sein Kopf nicht explodiert. Der Roman beschreibt nur ausschnitthaft das reale Leben. Diese Ausschnitte zeigen Schicksalsschläge, aber auch Igors Veranlagung, nicht mit der Welt klar zu kommen. Er stellt fragen an das Universum, doch dieses antwortet ihm leider nicht. Er merkt, dass alle „Erwachsenen“ nicht ruhig ihr Leben leben, weil ihnen die Antworten mit dem Alter in den Schoß gefallen sind, sondern weil sie sich mit den stummen Fragen abgefunden haben und nicht mehr neugierig sind. Als Igor das erkennt, rastet er aus und begibt sich auf eine Reise in sein Innerstes, um mit sich und dem Universum Frieden zu schließen.
Gwisdeks Schreibstil ist ungewöhnlich, abgehackt und die Sätze scheinen manchmal keinen Sinn zu ergeben, nur wer weiterliest und es schafft die in den Raum gestellten Aussagen in Zusammenhang zu stellen, der wird aus dem Roman etwas gewinnen. Gwisdek ist unter seinem Musiker-Alias „Käptn Peng“ für seine psychedelisch angehauchten Texte bekannt, die sich in dem Roman ebenfalls widerspiegeln. Diese erfrischend ungewöhnliche Art zu schreiben zieht einen in den Bann und ist wichtig, um in diese Welt aus Realitätsverzerrung und Illusion einzutauchen.