Eine Kolumne von Dana Buchzik
Diese Zeit potenziert alle Probleme, alle Missstände, ob im Gesundheitswesen, in der Kinderbetreuung, in der politischen Kommunikation oder in der eigenen Beziehung. Wir lernen vieles, was wir nie wissen wollten, und manches macht uns schlichtweg fassungslos. Der Literaturbetrieb präsentiert aktuell ein weiteres Mal die Arroganz einer selbsterklärten Elite, die sich gescheitertes Unternehmertum und verschlafene Digitalstrategie nicht eingestehen will, sondern lieber Amazon als Bösewicht deklariert, der sich anmaßt, datengestützt zu behaupten, dass Buchkäufe aktuell nicht das dringlichste Bedürfnis der deutschen Bevölkerung darstellen. Feuilletonisten erinnern Konsumenten an ihre quasi-moralische Pflicht, Indie-Buchläden zu unterstützen, die jetzt in die Knie gehen, weil sie eben nur zu Schuljahresbeginn und zu Weihnachten mehr als zehn Kunden am Tag gesehen haben. Der Vizepräsident des PEN-Zentrums sieht durch geschlossene Buchhandlungen die Demokratie gefährdet, weil der „Zugang zu Büchern und damit zu Wissen und Information“ eingeschränkt würde. (Ein wahrer Satz wäre das vielleicht in den 1980ern gewesen, vor der Entwicklung des World Wide Web.) Eine Buchhändlerin behauptet, Buchhandlungen seien „die symbolische Heimat der Geschichten“ und müssten geöffnet bleiben, damit die „komplexe haptische Wirkung des Buches“ wieder von der Bevölkerung erfahrbar werde. Wer sich allerdings bislang nicht für komplexe haptische Wirkungen begeistern konnte, wird auch jetzt nicht damit anfangen. Und wer begeistert war, wird noch das eine oder andere ungelesene Buch zuhause haben.
Geht es hier eigentlich noch um Kultur oder schon um die Aufhübschung eigener Interessen?
„Keine Zeitung dieser Welt, keine Pressekonferenz kann den Informationsgewinn durch Lesen von Literatur ersetzen“, schrieb Mely Kiyak am 1. April und beklagte, dass geplante Buchpublikationen von den Verlagen verschoben wurden.
Klar, der nächste Berlinroman oder die nächste nachdenkliche Provinzheimkehr junger Hipster würden uns jetzt als Gesellschaft weiterbringen! Immerhin hat Kiepenheuer & Witsch es noch geschafft, dem feministischen Künstler Till Lindemann die Möglichkeit zu geben, das brandneue und literarisch hochwichtige Thema „Männliche Vergewaltigungsfantasien“ lyrisch zu erspüren; dieser Gedichtband, Anfang April übrigens Bestseller Nummer 1 in der Amazon-Rubrik Lyrik & Gedichte, wird das Volk der Dichter und Denker sicherlich intellektuell für harte Zeiten wappnen. Die anderen werden vielleicht von den paar Buchhandlungen errettet, die es im Jahr 2020 tatsächlich geschafft haben, einen Lieferdienst oder die Anbindung an einen Onlineshop jenseits von Amazon hinzukriegen. Ohnehin, legt Felix Stephan in der SZ nahe, leide ja derzeit vor allem das Geschäft mit Unterhaltungsromanen, ein seit jeher vom Feuilleton ver- bis geschmähtes Genre. Umso begeisterter zeigt sich Stephan von aktuellen, den “Umständen entsprechend” glänzenden Verkäufen literarischer Werke, deren Erfolg er natürlich vor allem seinem eigenen Arbeitsbereich zuschreibt. Feuilletonartikel mit bewährter Bürgertumszielgruppe und überhaupt alles, was zum “prädigitalen Literaturbetrieb” dazu gehört, trügen die Branche durch die Krise, so Stephans fast schon rührendes Fazit.
All das kann Schriftsteller nicht beruhigen. Nicht der Betrieb, der Kreative systematisch ausbeutet, wird jetzt zum Feind erklärt, sondern der Staat. „Das Geld ist doch da!“ tönt es allerorten. Kreative avancieren zu Volkswirten und verfassen Petitionen, in denen sie Soforthilfen, Steuervergünstigungen oder gleich Grundeinkommen einfordern. Sei es der milliardenschwere Rettungsschirm des Bundes, der Sozialfonds der VG Wort, die Nothilfen der GEMA, die Stundungsoption von KSK-Beiträgen, die Stundungsoption von Steuerzahlungen oder der erleichterte Zugang zu Hartz IV: All das reicht nicht, um die Kränkung der deutschen Künstler zu mildern. Denn Hartz IV ist, wie es der Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller formuliert, für die, die sich dem Nichtstun ergeben. Hartz IV ist für die anderen, für die Kranken und Schwachen, die jetzt halt irgendwie zusehen müssen, wie sie ohne Zuschüsse klarkommen, während immer mehr Tafeln schließen. Künstler aber, die Stimmen der Vielfalt, die Geschichtenerzähler unserer Zeit, müssen sich jetzt darauf fokussieren, dass die „Künstler-Ehre“ nicht angetastet wird, die vom jahrzehntelangen Mitwirken in einem ausbeuterischen System und dem sporadischen Retweeten von Posts zu Moria oder unterbezahlten Erntehelfern schon zur Genüge strapaziert ist.
Nina George ist eine von wenigen, bei denen anklingt, dass nicht der Staat das Problem ist, sondern der Kulturbetrieb selbst, mit seiner systematischen Untervergütung und seinen, diplomatisch formuliert, semiprofessionellen Plattformen und Verwertungsstrategien. Die einzig denkbare positive Nebenwirkung dieser fatalen globalen Pandemie wären kritische, fundamentale Fragen. Etwa, warum wir an Strukturen partizipieren, die es uns verunmöglichen, Rücklagen zu bilden. Mehr noch: Die uns dem Bankrott aussetzen, sobald Wirtschaft oder eigene Gesundheit schwächeln. Oder die Frage, auf welcher Datenlage eigentlich die vollmundige Behauptung basiert, dass Kultur und Kulturorte „unverzichtbar für ein lebenswertes Leben“ seien. Wenn dem so wäre: Warum müssen Theater und andere Veranstaltungsorte im großen Stil vom Staat bezuschusst werden? Warum ersetzen Verlage volle Stellen mit Praktikanten und Volontären? Warum brauchen die meisten Künstler „Brotjobs“, um ihre Krankenkassenbeiträge zahlen zu können? Wenn Kultur überlebenswichtig ist für mehr als die Menschen, die tatsächlich von ihr leben, warum drückt sich das nicht in Zahlen aus?