von Şeyda Kurt
Nach dem Terroranschlag in Hanau kann ich mich tagelang nicht überwinden, ein Buch aufzuschlagen. Manchmal sitze ich auf meinem Sofa. Mein Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand und ich starren uns still und vorwurfsvoll an. Mir fehlt die Kraft, Verknüpfungen zwischen Buchstaben herzustellen. Mir fehlt die Kraft, Seite für Seite daran zu glauben, dass Ereignisse in der Welt in einer sinnhaften Erzählung gebündelt werden können. Wie soll ich mich als Lesende darauf verlassen können, Teil von etwas zu sein, das über mich hinausgeht, Teil einer Geschichtserzählung, wenn ich mich in tausend Teile zerschlagen fühle? Und dann ist da die Angst vor dem Verrat. Darf ich mich in andere Realitäten flüchten, während die Realität von Hanau sich wie ein Schleier aus Tod und Leid auf das Leben vieler Menschen legt?
Doch ganz allein mit meinen Gedanken will ich nicht sein. Also höre ich Musik, das funktioniert noch am besten, wenn ich so taub bin. Es sind harmlose, italienische Balladen und Pop-Songs, darunter Un anno d’amore (zu Deutsch: Ein Jahr der Liebe) von Mina, ein Klassiker aus dem Jahre 1964. Im Refrain heißt es:
Ricorderai
I tuoi giorni felici
Ricorderai
Tutti quanti i miei baci
Also: Erinnere dich an deine glücklichen Tage, erinnere dich an all meine Küsse. Na gut, denke ich, und versuche mich daran zu erinnern, dass mein Körper, der geht und spricht, tatsächlich lebendig ist, im Stande, Zärtlichkeit zu erfahren. Irgendwann, ich glaube am vierten Tag, steigt mir das Ganze jedoch zu Kopf. Ich stehe an der Bushaltestelle und singe inbrünstig Ricorderaaaaai und fühle mich verlassen, auch im romantischen Sinne, obwohl ich nicht verlassen wurde und romantisch bin ich schon gar nicht. Also setze ich dem ein Ende und beginne anatolische Volkslieder zu hören, Ağlama yar, ağlama anam heißt eins auf Türkisch, in deutscher Übersetzung: Weine nicht, Geliebte:r, weine nicht, Mutter. Dabei muss ich ständig an meine Mutter denken, die nach dem Anschlag in Hanau am Telefon weinte, und da packt mich das Bedürfnis mich mit dem Gesicht voran auf den Potsdamer Platz fallen und von Tourist:innen niedertrampeln zu lassen. Schließlich lass ich’s mit der Musik.
Einige Tage später, seit dem Anschlag ist mehr als eine Woche vergangen, liege ich abends im Bett. Meine Augen fixieren einen dunkelblauen Buchumschlag, der unter einer Schlafmaske und Tablettenpackungen hervorblitzt. Tu es jetzt, sag ich mir, trau dich. Ich greife zu. Mein Pech, es ist die Bibel. Ich schlage das Buch an einer zufälligen Stelle auf: Seite 619, 83. Psalm, Gebet um Beistand wider die Feinde Israels. Ich lese diese Zeilen:
„1. Ein Psalmlied Asaphs. 2. Gott, schweige doch nicht also und sei doch nicht so still; Gott, halt doch nicht so inne. 3. Denn siehe, deine Feinde toben, und die dich hassen, richten den Kopf auf. 4. Sie machen listige Anschläge wider dein Volk und ratschlagen wider deine Verborgenen […]“
Ich lache irritiert auf. Was für ein Zufall. Was fange ich nun mit ihm an? Ich würde ihn gerne für diesen Text in eine logische Erzählung eingliedern, mit einer Pointe glänzen, damit Sie als Lesende und ich als Schreibende uns mit einem gesättigten Gefühl von diesen Zeilen verabschieden können, und ich Ihnen vielleicht doch noch ein schönes Buch empfehle. Aber ich bin ratlos, weil dieser sogenannte Gott nach Hanau schweigt. Weil so viele Menschen schweigen. Und mit ihnen die Bücher.
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