Man nimmt es ja erstmal ernst – Über die Fotoarbeiten von Lars Eidinger

von Eva-Sophie Lohmeier

Die Chronologie beginnt mit einem Achselzucken. Lars Eidinger hat also einen Instagram-Account, interessant, und er postet darauf irgendwelche Bilder. Ich scrollte halbinteressiert durch und beschloss schließlich, ihm nicht zu folgen. Gefühle hatte ich dabei keine, ich gönne jedem Menschen seine Hobbys. Und Fotografie ist ein Hobby, zu dem Menschen gerne greifen, wenn sie sich kreativ ausleben möchten, aber auch zwei linke Hände haben und deshalb nicht zeichnen können. Es scheint so trügerisch leicht, etwas anzuvisieren und einen Knopf zu drücken. 

Doch ganz ohne Kriterien wie Formwille und Originalität geht es nicht, nicht einmal ohne eine gewisse technische Grundlage. Das vergessen Hobbyfotografen gerne und dann entstehen schlimme Produkte, wie etwa das Fotobuch von Brooklyn Beckham mit dem programmatischen Titel „What I see“. Man kann es googeln, es ist ein phantastisches Rabbithole voller wütender Verrisse.

Von Achselzucken zu Ratlosigkeit

Nun also auch Lars Eidinger. Gut, wenigstens macht er kein Buch, dachte ich noch, als ich den Instagram-Account entdeckte. Bis er im Jahr 2022 unter Anteilnahme der medialen Öffentlichkeit sein Instagram löschte („Ich war wirklich schwer abhängig“) und doch eins machte – bei Hatje Cantz, einem renommierten Kunstbuchverlag, der sogar einen Leineneinband gönnte. Es kostet 30 Euro und heißt „Autistic Disco“, – ein Titel, über den man geteilter Meinung sein kann, aber erkennen wir einmal vorurteilsfrei an, dass da jemand mit Willen zur Disruption am Werk war. Dann kam das zweite Buch, es sah genauso aus, war doppelt so dick, kostete 40 Euro und hieß „O Mensch“. Beide Bücher bekamen allseits freundliche Besprechungen. Aus meinem Achselzucken wurde Ratlosigkeit. 

Ratlosigkeit als Ansporn zu eingehender Beschäftigung hat bei mir schon manches Mal zu fruchtbarer Auseinandersetzung samt Erkenntnisgewinn geführt. Diesmal führte sie zunächst dazu, dass ich mir ein Exemplar von „Autistic Disco“ bestellte. Ich blätterte durch Lars Eidingers ausgedruckten Instagramaccount, so jedenfalls fühlte es sich an. Nahezu alle Bilder stehen gleich groß, soweit es das Seitenverhältnis erlaubt, auf einer weißen Seite. Das ist der gestalterische Mindestaufwand, den man bei einem Fotobuch treiben kann. Ein quadratisches Foto leitet den Bildband ein, Eidingers erstes Foto, das er als Kind machte, ein Hamster in einer Klorolle. Süß. Am Ende des Buches sind auf einer Doppelseite Eidingers gesammelte Hotelbettenfotografien abgedruckt. Auf Instagram ist so etwas immer ganz nett für Freunde und Familie. Dazwischen dann sehr viele schiefe Ecken, krumme Büsche, seltsame Vorsprünge. 

Schauen wir uns das mal genauer an

Damit der Betrachter mit dem Konvolut an ausgedruckten Instafotos in diesem Band nicht ganz allein ist, bekommt man noch eine Einleitung an die Hand. Verfasst hat sie der Journalist und Autor Simon Strauß, überschrieben ist sie mit „Angeschnittene Traurigkeit – Im Kosmos der stillen Zeichen. Zu Lars Eidingers Fotografien.“ Er schreibt darin, dass sich die Menschen in 900 Jahren, falls es sie dann noch gibt, vielleicht fragen, was die Menschen heute gefühlt haben, und dass sie dabei wohl Bilder betrachten, weil die Leute kaum noch was aufschreiben, und dass Eidingers Bilder dann wohl dazugehören beim Gefühleentschlüsseln. Eidingers Bilder seien Symbolbilder einer erschöpften Zeit. Die ganzen Ecken und Vorsprünge „wird man später einmal als Zeichen der Sehnsucht lesen“. 

Aber schauen wir uns die Fotos einmal näher an. Häuserfassaden, misshandelte Grünpflanzen, Ecken und Stufen, Fundstücke. So ungefähr das, was man jeden Tag mit der Handykamera festhält, um es in den Insta-Storys zu teilen. Viele meiner Freunde tun das, man bewältigt so den Alltag und seine Hässlichkeit, das hat etwas therapeutisches und ich kann es gut nachvollziehen. Ich verrate nicht zu viel, wenn ich hier gleich spoilere, dass es im zweiten Buch „O Mensch“ genau so weitergeht. Der Titel ist einem Gedicht von Nietzsche entnommen: „O Mensch! Gib acht! Was spricht die tiefe Mitternacht?“ Eine Einleitung gibt es hier nicht, dafür hat die Schriftstellerin Yoko Tawada kurze Verse zu den Bildern geschrieben. Das Layout ist geradezu aus sich herausgegangen und hat ab und zu mal ein Bild randlos gesetzt, manchmal sogar über eine Doppelseite hinweg. Hamster und Hotelbetten gibt es diesmal keine, dafür wird es in diesem Band sozialkritisch: Ab und zu liegt ein Obdachloser im Bild. 

Ich war immer noch ratlos. Ich machte mich auf die Suche nach Rezensionen, in den meisten stand, dass Eidinger keine Spiegelreflexkamera mehr benutzt, sondern auf das Telefon umgestiegen ist, weil das irgendwie direkter sei. 

Es half nichts, ich fuhr nach Düsseldorf. Dort nämlich, in der Kunstsammlung NRW, hatte man Eidinger eine Einzelausstellung eingerichtet. Drei Räume mit Fotos, Videos und einem gebläsebetriebenen Zappelmännchen im zentralen Raum, wie man sie sonst bei Autohauseröffnungen sieht – so laut, dass man sich am Eingang Ohrstöpsel nehmen konnte. Solche Ohrstöpselspender kenne ich sonst nur von Fabrikhallen. Die Yoko-Tawada-Gedichte hatte die Autorin persönlich mit Bleistift an die Wand geschrieben, direkt neben den Bildern wirkten sie stark deskriptiv. Ich habe selten erlebt, dass mit einem so großen Aufwand eine Vielschichtigkeit simuliert wurde, die es nicht gab. Die traurigen Pflanzen und Ecken und Stufen auf Eidingers Bildern hingen dicht an dicht an der Wand. Einige Fotos waren so stark vergrößert, dass die Qualität sehr offensichtlich darunter zu leiden hatte. Dass das ein System hätte oder einen Mehrwert schaffen würde, konnte ich nicht erkennen. 

Ausstellen des Prekären

Es gab außerdem noch Videoarbeiten, die auf Bildschirmen gezeigt wurden. Die Videoarbeiten hielten auf irgendwas drauf, gern auf Straßenkünstler. Ein Video zeigte in Endlosloop einen offenbar unter Drogen stehenden Mann, der an einer Straße stand, sich krümmte und taumelte. Es war dunkel, der Mann war nur als Silhouette zu erkennen, Eidinger hatte offenbar stark herangezoomt und draufgehalten. Und genau das war der Punkt, an dem meine Ratlosigkeit sich endlich auflöste und ich wütend wurde.

In einem Fernsehbericht zur Eröffnung der Ausstellung sagt Eidinger dem WDR, die Menschen in prekären Situationen, die er auf der Straße treffe, führten ihn zu der Frage, wie er das eigentlich aushalte, diesen Widerspruch. „Und das ist halt die Frage, die über allem steht: Wer bin ich?“ 

Er hält mit dem Telefon drauf, wie der Mann im ärgsten Rausch nicht mehr gerade stehen kann, am Straßenrand entlangtaumelt, den Autos gefährlich nah, und fragt sich, wie er das aushält, so schutzlos in die Welt geworfen als Tatort-Darsteller und gutgebuchter Bühnenschauspieler? Ernsthaft?

Dass die Konfrontation mit vom Schicksal Gebeutelten einen dann doch immer wieder nur zu sich selbst zurückführt, vermittelt nun nicht gerade einen Eindruck von ausgeprägter Sensibilität. „Es sind, wenn man so will, alles Selbstporträts“, sagt Eidinger in dem Fernsehbeitrag weiter. Der bunte Schlafsack, schön konsumkritisch vor dem Schmuckladen, vor der leuchtenden Steakhouse-Werbung, kauernde Gestalten auf Bänken und auf Stufen, alle nur da, damit Eidinger sich fragen kann, wer er ist. Das darf doch wohl nicht wahr sein, dachte ich mir dort, in Düsseldorf, im Getöse des Zappelmännchens und ohne Ohrstöpsel. 

Fotografiert man auf der Straße, so gebietet sich dringend ein sensibler Umgang mit Menschen in hilfloser Lage. Ein Obdachloser vor einem Schmuckladen voller teurer Uhren ist aber nun die billigste Chiffre für gesellschaftliche Ungleichheit, die man bekommen kann, man riskiert nichts dabei, man muss die wohnungslose Person nicht einmal ansprechen. Hinstellen, abdrücken, fertig ist die wohlfeile Allegorie der Armut. Wenn das jemand macht, der gerade seine allerersten fotografischen Schritte tut und im künstlerischen Ausdruck noch nicht die feinsten Mittel entwickelt hat – geschenkt. Eidingers Bilder jedoch hingen in der Kunstsammlung NRW, im K21 auf einem halben Stockwerk, über Katharina Sieverding, einer wirklich gestandenen Künstlerin mit einem echten Werk.

Straßenfotografie hat es in Deutschland ohnehin nicht leicht – in England oder in den USA ist das anders. Wer keine ausgefeilten fotografischen Konzepte aufstellt, nicht in klassischen Genres wie Porträt oder Landschaft fotografiert, sondern flüchtigen Alltag festhält, findet nur selten den Weg ins Museum. Was ausgestellt wird, ist mit sehr wenigen Ausnahmen fast immer Nebenwerk von anderweitig renommierten Fotograf*innen oder gut abgehangene Nostalgiestücke aus schwarzweißen Zeiten. Eine ganz große Ausnahme war die Ausstellung Street.Life.Photography 2018 in den Hamburger Deichtorhallen mit einem großen, zeitgenössischen Überblick über das Genre. 

Kein zweites Mal

Und nun kommt Lars Eidinger mit seinem Telefon. Ohne Absicht, ohne Bildsprache. Ohne Kenntnis des Mediums, seiner Geschichte, Grenzen und Tücken. Mit einem Instagram-Account, wie ihn jeder zweite Berliner Hipster führt. Aber mit einem Namen. Er bekommt zwei Bücher und eine Einzelausstellung – ein Buch und eine Einzelausstellung mehr als Brooklyn Beckham. Und niemand (außer Boris Pofalla, der ihn ausgerechnet in der WELT angemessen eintütete) sagt mal, was das eigentlich für ein Mist ist.

Man nimmt das, was an Museumswänden hängt, ja immer erstmal ernst. Ich habe es wirklich auch versucht. Ich habe die Bilder angeschaut, die Tawada-Zeilen daneben gelesen, die Videoarbeiten betrachtet und ich habe mir das Gebläsegetöse angehört. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben. Aber, dass hier ein Promi einen Promi-Bonus für sein Hobby bekommen hat und er planlos im Fernsehen über seine Geworfenheit fabulieren darf und ihm niemand widerspricht, das ist einfach ärgerlich. Im Lichte dessen, dass das Ganze auf Kosten prekärer Existenzen geschieht, ist das alles sogar ausnehmend zynisch. Es gibt also haufenweise ästhetische, konzeptionelle und auch moralische Einwände, die man ins Feld führen kann, aber anscheinend hat sich das K21 in erster Linie gefreut, so einen prominenten Namen zu bekommen. Und tatsächlich waren nicht wenige Besucher vor Ort. Unter anderem ja auch ich, aber dieser Fehler wird mir garantiert kein zweites Mal unterlaufen. 

Beitragsbild von der Autorin

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