von Angelika Schoder
Ich mag mein Sofa nicht mehr. Dabei schien es absolut perfekt zu sein, als ich es vor ein paar Jahren entdeckte. Es stammt aus dem Lager für B-Waren eines sehr teuren Hamburger Möbelhauses, das üblicherweise nur Marken führt, von denen man als normaler Mensch noch nie gehört hat und deren Möbel durchweg vier- oder fünfstellige Beträge kosten. Ich konnte und wollte natürlich nie so viel Geld für meine Einrichtung ausgeben, aber eine Zeit lang ging ich ab und an mit meinem besten Freund in dieses Möbelhaus, um die schrill eingerichteten Wohnbeispiele zu bestaunen, die immer ein bisschen zu sehr nach Prunk-Designer Harald Glööckler oder Glitzer-Ikone Philipp Plein aussahen. Mein bester Freund wollte sich hier für seine neuen Wohnung inspirieren lassen. Ich kam eigentlich nur mit, um ihm moralischen Beistand zu leisten und ihn zu mahnen, dass man für einen Esstisch wirklich kein Monatsgehalt investieren sollte.
Bei einem solchen Möbelhausbesuch entdeckte ich im Nebengebäude mit den B-Waren irgendwann das besagte Sofa, mit dem ich heute nicht mehr glücklich bin. Eigentlich wollte ich damals gar nichts kaufen. Aber zwischen wild zusammengewürfelten Möbelexponaten zweiter Wahl und Einrichtungsgegenständen mit kleinen Macken fand ich es: das vermeintlich perfekte Sofa! Es war winzig, als hätte man ein ernstzunehmendes Möbelstück geschrumpft. Das überzeugte mich sofort, denn ich hatte überhaupt keinen Platz in meiner kleinen Wohnung und deshalb den Gedanken an ein Sofa eigentlich schon längst aufgegeben. Der Preis war, aus meiner damaligen Perspektive, zwar happig, denn auch wenn das Sofa im Lager für B-Waren angeboten wurde, war es noch immer die B-Ware eines absurd teuren Möbelhauses. Und obwohl es in Schrumpfoptik daher kam, kostete es eben dennoch so viel wie ein ausgewachsenes Exemplar.
Aber es half nichts: Sofa first, Bedenken second, wie mir Finanzminister Christian Lindner sicher zugestimmt hätte, um mich dazu zu bewegen, die Wirtschaft anzukurbeln. Wenige Tage später stand das Sofa dann in meiner Wohnung, am Stück geliefert. Diese Tatsache bestätigte mich damals nur noch mehr in meiner Überzeugung, mich genau richtig entschieden zu haben. Das Sofa war das erste Möbel in meiner Wohnung, das keine Montage erforderte. So müssen sich reiche Leute fühlen, wenn sie Möbel kaufen, dachte ich damals.
Meine Begeisterung hielt nur kurz. Im täglichen Einsatz erwies sich das Sofa als echte Diva. Die Sitzfläche war schnell durchgesessen, obwohl ich kaum selbst darauf saß und nur selten Besuch darauf Platz nahm. Zudem wirkte es instabil, sobald sich jemand darauf nieder ließ. Theoretisch für zwei Personen gedacht, achtete ich stets darauf, dass sich immer nur zwei „leichte“ Personen hier platzierten. Erschien mir jemand eher schwer, erhielt diese Person das Exklusivrecht für das Sofa. Vor meinem inneren Auge sah ich regelmäßig das Möbel in sich zusammenfallen, jeden Moment rechnete ich mit dem Schlimmsten. Um dies zu verhindern, diente das Sofa irgendwann nur noch als Ablage für getragene Kleidung, die zu sauber ist für die Wäsche aber zu benutzt, um sie wieder in den Schrank zu hängen. Die meisten Menschen haben dafür den legendären „Klamotten-Stuhl“, ich habe dieses Sofa.
Das soll sich nun ändern, das ungeliebte Sofa kommt weg. Statt dessen wird es durch ein anders ersetzt, das ähnlich klein, aber hoffentlich deutlich stabiler sein wird. Bei der Suche nach einem Ersatz begann ich nach günstigen Möbeln zu suchen und war irgendwann in die bunte Warenwelt der der Online-Möbelhändler so tief eingesaugt worden, dass ich nicht mehr wusste, ob ich nur noch ein Sofa kaufen oder am liebsten gleich meine ganze Wohnungseinrichtung austauschen wollte. Ich nahm all meine Beherrschung zusammen und entschied mich nur für ein neues Sofa. Es war im Angebot, dank Newsletter-Abo gab es nochmal Rabatt und ich fühlte mich, als hätte ich das endgültige Schnäppchen gemacht. Dann fiel mir ein, dass das neue Sofa jetzt exakt genau so viel kostet wie das ungeliebte, das es ersetzen soll. Und dessen Preis erschien mir damals ja wie gesagt ganz schön teuer. Mit einem Gedanken an Girl Math wischte ich diese Bedenken beiseite.
Mehrere hundert Euro verdient – dank Girl Math
Beim Konzept des relativ misogynen Begriffs Girl Math geht es darum, sich Dinge schön zu rechnen. Der Begriff taucht seit einigen Monaten in diversen Social-Media-Netzwerken auf und besonders Menschen aus der Generation Z, also die zwischen 1997 und 2012 Geborenen, berichten etwa auf TikTok oder in Instagram Reels, wie sie sich dank Girl Math ihre Finanzen schön rechnen. Ein Beispiel: Ich kaufe etwas, das um einen bestimmten Betrag reduziert ist. Dann habe ich der Girl-Math-Logik nach ein Plus gemacht in Höhe des reduzierten Betrages. Oder mein Lieblingsbeispiel: Ich entscheide mich dafür, etwas nicht zu kaufen. Dann habe ich damit quasi einen Betrag in dieser Höhe verdient, den ich dann für etwas anderes ausgeben kann. Nach dieser Logik könnte ich mir alles kaufen – solange es reduziert ist, mache ich immer Plus. Oder ich könnte im Prinzip Geld ansparen, indem ich mir Sachen nicht kaufe.
Zum Beispiel habe ich jetzt in diesem Moment genau 1.199 Euro Plus gemacht, weil ich mir kein neues iPhone 15 Pro gekauft habe. Zusätzlich habe ich gerade außerdem weitere 219 Euro dazu verdient, weil ich mir diese Dr. Martens Schuhe nicht gekauft habe, die mir immer bei Instagram als Werbung angezeigt werden. Das könnte immer so weiter gehen. Auch bei meinem Sofakauf habe ich, dank Girl Math, mehrere hundert Euro verdient, weil es reduziert war und ich noch einen Rabattcode nutzen konnte. Außerdem habe ich über 1.000 Euro plus gemacht, weil ich nicht dem Impuls nachgegeben habe, mir auch noch einen neuen Küchentisch mit passenden Stühlen zu kaufen. Millennials, also die Vorgänger der Gen Z, können sich hier wirklich etwas abschauen; Girl Math funktioniert Generationen-übergreifend.
Aber wohin nun mit dem ganzen Geld, das ich dank Girl Math zusammengespart habe? Noch vor ein paar Jahren hätte ich mir das nicht zugetraut, aber: Ich habe mich dazu entschieden, zum ersten Mal in meinem Leben Kunst zu kaufen. In meinem gleichaltrigen Millennial-Umfeld ist Kunstkauf schon länger ein Thema. Es geht dabei natürlich nicht darum, bei einer Auktion irgend ein wertvolles Werk eines weltberühmten Künstlers zu ersteigern. Auch lässt man sich nicht in einer Schickimicki Galerie oder bei einer exklusiven Kunstmesse irgend eine knallbunte Geschmacklosigkeit andrehen. Es ist sicher ein interessantes soziales Umfeld, in dem so etwas vorkommt – aber es ist nicht meines.
Meine Freunde und Bekannten sind nicht reich, sie haben keine Jobs, die ein finanziell extravagantes Leben ermöglichen. Das Geld reicht aber dafür, sich schöne Dinge zu kaufen, die man nicht unbedingt zum Leben braucht. Dazu gehört auch Kunst, zumindest die Art von Kunst, die als bezahlbar gilt. Manche Menschen in meinem Umfeld haben Kunst gekauft, die so viel kostet wie ein Restaurantbesuch. Andere haben so viel ausgegeben, dass sie sich von dem Geld auch einen ganzen Urlaub hätten leisten können. Fast immer wird bei der Erzählung vom Kunstkauf erwähnt, man habe vor allem deshalb ein Werk erworben, weil man es schön finde – und weil man die Künstlerin oder den Künstler kenne und sich freue, die Person mit dem Kauf unterstützen zu können.
Diese Überlegung spielte auch für meine Eltern eine Rolle, obwohl sie eigentlich nicht die typischen Kunstkäufer sind. Ein großer Wunsch meines Vaters war es immer, ein Werk einer bestimmten Künstlerin aus unserer Kleinstadt zu besitzen. Die Künstlerin ist nur regional bekannt und es war klar, dass ein Bild von ihr kein Investment sein würde, bei dem man irgendwann mit einer Wertsteigerung rechnen könnte. Es ging rein um den persönlichen Wunsch, aus regionaler Verbundenheit heraus ein Werk dieser Künstlerin zu Hause zu haben. Nach vielen Jahren konnten sich meine Eltern den Wunsch erfüllen, als die Künstlerin neben ihren üblichen großen und relativ teuren Werken auch günstigere Arbeiten anbot.
Meine Mutter nutzte die Chance und schenkte meinem Vater zwei kleine Radierungen, jede kostete etwa 100 Mark. Irgendwann erweiterten meine Eltern ihre Sammlung zeitgenössischer Kunst um ein drittes Werk, ein Gemälde eines anderen regionalen Künstlers. Das kostete etwa 200 Euro und meine Eltern überlegten auch hier sehr lange, ob sie sich das Bild kaufen sollten. Es gibt sicher Menschen, die das belächeln würden, sich so lange Gedanken über den Kauf von etwas zu machen, das gerade so viel kostet wie für andere ein Restaurantbesuch oder ein neues Kleidungsstück. Fakt ist aber, dass 100 Mark oder 200 Euro für einige Menschen doch viel Geld ist. Und den meisten Menschen würde, auch wenn sie das Geld einfach so ausgeben könnten, wohl nicht als erstes der Gedanke kommen, sich Kunst zu kaufen. Dann doch lieber das zehnte Paar Schuhe. Das erscheint auch irgendwie unverbindlicher als Kunst, denn wenn einem die Schuhe nicht mehr gefallen, kann man sie einfach wieder loswerden. Kunst ist kein Konsumgut, das man einfach so kauft, weil man es spontan schön findet – oder doch?
Doch lieber das zehnte Paar Schuhe?
Lange wurde der Kunstkauf nur für sogenannte Besserverdienende beworben, etwa in einschlägigen Publikationen, die sich ohnehin nur an eine finanziell gehobene Klientel richten. Es gab zwar in den letzten Jahren immer wieder Start-Ups und Initiativen, die versuchten den Kunstmarkt zu „demokratisieren“ und mögliche neue Käuferschichten zu erschließen. Wirklich Bewegung in die Angelegenheit sollte dann aber schließlich der NFT-Hype ab 2021 bringen – so hofften zumindest einige im Kunsthandel. Sogar das eine oder andere Museum wollte hier mitmischen und Einnahmen durch den Verkauf passender non-fungible tokens zu ihren Sammlungsbeständen generieren. Mit NFTs sollten wirklich alle möglichen Menschen zu Kunst-Investoren und Sammlern werden, am besten nicht nur um der Kunst ihrer selbst willen, sondern weil eine Wertsteigerung des Investments in Aussicht gestellt wurde. Auch eine Person aus meinem privaten Umfeld ließ sich von den Versprechungen des NFT-Hypes überzeugen und erstand, obwohl sie mit Cryptowährungen, Blockchain und Co. sonst nicht viel tu tun hatte, ein NFT von „The Kiss“. Pünktlich zum Valentinstag 2022 hatte das Belvedere Museum in Wien für diese Aktion 10.000 NFTs angeboten, jedes gekoppelt an einen virtuellen Teil des Gemäldes „Der Kuss“ von Gustav Klimt. Ein NFT konnte damals für 0,65 Ethereum erworben werden, zu dem Zeitpunkt etwa 1.850,- Euro.
Neugierig geworden durch einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen zur „The Kiss“-Aktion ließ sich meine Bekannte letztendlich dazu verleiten, eine nicht unerhebliche Summe in Kunst zu investieren – oder so ähnlich. Ich weiß, dass sie heute nicht mehr sonderlich überzeugt von dieser Investition ist. Eine Wertsteigerung konnte sie nicht verzeichnen; ihr NFT ist letztendlich der digitale Bildausschnitt #05158, ein buntes Kästchen aus Pixeln, das sie sich ausdrucken könnte, wenn ihr danach ist. Wie sich letztendlich herausstellte, waren nicht sehr viele Menschen dem Beispiel meiner Bekannten gefolgt. Von 10.000 „The Kiss“ NFTs hat das Belvedere Museum nur einen Bruchteil verkauft.
Auf der Plattform Open Sea könnte man ein „The Kiss“ NFT aktuell ab 0,299 Ethereum kaufen, das wären zum jetzigen Zeitpunkt etwa 619,- US-Dollar, plus Gebühren. Wenn also schon keine Wertsteigerung, dann war der Kauf des NFT immerhin eine Unterstützung für das Museum – so versucht meine Bekannte es sich zumindest noch schönzureden. Leider hat das Belvedere Museum bisher keine Zahlen veröffentlicht, welche Kosten mit der Aktion und der Werbekampagne dafür verbunden waren. Reichten die NFT-Verkäufe, um diese Ausgaben des Museums wieder aufzufangen? Öffentlich wird man das wahrscheinlich nicht erfahren. Ich gebe zu, bei meiner Überlegung, ob ich mir nun ein Kunstwerk kaufen soll, spielte der Gedanke an das „The Kiss“ NFT meiner Bekannten eine Rolle. Solange ich nicht auch ein NFT kaufen würde, hätte ich im Vergleich auf jeden Fall deutlich weniger zu verlieren.
Wenn man Plus macht, kann man schließlich nicht nein sagen.
Tatsächlich hatte ich schon länger über die Werke einer bestimmten Künstlerin nachgedacht. Ihre Bilder sah ich zum ersten mal in einer Ausstellung vor ein paar Monaten – und war direkt begeistert. Auf ihrer Website bot sie einige ihrer Werke zum Verkauf an, Preis auf Anfrage. Wochenlang besuchte ich die Website der Künstlerin immer wieder und traute mich nicht nach dem Preis des Werkes zu fragen, das mir am besten gefiel. Was, wenn es zu teuer war? Sagt man dann: „Oh, das ist zu teuer für mich, dann nicht.“ Fängt man an zu handeln und sagt: „Na ja, für die Hälfte würde ich’s nehmen. Deal?“ Muss man einfach den genannten Preis akzeptieren, weil alles andere unverschämt ist?
Mich überforderten die Möglichkeiten der Kommunikation und ich traute mich deshalb lange nicht, die Künstlerin anzuschreiben. Irgendwann tat ich es doch und fragte per E-Mail nach dem Preis meines Lieblingsbildes. Die Antwort der Künstlerin kam am nächsten Tag und war sehr freundlich, sie bot mir einen Nachlass mit Atelier-Rabatt. Der Preis war für mich eigentlich zu hoch, ich bat um Bedenkzeit. Danach sprach ich mit meiner Familie. Die Antwort war meistens: „Wenn du es schön findest, kauf es.“ Mein bester Freund hatte allerdings nur Fragezeichen in den Augen, als ich ihm „mein Bild“ auf der Website der Künstlerin zeigte.
Die Kunstwerke in seinem Haushalt stammen überwiegend aus dem überteuerten Möbelhaus und es ist ihm herzlich egal, dass die Bilder in seiner Wohnung so auch in hunderten anderen Wohnungen hängen. Statt für Kunst würde er sein Geld jederzeit eher für ein paar Restaurantbesuche ausgeben. Er war der einzige in meinem Umfeld, der beim Thema Kunstkauf abgewunken hatte. Dann dachte ich an das ursprünglich relativ teure „The Kiss“ NFT meiner Bekannten. Wenn ich den Preis für das von mir angefragte Kunstwerk mit ihrer Investition vergleiche, mache ich mit Girl Math ja ordentlich Plus. Ich habe der Künstlerin also geschrieben, dass ich ihr Werk kaufe. Wenn man Plus macht, kann man schließlich nicht nein sagen.
Beitragsbild von Tarik Haiga