von Achim Landwehr
Das Fehlen von Welt
Die Frage kann sich durchaus aufdrängen, wie das alles noch zusammenhält. Dabei ist es ja nahezu gleichgültig, an welcher Stelle man nachschaut, denn die Auswahl ist ungeheuer groß: Lücken, Spaltungen, Leerstellen. Sie sind überall. Wie also hält das alles noch zusammen angesichts der allgegenwärtigen Hohlräume, Unvollständigkeiten, Brüche, Abwesenheiten? Und zuweilen hält es ja tatsächlich nicht mehr zusammen. Vom Schlagloch als dem Daueraufreger aller Straßenverkehrsteilnehmenden über die sich häufenden Bohrlöcher in den heimischen Wänden bis zur Zahnlücke – so könnte eine Auflistung beginnen.
Aber der Illusion, eine Erfassung von Löchern beginnen oder gar abschließen zu können, wage ich mich erst gar nicht zu nähern. Die „Große und vollständige Enzyklopädie der Lücken“ müsste ihrerseits zahlreiche Lücken aufweisen und immer unvollständig bleiben – was sie dann aber nicht nur mit allen anderen Unternehmungen gemein hätte, die mit einem ähnlichen holistischen Anspruch aufwarten, sondern zudem die Frage aufwürfe, ob diese spezifische Enzyklopädie ihrem Gegenstand nicht gerade durch diese Unvollständigkeit in besonderem Maße gerecht werden würde. Denn neben den materiellen respektive anti-materiellen Formen gibt es ja noch die übertragenen Lücken, die uns allenthalben begegnen, die uns sogar richtiggehend bedrängen. Wir sind umringt von Gedächtnislücken, Finanzlöchern, Gesetzeslücken, Gesellschaftsspaltungen, Bildungslücken, Sicherheitslöchern, Sinnleeren, Forschungslücken.[1]
Und dann nicht zu vergessen die Leerstellen, die jenseits unserer Aufmerksamkeitsschwelle und Wahrnehmungsfähigkeit lauern, die Lücken hinter unserem Rücken. All die schwarzen Schlunde des Nichts, die wir noch gar nicht kennen können, weil wir nicht in der Lage sind, sie als Leerstellen überhaupt zu identifizieren. Die Zukunft darf hier nicht nur als eine der eifrigsten Leerstellenproduzentinnen gelten, sondern ist selbst Leerstelle, ist das große Fragezeichen, ist die bedrohliche black box der Kontingenz.
Deswegen also keine Enzyklopädie der Lücke, auch keine Definition des Lochs. Vielmehr eine immer wieder sich einstellende Verwunderung über die qualitative Vielfalt und die quantitative Mächtigkeit alles Löchrigen. Und auch wenn es eine ans Peinliche grenzende Tautologie wäre, diesem Löchrigen metaphorisch nachbohren zu wollen, bleibt die Frage doch hartnäckig: wie das alles noch zusammenhält.
Es ist die Enttäuschung in Form einer Ermangelung, die Leerformen einen weitgehend schlechten Ruf eingebracht hat, gepaart auch mit dieser unübersehbaren Furcht vor der Zerstörung, die mit jedem klaffenden Loch einhergeht. Und das, obwohl das Leere deutlich vielfältiger, vor allem auch deutlich produktiver und konstitutiver ist, als nur zur Anzeigung eines Verlusts zu dienen. Aber dazu später mehr.
Ein Loch sollte doch eigentlich gar keine Schwierigkeiten machen. Es ist ein so schlichtes Phänomen, durch denkbar einfache Komponenten konstituiert, so unproblematisch zu identifizieren – und bereitet bei näherer Betrachtung doch so viel Kopfzerbrechen. Das ist das Irritierende an Löchern: Man kann sie sehen, kann darauf zeigen, kann sie sogar beschreiben und abbilden, denn genau dort, an dieser Stelle, an der etwas fehlt, da ist ein Loch – und schon ist man gefangen in den ungreifbaren Verstrickungen, die dieses befremdliche Nicht-Phänomen auslegt. Denn wie kann etwas sein, das nicht ist? Und das ist ja die übliche Assoziation, die wir bei Löchern haben: dass dort nichts ist; dass dort ein Nichts ist.
Und weil das Phänomen namens Lücke so ulkig schwankt zwischen bedeutungsarmer Nebensächlichkeit und ontologischer Fundamentalproblematik, ist auch schon von allen Seiten etwas dazu gesagt worden. Das ist auch nicht verwunderlich, schließlich sind Löcher nicht nur nützlich oder störend oder gefährlich, sondern auch schwindelerregend. Man kann dort nicht nur körperlich hineinpurzeln, auch gedanklich kann man sich darin verlieren. Da möchte man sich einfach nur mal mit Löchern beschäftigen, und schon erhebt die akademische Besserwisserei ihren tattrigen Zeigefinger.
Ich will keine Physik, keine Mathematik, keine Philosophie und auch keine sonstwie geartete Theorie des Lochs unternehmen. Entsprechende Versuche liegen bereits vor.[2] Sich daher in der Nachfolge des Aristoteles an eine Definition der Leerstelle machen und konstatieren zu wollen, es handele sich um einen Ort, an dem nichts ist, hilft in manchen Zusammenhängen nur bedingt weiter.[3]
Bei Löchern ist die Gefahr paradoxaler Verknotungen nicht allzu fern. Jede Beschäftigung macht aus diesem Nichts schon wieder ein Etwas – womit es kein Nichts mehr ist.[4] Müssten richtige Löcher nicht derart nichtig sein, dass man sich noch nicht einmal auf sie beziehen können dürfte? Obwohl ein Loch, geradeso wie die Null als löchrige Nichtszahl,[5] eigentlich für nichts Bestimmtes steht, nichts repräsentiert und nichts bezeichnet (nur das Nichts bezeichnet), unterläuft es sich durch seine Begriffsbildung beständig selbst – ebenso wie all diejenigen, die sich damit auseinandersetzen.[6] Löcher löchern Welten. Und sie löchern Welten nicht nur auf perforierende Weise, weil sie Leerstellen hinterlassen, sondern auch auf konstituierende Weise, weil sie zum Bestand von Welten beitragen.
Mit jedem Versuch einer definitorischen Schließung öffnet sich an anderer Stelle nur ein anderes Loch, durch das beispielsweise die Unbestimmtheitsrelation hindurchfällt, die sich bei einem kulturell so bedeutsamen Un-Ding wie einem Loch zwischen Phänomen und Betrachtenden aufbaut. Denn Löcher kommen ja kaum ohne wertende Adjektive aus. Für die einen sind es bedauerliche, gar ärgerliche Fehlstellen, für die anderen Öffnungen, Möglichkeiten, Ruhepole, gar Sinnstiftungen.
Löcher können also interessant sein, weil sie nicht nur technische oder organisatorische, sondern auch kulturelle Probleme aufwerfen. Sie zwingen Bedeutungskollektive – vulgo Kulturen genannt – dazu, sich in einer Situation zu verhalten, in der an einer Stelle, an der etwas sein sollte, nichts (mehr) ist. Auch wenn die überwiegende Anzahl der Leerstellen, denen Menschen tagtäglich begegnen, in der Masse der Lücken tatsächlich verschwindet, kann ja ein Loch, wenn es erst einmal eine bestimmte Aufmerksamkeitsschwelle überschritten hat, nicht nur stören, es kann auch verstören.
Mit dankbarer Unterstützung des Lochs lässt sich vielleicht, so meine Hoffnung, dem Umstand des Welt-Habens auf die Spur kommen. Denn einen kaum zu überschätzenden Vorteil scheinen mir all diese Abstinenzen doch zu haben: Sie zwingen diejenigen, die mit ihnen konfrontiert sind, etwas zu tun, das üblicherweise nicht getan werden muss. Sie zwingen zu einer Bestimmung von Welt angesichts des teilweisen Fehlens von Welt. Weil Welt üblicherweise da und eingerichtet ist, größtenteils auch schon lange vor unserer Existenz weitgehend eingerichtet war,[7] muss man sich die Frage nicht stellen, was und wie Welt ist. Eine Lücke macht aber genau diese Frage akut.
Ein Nichts mit etwas drum herum
Sobald Leerstellen unterschiedlicher Art aufgerufen werden, kriecht dieses ungute, gar schaurige Gefühl das Rückenmark hoch, das Assoziationen von Verlust und Vernichtung weckt. Und wie sollte diese Emotion auch verhindert werden, wenn in einem Erdloch ein Sarg versenkt werden kann, der einen an die Lücke gemahnt, die ein verstorbener Mensch hinterlässt, oder wenn ein Bombenkrater an einer Stelle klafft, an der gerade noch ein Haus stand? Solche Löcher nicht nur betrauern, sondern auch stopfen und damit irgendwie heilen zu wollen, ist nur zu verständlich.
Doch noch vor dem Stopfen, noch vor der Bepflanzung der Grabstelle mit Friedhofsgrün, noch vor dem Wiederaufbauprogramm für ehemalige Kriegsgebiete sind einige Minuten der Reflexion über die Löchrigkeit von Welt angebracht. Schließlich fangen die Probleme mit diesen Nicht-Dingen bereits an, bevor man sich ihnen auch nur vorsichtig genähert hat. Ein Loch-an-und-für-sich, also ein Loch in seinem reinen Loch-Sein bekommt man ja gar nicht in den Blick, schon gar nicht in den Griff – auch nicht in den angemessenen Begriff. Ein Loch wird eher durch das sichtbar und erfahrbar, was gerade noch vorhanden ist, durch seine Ränder.
In einer immer noch amüsant-lesenswerten „soziologischen Psychologie der Löcher“ hat Kurt Tucholsky analytisch messerscharf darauf aufmerksam gemacht, was an Löchern eigentlich so irritierend ist. „Das Merkwürdigste an einem Loch ist der Rand. Er gehört noch zum Etwas, sieht aber beständig in das Nichts, eine Grenzwache der Materie. Das Nichts hat keine Grenzwache: während den Molekülen am Rande eines Lochs schwindlig wird, weil sie in das Loch sehen, wird den Molekülen des Lochs … festlig? Dafür gibt es kein Wort. Denn unsre Sprache ist von den Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigne.“[8]
Bei aller Vagheit und aller Unentschiedenheit von Leerstellen und Löchern, ließe sich als Schwundstufe einer Definition wohl festhalten, dass es sich um eine oberflächliche Entität handelt. Jedes Loch hat also – aus der Position des Lochinneren betrachtet – eine Oberfläche, die es von seiner nicht-löchrigen Umgebung trennt und gleichzeitig damit verbindet. Man stelle sich vor, man säße im Inneren eines Lochs eines Emmentaler Käses. Um einen herum gäbe es nur Oberfläche, sonst nichts – das sicherste Indiz, dass es sich um ein Loch handeln muss.[9] Vielleicht ist das ja auch der Grund, weshalb Kinder und auch nicht wenige Erwachsene eine solche Begeisterung für Höhlen, Zelte und ähnliche Gebilde aufbringen können, die sich vornehmlich durch ihre innere Leere auszeichnen: Weil sie durch diese Blasen einerseits vom Rest ihrer Welt gänzlich abgetrennt sind, andererseits diese Trennung auch jederzeit wieder aufheben können.
Und wenn wir schon bei Kindern sind: Auch die wahrscheinlich philosophisch interessantesten (und interessiertesten) Schweine der Kinderbuchliteratur, Piggeldy und Frederick, haben das Loch ausgiebig umkreist. Wie jede Piggeldy-und-Frederick-Geschichte, so fängt auch diese mit einer Frage des Ferkels Piggeldy an seinen großen Bruder Frederick an, woraufhin der peripatetisch veranlagte, aber meist ebenso ahnungslose Frederick seinen kleinen Bruder zu einem Spaziergang auffordert mit den Worten: „Nichts leichter als das. Komm mit.“ Piggeldy möchte von seinem Bruder Frederick also wissen, was ein Loch ist. Die beiden gehen los und versuchen sich dem Problem zunächst phänomenologisch zu nähern, suchen nach Beispielen für Löcher (Strumpfloch, Mauseloch, Tümpel) und nach deren Qualitäten (man kann hineinfallen).
Aber Piggeldy ist mit dem Ergebnis der Suche unzufrieden. Denn im Tümpel ist Wasser, im Mauseloch ist eine Maus, beim Strumpfloch gibt es immer noch mehr Strumpf als Loch. „‚Immer ist ein Loch etwas, wo noch was dazugehört‘, jammert er, ‚nie ist ein Loch einfach nur ein Loch.‘“ Worauf sein Bruder Frederick entgegnet: „Es wird nie ein Loch geben ohne was drum herum.“ Und eben das ist die Lösung: „‚Aha‘, freute sich Piggeldy, ‚ein Loch ist nur deshalb ein Loch, weil immer was drum herum ist.‘ Frederick nickte. ‚Wenn ich groß bin‘, sagte Piggeldy, ‚dann erfinde ich ein Loch ohne was drum herum.‘ Und Piggeldy ging mit Frederick nach Hause.“[10]
Ein Loch ohne was drum herum? Ein Loch um seiner selbst willen? Löcher werden, so sagt uns unsere Intuition, doch in den seltensten Fällen um ihrer selbst willen gegraben. Löcher haben Funktionen. Sie sind zweckgerichtete Nicht-Gebilde, mit denen etwas Anderes, irgendein Etwas, ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll. Sie dienen der Freilegung von etwas hinter oder unten ihnen Liegendem, eines Schatzes beispielsweise. Oder sie dienen der Füllung, vielleicht mit Wasser oder einem Betonfundament. Sie dienen der Abkürzung von einer Seite zur anderen, zum Beispiel durch einen Tunnel. Aber ein Loch herstellen, nur um ein Loch zu haben?
Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade humoristisch begabte Intellektuelle wie Tucholsky, Piggeldy, Frederick oder auch Christian Morgenstern, dessen Gedicht über den Lattenzaun an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben darf, sich Leerstellen aller Art zuwenden. Denn solche Auslassungen stören die ernsthaften Menschen in ihrem Vollständigkeitswahn. Und schelmisch auf diese Auslassungen hinzuweisen, kann irritierte Lacher provozieren, weil sie Durchblicke zulassen – weniger auf ein dahinter liegendes Etwas als vielmehr auf die Baupläne von Welten.
Leerbezüge
Wie man es auch dreht und wendet, es scheint – leider? oder glücklicherweise? – keinen Weg zum absoluten Nichts zu geben. Auch die Möglichkeit, in einem Raum ein vollständiges Vakuum herzustellen, wird bis heute bezweifelt. Immer noch können sich darin virtuelle Teilchen oder elektromagnetische Felder befinden. Immer ist irgendwo irgendwas. Tucholsky hatte Recht, wir leben in einer Welt der Etwas-Leute.
Es könnte daher sein, dass die interessanten, weil inhaltlich weiterführenden Fragen nicht lauten: Was ist das Nichts? Was ist die Leere? Was ist ein Loch? Es könnte sein, dass es interessanter wäre, genauer auf den Rand zu achten, der Leere und Fülle nicht nur voneinander trennt, sondern auch miteinander verbindet. Wichtig an der unauflöslichen Relationierung von Leere und Fülle, von Nichts und Etwas ist demnach vor allem, was sich zwischen den beiden Relata abspielt, wie also der Übergang zwischen beiden als Übergang jeweils ausgestaltet wird.
Diese Traverse kann die Form von Konkretisierung oder Auflösung annehmen, von Zu- oder Abnahme, von Entstehen oder Vergehen, von Bewusstwerdung oder Bewusstlosigkeit, von Erbauung oder Vernichtung, von Beginnen oder Beenden, von Wahrnehmungsfähigkeit oder -unfähigkeit. Dieser Übergang ist, in den Worten von Karen Gloy, „ein reines Zwischen“, weil er, wie der Rand eines Lochs, noch nicht das eine und nicht mehr das andere ist.[11]
Arthur Schopenhauer war nicht der erste, ist aber ein bis heute prominenter Vertreter der These, vom Nichts in einem absoluten Sinn lasse sich überhaupt nicht sprechen. Im bekannten Schlusskapitel zum ersten Band seines Hauptwerks „Die Welt als Wille und Vorstellung“ hat Schopenhauer betont, „daß der Begriff des Nichts wesentlich relativ ist und immer sich nur auf ein bestimmtes Etwas bezieht, welches er negiert.“[12]
Sollte also jemand vom Tisch aufstehen, den Spaten nehmen und mit den Worten in den Garten gehen „Ich grabe jetzt ein Loch“, dann können alle Umstehenden den unabdingbaren, zweckgerichteten Anschluss ergänzen, „… um einen Baum zu pflanzen“. Als relationale Gebilde sind Löcher Mittel zum Zweck. Wir buddeln Löcher. Und danach möchten wir sie eigentlich gerne vergessen. Aber den Gefallen tun uns diese Aussparungen nicht. Sie sind und sie bleiben Teil unserer Ver-Wirklichungen, selbst wenn wir auf den Schacht einen Deckel legen, den Dübel in der Wand verschrauben, die Hautwunde mit einem Pflaster beruhigen.
Zur menschlichen Fähigkeit, etwas erschaffen zu können, gehört auch die Erschaffung von Leerstellen. Aber als Lücken drängen sich diese Aufsprengungen, Ausschnitte und Auslassungen immer erst dann auf, wenn sich ihre Funktionalität erledigt hat, wenn die Bodenschätze ausgebeutet und die Brunnen ausgetrocknet sind. Dann ist da auf einmal nur noch ein Loch. Obwohl diese Leerstelle ja selbst als Nur-noch-Loch niemals frei von Bezugnahmen sein wird, sondern über das Loch-Sein hinaus immer auch störend, gefährlich, befreiend, beängstigend, erhellend und vieles andere mehr ist.
Selbst wenn der abgedankte Kaiser Wilhelm II. in seinem niederländischen Exil in Doorn im Rahmen des streng geregelten Tagesablaufs, der sich während seines dort erzwungenen Aufenthalts nach dem Ende des Ersten Weltkriegs etablierte, in den Vormittagsstunden zu den üblichen Gartenarbeiten mit seinen Adjutanten und ein oder zwei Gärtnern aufmachte, und dabei nicht nur Pflanzen goss, Beete anlegte und Laub harkte, sondern mit beständiger Regelmäßigkeit, ja Unerbittlichkeit Bäume fällte und deren Holz hackte, selbst wenn der Ex-Kaiser durch diese kaum anders denn als Passion zu bezeichnende Tätigkeit erhebliche Lücken im Park des Doorner Anwesens produzierte, die auch durch Aufforstung nicht wieder kurzfristig geschlossen werden konnten,[13] war es wohl nicht das Ziel, einfach nur ein weiteres Loch in die Bewaldung zu schlagen. Mutmaßlich verband er mit dieser Tätigkeit wohl eine Art der Sinnerfüllung, die auszuloten Außenstehenden zwar schwerfallen dürfte, ihm aber folgerichtig erschienen sein muss. Eine Existenz, die auf der Perforierung von Welt beruht.
Sind aber unsere eigenen Vorgehensweisen und unser Weltzustand so weit von dem entfernt, was der ehemalige deutsche Monarch im erzwungenen Ruhestand trieb? Auch wenn dort die Bäume inzwischen nachgewachsen sein dürften, wenn andernorts die Baugruben zugeschüttet sind und wenn die Gläser auf dem Tisch wieder aufgefüllt wurden, selbst dann lässt sich nur schwerlich verbergen, dass sich Welten – neben zahlreichen anderen Eigenschaften – dadurch auszeichnen, perforiert zu sein.
Trotz aller Auffüllungen und Restaurationen bleiben Löcher erkennbar, hinterlassen Spuren und Narben. Spätestens die Luftbildarchäologie macht das deutlich, da sie auch noch nach Jahrhunderten erkennen kann, wo ein Graben gezogen oder ein Keller ausgehoben wurde. Deshalb kursiert in der Archäologie ja auch der Wahlspruch: „Nichts ist unvergänglicher als ein Loch.“[14] Damit stellt sich einmal mehr die Frage nach den Relationen, in die diese Leerstellen eingebunden sind. Wie verhält sich das Volle zum Löchrigen, das Handfeste zum Entleerten – und was macht man mit dem ganzen Abraum, Schutt und Müll, der bei der Herstellung von Löchern unweigerlich entsteht?
Die italienischen Philosophen Roberto Casati und Achille C. Varzi haben unter die Eigenschaften, die sie Löchern zuzuschreiben gewillt sind, unter anderem das ontologische Parasitentum eingereiht. Löcher sind demnach nicht nur auffüllbar, nicht nur eingebunden in Teil-Ganzes-Beziehungen, nicht nur hinsichtlich ihrer räumlichen Ausgestaltung sortierbar, sondern sie kommen außerdem nie isoliert vor, können immer nur in etwas existieren (soweit sie überhaupt existieren).[15] Löcher sind – um dies hier nochmals zu wiederholen – relationale Gebilde. Um dieser Relationalität gewahr zu werden, bedarf es keiner besonders ausgefeilten oder abschreckend abstrakten Argumentation. Der Alltagsumgang mit Löchern ist völlig hinreichend. Denn dann wird auf den ersten Blick ersichtlich, dass Löcher immer einen Gastgeber haben müssen und auch selbst einen Gast beherbergen können. Sie sind immer in etwas und können immer etwas aufnehmen, selbst wenn dieses aufgenommene Etwas auf der anderen Seite wieder herausfallen sollte.
Wie also sieht es aus, das Verhältnis der Fülle zum Leeren? Es ist auf jeden Fall nicht eindeutig. Denn entgegen all der negativen Konnotationen, die sich nahezu unausweichlich mit dem Leeren und dem Löchrigen verbinden und die wahlweise Vorstellungen von Verlust, Untergang Zerstörung, Lebensfeindlichkeit oder Sinnlosigkeit aufrufen, hält die Leere einige Überraschungen bereit. Das Leere ist nämlich nicht minder bezogen auf Möglichkeiten und Optionen – und das bedeutet nicht zuletzt, auf Möglichkeiten der Füllung.
Löchrige Möglichkeiten
In Shakespeares „Henry V.“ tritt nach dem Vorbild des antiken griechischen Dramas immer wieder ein Chor auf die Bühne, um die Geschehnisse des Theaterstücks zu kommentieren und einzuordnen. Noch vor Beginn der eigentlichen Handlung um den legendären englischen König Heinrich V., den Sieger der Schlacht von Azincourt und den kurzzeitigen Eroberer des französischen Throns, tritt dieser Chor auf die Bühne, um das Problem einer Dramatisierung dieses Geschehens (aber letztlich jedes Geschehens) zu benennen:
„Doch verzeiht, ihr Edlen,
Den platten, unentflammten Geistern, die
So Großes hier auf unwürdige Bretter
Zu bringen wagen. Kann ein Hahnenkampfring
Die weiten Felder Frankreichs fassen? Können wir
Ins runde Holz-O all die Helme pressen,
Die klirrend bei Agincourt die Lüfte schreckten?“[16]
Das ist der stillschweigende Pakt, der im Theater zwischen Zuschauenden und Spielenden abgeschlossen wird: Dass sich Bretter zu Schlachtfeldern verwandeln können, Lebende bereits Verstorbene spielen dürfen und zwei oder drei Schauspieler:innen für zwei- oder dreitausend Soldaten stehen können. Man darf davon ausgehen, dass Shakespeare bei dem runden Holz-O, in dem all das möglich war, das Globe Theatre vor Augen hatte, das seine Theatertruppe 1599 erbauen ließ – im selben Jahr, in dem auch „Henry V.“ aufgeführt wurde. Dieses hölzerne Gebäude, nichts weiter als eine schwächliche Hülle, konnte – wie sein Name verdeutlicht – den ganzen Planeten beherbergen, und in ihm war für die Zeit einer Aufführung alles möglich. Die Form des O ist unmissverständlich: Das Gebäude an sich enthält nichts, ist nur die leere Form, nur eine Umrandung, bereit zur Aufnahme aller denkbaren Inhalte.
Im Prolog spielt Shakespeare dieses Spiel mit dem O weiter, ein Spiel mit Löchern und Nullen, die zunächst nichts weiter sind als gehaltlose Hüllen, sich jedoch schnell füllen lassen, weil jede Leere letztlich die Möglichkeit für eine schier endlose Fülle bietet.
„Verzeiht, denn wie auch’s leere O der Null
Ja hunderttausend zur Million vermehrt,
So laßt uns Nullen in der großen Rechnung
Zur Mehrung eurer Einbildungskraft dienen.
Denkt euch drum, daß dies Holzrund wie ein Gürtel
Zwei wirkmächtige Monarchien umfaßt,
Dern steil erhobne, vorgereckte Stirnen
Ein schmaler, unheildrohender Meerarm trennt.
Ergänzt mit eurer Phantasie nun unsre Mängel.
Formt euch aus jedem Mann eintausend Männer
Und schafft in eurer Vorstellung ein Heer.
Wenn wir von Pferden reden, denkt, ihr seht
Sie stolz den Huf ins weiche Erdreich prägen.
Denn euer Geist muß unsre Fürsten schmücken,
Muß sie von hier nach dorthin tragen, muß
Die Zeiten springen, vieler Jahre Gang
Ins Stundenglas-Maß pressen: so bitt ich,
Nehmt nun als Chor für die Historie mich,
Der ich prologgleich euch um Gunst beschwör,
Um ausgewognes Urteil, wohlwollndes Gehör.“[17]
Mit ein paar Requisiten, einigen verkleideten Menschen, gespielten Emotionen und einer Prise menschlicher Phantasie kann aus einem schnöden Bretterverhau eine ganze Welt entstehen. Aus Druckerschwärze, in wiedererkennbaren Zeichen auf Papier aufgebracht, entsteht im Kopf von Lesenden eine Geschichte mörderischer Verwicklungen. Aus farbigen Lichtsignalen, geworfen auf eine weiße Leinwand, entsteht eine nie gesehene Zukunftswelt. Alles nichts Besonderes? Nur weil es alltäglich geschieht, wäre es fahrlässig, die Besonderheit solcher Vorgänge aus dem Auge verlieren. Und ob es nun das weiße Blatt Papier, die nicht minder weiße Leinwand oder die hölzerne Theaterbühne ist, sie alle stehen stellvertretend für eine wichtige Eigenschaft des Leeren, die uns durch Shakespeares Prolog nahegebracht wird: Das Leere ist ein Möglichkeitsraum, auf dem und mit dem sich nicht nur neue, sondern auch ganz andere Welten entwerfen lassen.
Auch wenn der Ausdruck ‚Möglichkeitsraum‘ zunächst einmal positive Assoziationen wecken mag, so können die Optionen, die im Leeren gesehen werden, auch zwiespältige, wenn nicht gar zerstörerische Ergebnisse zeitigen. Denn das europäisch-westliche Eigentumsdenken, das es kaum zu ertragen scheint, das irgendein Ausschnitt der Erdoberfläche herrenlos und damit nicht den juristischen Eigentumsdefinitionen unterworfen sein soll, hat die Rechtsfigur der terra nullius erdacht, des leeren oder auch Niemandslandes. Während internationale Gewässer, der Luftraum oder auch der Weltraum in diesem Sinn intendiert als Nicht-Eigentum kategorisiert werden, hat in kolonialen Situationen die Figur der terra nullius dazu geführt, dass sich die Kolonialmächte angeblich ‚herrenloses‘ Land aneigneten.[18]
Diese Potenz des Leeren kann einen erschauern lassen. So viel Welt, beruhend auf nichts. Deswegen bereitet es ja Schwierigkeiten, dieses Verhältnis vom Ganzen zum Leeren, vom Vollständigen zum Löchrigen auszuloten, weil Lücken in der Lage sind, unsere üblichen Annahmen über die Zusammensetzung und Funktionen von Welt zu untergraben. Sie können wahrgenommen, gezählt, beschrieben oder klassifiziert werden, sie haben eine Form, eine Größe und eine Örtlichkeit, gerade so wie andere Gegenstände auch – obwohl es keine Gegenstände sind und man sich die Frage stellen kann, ob Löcher nur existieren, weil ein entsprechendes Wort existiert.[19]
Obwohl es Löchern – abgesehen von ihrer Immaterialität – an sämtlichen Identitätskriterien mangelt, die Gegenständen üblicherweise abverlangt werden, so dass sie sich einer Bestimmung beständig entziehen, scheint es doch so, als seien Löcher trotz dieser fehlenden Identitätsmarkierungen deutlich stabiler als der materielle Teil von Welt, weil sie ihre (nicht vorhandenen) Eigenschaften nicht verlieren. Auch wenn sich die Umgebungen und die Füllungen von Löchern unablässig ändern – ist es nicht das Loch, das sich immer gleich bleibt? Ist das Leere das einzig Beständige?
Lückenhafte Dynamiken
Gerade im Zusammenhang mit dem Löchrigen bleibt sich so auffallend wenig gleich. Löcher bilden häufig das Zentrum ungeheurer Dynamik, weil sie wahlweise ausgehoben oder zugeschüttet werden müssen, weil sie Energien absorbieren oder Phantasien befeuern, weil sie Neugier provozieren und Ängste schüren. Diese zahlreichen, ganz unterschiedlich dimensionierten Nichtse sind Auslöser eines großen Kraftaufwands. Auch das verdeutlicht ein Gang entlang ihrer Ränder. Nicht nur deren unbestimmbare Bestimmtheit, deren geradezu Heisenberg’sche Unschärfe sorgt für beständige Bewegung, weil man sich letztlich nie sicher sein kann, ob man sich nun schon im Leeren oder noch im Vollen befindet.
Auch die wesentliche Aufgabe eines Rands, nämlich Hier und Dort zu trennen, das Löchrige vom Fülligen zu unterscheiden, sorgt ja bereits für Dynamik – weil durch diese Unterscheidung von Nichts und Etwas zugleich eine Beziehung zwischen beiden Elementen hergestellt wird, die sich dann aber bei den relationierten Elementen fortsetzt, die nämlich ihrerseits aus der Einheit der Unterscheidung von Nichts und Etwas bestehen. Und so geschieht das bei jedem weiteren Bestimmungsschritt. Der gegenseitigen Bezugnahme von Nichts und Etwas ist nicht zu entkommen. Die Relation unterliegt einem unendlichen Regress und damit auch beständiger Dynamik.[20]
Auf dem Rand lässt es sich daher gemütlich machen, um dem beständigen Hin-und-Her zuzuschauen, dem unablässigen Ping-Pong-Spiel zwischen Weder-und-Noch, Hier-und-Dort, Kommt-noch-und-War-schon. Eine Definition des Lochs lässt sich zwar auch nicht von diesem Rand aus vornehmen, aber die Funktionen und Bedeutungen alles Löchrigen lassen sich von hier aus ganz gut beobachten.
Und die Dynamik, die sich mit diesen Leerstellen verbindet, dürfte zu den eher unerwarteten Beobachtungen gehören. Üblicherweise besteht wohl die Neigung, mit der Leere und dem Nichts eine bleierne Statik zu assoziieren: einen schwarzen Schlund, in dem alles auf Nimmerwiedersehen verschwindet; die Stille und Unendlichkeit des Universums, in dem es kein Oben, kein Unten und keine Differenz gibt, in dem nichts geschehen wird, außer der unausweichlichen Auslöschung; die Ausweglosigkeit der Gefängniszelle, aus der es kein Entkommen gibt. Sollten das irreführende Vorstellungen sein?
Wenn man akzeptiert, dass Nichts und Etwas, Leere und Fülle nicht ohne einander auskommen, dann muss die beständige Spannung in dieser Paarung eine Dynamik bewirken, an der das Leere wesentlichen Anteil hat. Ob die Leere die Fülle attackiert oder die Fülle die Leere zum Verschwinden bringen will, Stillstand ist in diesem Verhältnis kaum anzunehmen. Solcherart müssen Nichts und Leere nicht im Status des Problembehafteten verharren, sondern werden zu Erklärungsinstanzen und Transformationsmotoren.
Denn wenn man die berechtigte Frage stellt, weshalb sich in einer Welt, die wahlweise als perfekte Schöpfung, ewige Einrichtung, absolut Seiendes oder wirkliche Wirklichkeit begriffen wird, überhaupt noch etwas verändern kann, obwohl doch schon alles vorhanden und an seinem Platz ist, dann dürften Nichts und Leere eine nicht ganz unbedeutende Rolle bei der Beantwortung spielen. Sie stellen die Unruhe im Stillen Ozean des Seienden dar, sind Vehikel des Wandels und eröffnen Möglichkeiten der Schöpfung.[21] Schon die Atomisten in der Tradition von Demokrit, Epikur oder Lukrez haben gerade diesen Gedanken zu einem zentralen Bestandteil ihrer Philosophie gemacht: dass die Leere überhaupt erst die Bedingungen für die Möglichkeit bietet, die Voraussetzung ist für Bewegungen und Veränderungen.[22]
Aber unabhängig davon, ob es sich um die kleinsten denkbaren beziehungsweise beobachtbaren Teilchen handelt, um die Nuklearbombe, die ein gigantisches Nichts der Zerstörung hinterlassen soll, um die Straßenbaumaschine zur Ausbesserung von Schlaglöchern oder um den vermeintlich weißen Fleck auf der Landkarte, den es unter allen Umständen zu tilgen gilt – diese Lücken beunruhigen nicht nur, sie erfordern respektive provozieren auch ganz offensichtlich Aktivität in einem erheblichen Ausmaß.
Ordentliche Unordnung
Mit dieser Dynamik setzen Löcher das Verhältnis von Ordnung und Unordnung auf die Tagesordnung. Schöpfungsmythen ganz unterschiedlicher Provenienz erteilen uns diese Lektion ja immer wieder in Form einer durchaus auffälligen, raum- wie zeitübergreifenden Gemeinsamkeit, nämlich Ordnungssysteme aus dem Leeren und aus dem Nichts heraus entstehen zu lassen. Das Leere ist die chaotische Unordnung, dem durch einen wie auch immer gearteten Schöpfungsakt eine Ordnung abgetrotzt oder aufgezwungen werden muss. Der Erschaffung einer Welt geht etwas voraus, das als Schwärze, großes Nichts, umfassendes Chaos, totale Indifferenz, mit einem Wort: als das sprichwörtlich gewordene, biblische Tohuwabohu (übersetzt: das Wüste und Leere) bezeichnet werden kann.
In vielen dieser Schöpfungsmythen wird ein solcher nichtiger Urzustand negativ konnotiert und mit Unordnung sowie Unsicherheit verbunden. Und diesen schlechten Leumund ist das Leere nie so wirklich losgeworden (wobei ich die Schöpfungsmythen dabei nicht als Verantwortliche, sondern nur als Symptome begreifen würde). Möglicherweise findet sich ja schon hier die Urform für den geradezu zwanghaften Energieaufwand, der seitens der menschlichen Spezies betrieben wird, um die Löchrigkeit ihrer Welten verschwinden zu lassen. Die Leere darf nicht sein, es muss immer ein Etwas daraus werden (und hinterrücks dreht uns die Leere eine Nase).
Daher lässt sich als Korrespondenzverhältnis wohl Folgendes festhalten: Leer ist nicht das Gegenteil von voll. Leer wird vielmehr aufgefasst als das Gegenteil von voll vom Richtigen oder voll vom Erwartbaren und Bekannten oder voll vom Geordneten.[23] Leere ist mithin die Abwesenheit von Schöpfung, und damit auch die Abwesenheit von Ordnung und Sinn. Die Angst vor dem Leeren, die schon an jeder x-beliebigen Abbruchkante zu verspüren ist, lässt sich also gleichsetzen mit der Angst vor der Halt- und Bedeutungslosigkeit des Menschen in seiner Welt. Ja, sie lässt sich sogar gleichsetzen mit dem Menschen als einem weltfremden, gar weltlosen Wesen, wie Günter Anders Ende der 1920er Jahre argumentiert hat.
Weshalb sind Menschen weltfremd? Weil sie erst nachträglich zu einer Welt kommen, weil die Bezüge zu dem, was sie dann ihre Welt nennen, gerade nicht selbstverständlich, nicht schon gegeben sind, sondern mühsam erarbeitet werden müssen. Erfahrungen, soweit sie von Menschen gemacht werden, können also immer erst im Nachhinein, nur aposteriorisch gemacht werden. In all seiner Doppeldeutigkeit ist daher der Satz zu verstehen: Der Mensch kommt zur Welt – weil er zunächst von dieser Welt, die erst noch seine Welt werden muss, abgetrennt ist, weil er sich den Zugang zur Welt erkämpfen muss. Die Aposteriorität ist das menschliche Apriori.[24]
Und deswegen stolpere ich immer wieder über den Rand, noch bevor ich bei irgendeiner Art von Loch ankomme. Nicht weil dieser Rand im Weg wäre, sondern weil ihm eine so entscheidende Bedeutung beizumessen ist: als Schwelle, die zu überschreiten ist vom Chaos in Richtung Ordnung, als zu erahnender, doch niemals zu erreichender Übergang vom nebulösen Wissen einer vagen Vorgängigkeit zur Gewissheit der eigenen, unausweichlichen Nachträglichkeit. Der Rand ist in all diesen Fällen gleichermaßen konstitutiv und furchterregend, weil er die Ahnung der Auflösung von Welt hinter einer dünnen Membran zurückhält, gerade so, wie er als Dämmerung die Nacht vom Tag trennt oder als Horizont den Himmel von der Erde.
Das Loch wird deswegen mit angsterfülltem Blick betrachtet, weil es eine Diskontinuität offenbart – die Diskontinuität von Welt.[25] Es zeigt an, dass Ordnungen sich flugs auflösen, dass Welten im Nu verschwinden können. Weil aber diese leere Form der Weltunterbrechung niemals ohne ihr Drumherum, niemals ohne eine bestimmte Form von Welt zu haben ist, kann es auch durchaus sein, dass sie nicht ausschließlich als furchterregend und weltuntergangsbedrohlich wahrgenommen werden muss, sondern ebenso als weltermöglichend aufgefasst werden kann.
Als Aussparung in der durchgehenden, konsistenten Oberfläche ist die Lücke nicht einfach nur ein Mangel, sie ist auch eine notwendige Unterbrechung. Sehen Sie sich nur die Buchstaben auf dieser Seite genauer an, die den Text samt seiner Aussagen formieren – ohne die Lücken und Abstände zwischen ihnen, ohne die Löcher in den d’s und p’s und e’s wäre das nicht nur völlig unverständlich, sondern würde zu einer zwar vollständigen, aber auch vollkommen schwarzen Seite werden, auf der die Druckerschwärze jede Aussagemöglichkeit verschlucken würde. Leerstellen verhindern die Schließung von Welt, ermöglichen das Offenhalten von Welt – allerdings nicht im Sinne einer schwammigen Unbestimmtheit oder großzügig verteilten Sentimentalität, sondern, mit Jean-Luc Nancy, als Struktur, die den Sinn von Welt annehmen kann.[26]
Die Frage ist daher nicht nur, wie das alles noch zusammenhält angesichts der vielen Löcher. Die Frage ist auch, wie das alles zusammenhält dank dieser vielen Löcher.
[1] Annette Vowinckel: Kritik der Forschungslücke, in: WerkstattGeschichte Heft 61 (2012) 43-48.
[2] Roberto Casati/Achille C. Varzi: Holes and other superficialities, Cambridge 1994; David Lewis/Stephanie Lewis: Holes, in: Australasian Journal of Philosophy 48 (1970) 206–212.
[3] Aristoteles: Philosophische Schriften, Bd. 6: Physik. Über die Seele, übersetzt v. Hans Günter Zekl/Willy Theiler, Hamburg 1995, 213b.
[4] Ludger Lütkehaus: Nichts. Abschied vom Sein, Ende der Angst. Frankfurt a.M. 2010.
[5] Robert Kaplan: Die Geschichte der Null, 2. Aufl. München/Zürich 2004.
[6] Theo Kobusch: Nichts, Nichtseiendes, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt 1984, Sp. 805-836.
[7] Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1980.
[8] Kurt Tucholsky: Zur soziologischen Psychologie der Löcher, in: Gesammelte Werke, Bd. 9 (1931), hg. v. Mary Gerold-Tucholsky/Fritz J. Raddatz, Reinbek bei Hamburg 1995, 153.
[9] Roberto Casati/Achille C. Varzi: Holes and other superficialities, Cambridge 1994, 13.
[10] Elke Loewe/Dieter Loewe: Die schönsten Geschichten von Piggeldy und Frederick, Ravensburg 2008.
[11] Karen Gloy: Die paradoxale Verfassung des Nichts, in: Kant-Studien 74 (1983) 133-160, hier 160.
[12] Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, hg. v. Ludger Lütkehaus (Werke in fünf Bänden. Nach der Ausgabe letzter Hand, 1), Zürich 1991, 525 (Hervorhebung im Original).
[13] Hans Wilderotter: Leben in Doorn. Umgebung und Alltag eines Kaisers im Exil, in: ders./Klaus-D. Pohl (Hg.): Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil, Gütersloh/München 1991, 163-166; John C. G. Röhl: Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund, 1900-1941, München 2008, 1246-1271.
[14] Nicole Kröger-Köb: „Nichts ist unvergänglicher als ein Loch“. Die Baubefunde der Wüstung Balhorn im Westen von Paderborn, in: Georg Eggenstein/Norbert Börste (Hg.): Eine Welt in Bewegung. Unterwegs zu Zentren des frühen Mittelalters, München 2008, 145-152.
[15] Roberto Casati/Achille C. Varzi: Holes and other superficialities, Cambridge 1994, 16f.
[16] William Shakespeare: König Heinrich V. Zweisprachige Ausgabe, deutsch von Frank Günther, 2. Aufl. Cadolzburg 2014, 11.
[17] Shakespeare: König Heinrich V., 11-13.
[18] Michael Kempe/Robert Suter (Hg.): Res nullius. Zur Genealogie und Aktualität einer Rechtsformel, Berlin 2015; Dorothee Kimmich: Leeres Land. Niemandsländer in der Literatur, Konstanz 2021.
[19] David Lewis/Stephanie Lewis: Holes, in: Australasian Journal of Philosophy 48 (1970) 206-212.
[20] Gloy: Die paradoxale Verfassung des Nichts, 149-158.
[21] Lütkehaus: Nichts, 656.
[22] Lukrez: Über die Natur der Dinge. Übersetzt von Klaus Binder, München 2017.
[23] Christine Dissmann: Die Gestaltung der Leere. Zum Umgang mit einer neuen städtischen Wirklichkeit, Bielefeld 2010, 21.
[24] Günther Anders: Die Weltfremdheit des Menschen. Schriften zur philosophischen Anthropologie, hg. v. Christian Dries/Henrike Gätjens, München 2018, 11-21.
[25] Roberto Casati/Achille C. Varzi: Holes and other superficialities, Cambridge 1994, 79-86.
[26] Jean-Luc Nancy: Der Sinn der Welt, Zürich/Berlin 2014, 10.
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