Lesen & die Liebe zu lausigem Wetter

von Gerrit Wustmann

Samstag, 22. Mai 2021. Das Pfingstwochenende. Dreizehn Grad im Kölner Umland, gefühlt eher zehn oder weniger. Der Himmel ist grau, der Tag dunkel, es ist stürmisch, der Wind rauscht durch die grüne Weide im Garten, die Tauben klammern sich an den Ästen fest und blicken grumpy. Ebenso wie die wenigen Menschen, die mir beim vormittäglichen Waldspaziergang begegnet sind. Sie hatten auf sonnige Feiertage gehofft. Sie schimpfen übers Wetter. Die Luft riecht nach Regen.

Meine Laune könnte kaum besser sein. Absolutes Wohlfühlwetter. Und die leise Hoffnung, dass der Hitzesommer zur Abwechslung mal ausbleibt, wofür sicher auch die Weide dankbar wäre. Noch ist sie alt und kräftig, störrisch. Die Elstern haben ein Nest, das sie mindestens alle zwei Tage lautstark gegen die Krähen verteidigen. Die meisten anderen Bäume in der Nähe, die Bäume mit dünneren Stämmen, haben die letzten Sommer nicht überlebt, mussten gefällt werden. Der Balkon ist seither nicht mehr so schattig und ich sitze seltener draußen.

Zum ersten Kaffee am Morgen las ich die letzten Kapitel eines Romans von Ed McBain (‚Vanishing Ladies‘, 1957 unter dem Pseudonym Richard Marsden erschienen). Mir fällt kein Autor ein, der bessere Dialoge geschrieben hat. Das nächste Buch auf dem Stapel ist eine Sammlung mit Kurzgeschichten von Čechov, die vorgestern per Post aus Hamburg kam. Meine beste Freundin hat mich mal wieder mit guter Literatur versorgt: „Man sagte, auf der Strandpromenade sei ein neues Gesicht aufgetaucht“. Er hat mich schon beim ersten Satz. Diese Leichtigkeit. Diese wenigen Worte, in denen ganze Romane stecken. Später werde ich noch ein wenig im neuen Lyrikband von Julia Mantel stöbern (‚Wenn du eigentlich denkst, die Karibik steht dir zu‘, edition faust).

Ich koche noch einen Kaffee. Setze mich aufs Sofa, Blick aus dem Fenster, Blick ins Buch, die Finger zwischen den Seiten, der Geruch von Kaffee und Papier, die angenehme Kühle auskosten – natürlich bleibt die Heizung aus -, die Ruhe. Genau diese Samstage bei genau diesem Wetter liebte ich schon als Kind: Vormittags der Spaziergang mit dem Hund durch die Felder, nachmittags mit Büchern vor den hohen Fenstern, die der graue Himmel ausfüllte (wenn er grell und blau und sonnig war zog ich die Lamellen vor), direkt unterm Dach, die Vorfreude auf die Nacht, denn nie konnte ich besser schlafen, als wenn der Wind durch die Dachbalken heulte und der Regen auf das Dach direkt über mir trommelte.

Daran dachte ich kürzlich, als Svenja Reiner in ihrer Podcast-Kolumne über die ‚Drinnies‘ schrieb: „Ich möchte weder jemanden im Hausflur grüßen noch anderen Spaziergänger*innen einen guten Tag wünschen.“ Beides blieb mir vorhin nicht erspart, auch nicht der Nachbar, der direkt zu einem kleinen Plausch loslegte. Ich mag meine Nachbarn, solange es mir gelingt die Kommunikation knapp zu halten. Smalltalk steht ganz weit oben in meiner Top 10 der Dinge, die ich als Verschwendung wertvoller Lebenszeit empfinde. Ebenso wie ziellose Sonne-Strand-Meer-Urlaube (Kindheitstrauma!) und Dinge, die man tut, weil sie halt getan werden müssen, und die einen nur lästigerweise vom Lesen abhalten. Ich sagte das schon: Das Leben ist leider zu kurz für all die Bücher, die man gerne lesen möchte. Also muss man sich ranhalten. Und jede Zeile genießen (deswegen auch in der Top 10: Schlechte Bücher. Schlechte Bücher sind unhöfliche Bücher.).

Auch deshalb koste ich Drinnie-Zeit aus. Die Zeit, in der ich mit niemanden sprechen muss, die Stille genießen kann. Wobei mir gerade heute wieder auffällt: Ich bin furchtbar geräuschempfindlich, aber nur in Bezug auf bestimmte Geräusche. Der Wind rauscht angenehm, die Vögel höre ich entweder bewusst oder ich blende sie aus, und wenn Nachts der Igel durch den Garten schnüffelt und schmatzt, wenn er etwas Fressbares gefunden hat, freue ich mich mit ihm. Nein, es ist eine bestimmte Art von Geräuschen, die mich bisweilen in den Wahnsinn treibt: Geräusche von Menschen. Die Party in der Nachbarschaft. Die Männchen unserer wenig beneidenswerten Gattung, die pünktlich zum ersten Sonnenstrahl ihr neustes Baumarktspielzeug nicht bloß erproben, sondern offensiv der Nachbarschaft demonstrieren. Es ist ein allfrühjährlicher Wettbewerb, den zuverlässig der Lauteste gewinnt. Oder der Teenie aus dem Haus gegenüber, dessen Tageshöhepunkt die zehn Sekunden sind, in denen er vorm Parken den Motor seiner Karre nochmal so richtig aufheulen lässt. Und klingelnde Handys, natürlich. Als wäre die Stumm-Funktion nur zum Spaß da.

[Falls mir jetzt jemand einen lukrativen Werbevertrag für Noise-Cancelling-Kopfhörer antragen möchte: Bin dabei!]

Jetzt aber: Ruhe. Buch. Julia Mantel, deren Gedichte ich lese, seit ihr zweiter Band „dreh mich nicht um“ 2011 im leider kurzlebigen Fixpoetry Verlag erschienen ist. Schlage es auf, und das erste, was ich sehe, ist eine kleine Hommage an eins meiner Lieblingsgedichte von Thomas Brasch:

streich mir das haar

aus der stirn

ich habe bretter

vorm kopf, die

die welt bedeuten

berühre mich dort

wo ich nie

gewesen bin.

Kürzlich las ich eine Lyrikanthologie, in der sich gefühlt jedes zweite Gedicht um Ländliches drehte, um Dörfer und Dorfkneipen, um Blumen, die Sonne, leider oft um wenig mehr. Don’t get me wrong: Ich mag das Ländliche, ohne Waldspaziergänge würde ich verdursten. Aber wenn Gedichte kaum mehr sind als Naturbetrachtungen, dann werde ich stutzig. Das kann sprachlich noch so gut gemacht sein, so viele Leipziger Buchpreise gibt es nicht (zum Glück!). Man muss nur ein Gedicht von Julia Mantel lesen, und schon ist die Provinz wieder aus der Lyrik vertrieben, hochkant.

Leiser Humor, grelles Lachen, knallige Nächte und leise Melancholie, sensibles Sprachspiel und die Androhung von Kalauern liegen hier nah beieinander, Julia Mantel webt Popkultur und Trash ebenso selbstverständlich in ihre Verse wie die Verbeugung vor großen lyrischen Vorbildern, und wer ihre Texte liest, merkt umso schmerzlicher, wie bieder Vieles in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik geworden ist. Mantel hingegen hebt den Teppich und kehrt den Dreck hervor, die sozialen Verwerfungen, sie macht keinen Hehl daraus, dass Lyrik oft Hungerkunst ist: mein haus, mein auto, mein aus. / nichts ist im lot. Und: in letzter zeit bin ich nicht mehr / so komplett top-informiert / literatur da wird mir übel ey / und bei den arztromanen sowieso. 

Ich lese da die einst hitzig diskutierten Schreibschulenarztsohnundtocherromane mit, aber vielleicht ist das ganz anders gemeint. Jedenfalls: Das sind Gedichte, die etwas von mir fordern. Meine ganze Aufmerksamkeit. Der Tag verschwindet, das Wetter, das Naturprosagedicht von eben verschwindet, es sind nur noch die Gedichte da, und leider habe ich das Buch wieder viel zu schnell durch, ich muss es nochmal lesen, denn erfahrungsgemäß wird es ein paar Jahre dauern, bis das nächste kommt. 

Irgendwann blicke ich auf und denke: Es wird schon dunkel. Aber nein, es ist erst 16 Uhr. Das ist der Himmel, der Regen. Ein Maitag, der sich wie ein Herbsttag anfühlt. Ich freue mich, dass er noch ein paar Stunden dauert. Morgen soll es sonnig werden. Aber bis morgen ist es noch eine Weile. Ich schalte vorsorglich das  Telefon ab. Man weiß ja nie.

Photo by Glenn Carstens-Peters on Unsplash

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