Da war ein Verlagsgebäude und ein Bloggerbus daneben. Um halb neun stand ich da, trank Kaffee und wartete auf die Blogger, die nicht pünktlich gekommen waren. Dann ab in den Bus, dort Saft und Avocadobagel, Klimaanlage und Vorstellrunde, Stadtverkehr. Ein Busfahrer mit langen Haaren. Social-Media-Mitarbeiterin mit Dutt. Keine Servietten da. Ein Papiertaschentuch sollte meine helle Leinenhose notdürftig schützen. Der Autor des Romans war anwesend, Lukas Rietzschel, »Mit der Faust in die Welt schlagen« hieß das Buch. Nach einiger Zeit: Brandenburg und Alleen.
Der Autor erklärte uns, dass in Ostdeutschland viele Menschen noch auf dem Land wohnten, dass es wichtig sei, sich das zu vergegenwärtigen; an einem Trafohäuschen ein Graffito »ENERGIEZONE #judendynamo«. Irgendwo im Bus redeten ein Blogger und ein Richtigjournalist so über Ostdeutschland, als wäre es ein fremdes Land. 28 Jahre nach der Wende.
Nichtberliner bekamen keine Reisekosten erstattet. Ich war auf eigene Rechnung aus Jena gekommen. Am Vortag, hatte bei einem Freund übernachtet, von Görlitz zurück dann per Bahn. Der Autor erklärte uns einige Grundlagen zu Ostdeutschland, beispielsweise etwa zum Thema Bevölkerungsschwund. Irgendwo ein alter Schriftzug: »Ernst Thälmann« und so weiter. Der Autor machte auf die Klischeehaftigkeit des Ganzen aufmerksam und all die Berliner kicherten wiederholt. Der Buchhandel in Ostsachsen wird komplett von Thalia beherrscht. Das erklärte uns eine Verlagsvertreterin, die seit der Wende das Gebiet bereist. Es liege halt daran, an wen die Treuhand verkauft hat.
In Döbern eine Kristallpyramide. Der Autor fand es amüsant, dass die Döberner sehr stolz auf diese Pyramide seien, in der Glasartikel verkauft werden, irgendwie die größte Europas. (Der Inhaber steht längst wegen Subventionsbetruges vor Gericht. Er hatte zugesagt, Döbern die Glasfabrikation zu erhalten. Nach Zeugenaussagen gibt es aber schon seit Jahren keine Glasfabrikation mehr. Was in dieser Klammer steht, habe ich selbst recherchiert, denn auch wenn es die meiste Zeit nur schlechten Empfang gab, manchmal funktionierte das Internet dann doch.) Viele betonten, dass sie sich wie auf Klassenfahrt fühlten. Ich hatte eher den Eindruck, mich auf einer ethnographischen Ostdeutschlandexpedition für Berliner Medienmenschen zu befinden.
»Wir gehen eben hoch.« Der Aussichtsturm bot einen Blick über den Tagebau Nochten bei Weißwasser. Es war etwas diesig, daher waren die Bagger und Förderbrücken kaum erkennbar. Eine Mitreisende erwähnte, dass sie neulich ihren ersten Halbmarathon gelaufen war. Inzwischen hatte sie wieder angefangen zu rauchen, obwohl sie gehofft hatte, dass nicht. Im Veranstaltungssaal war es kaum erträglich schwül. Der Verleger stellte seinen Autor vor und dieser las dann das elfte Kapitel seines Romans. Leider manchmal etwas nuschelig. Anschließend gab es eine kurze Diskussion. Dabei ging es interessanterweise vor allem um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der sorbischen Minderheit in Sachsen, obwohl das im Buch allerhöchstens ein Randthema genannt werden kann. Das Kapitel spielte in Hoyerswerda. Brandspuren kamen vor. Möglicherweise des Pogroms oder anderweitiger Brandstiftungen. Der Autor subsumierte dies darunter, im Strukturwandel sei in Ostsachsen allgemein viel randaliert worden.
Dann fuhren wir wieder Bus, weiter nach Görlitz. Die Social-Media-Mitarbeiterin hatte eine Powerbank. Ich nutzte die unerwartet lange Fahrt dazu, ein gutes Stück des Buchs zu lesen und darüber nachzudenken. Wie schon bei der Lesung bemerkt, ist der Stil des Buchs ein äußerst kleinteilig beschreibender, lakonischer und weitgehend adjektivloser Realismus. Ich habe einmal mit einem vielfach preisgekrönten Romanschriftsteller über Adjektive geredet. Weder er noch ich als Wissenschaftsredakteur konnten uns erklären, was an Adjektiven eigentlich so schlecht sein soll. Manche Wörter und Ausdrücke Rietzschels waren etwas hölzern, aber das machte nichts. Das Buch ist kein Buch, das geschrieben wurde, um stilistisch zu renommieren.
Eine Stunde verspätet Ankunft in Görlitz. Eine Führung durch das Jugendstilkaufhaus. Es soll jetzt durch den Investor mit einer bestehenden Mall verbunden werden. Oben ein Restaurant rein. Der Autor erklärte hinterher, dass der Investor rassistisch und sexistisch sei. Er war ohnehin gut informiert, hatte Ahnung von Stadtentwicklung und auch von der Görlitzer Kommunalpolitik. War »der jüngste Meistererzähler aus Sachsen«. Das meinte zumindest der Verleger (Kulturwirtschaftsglatze, Kulturwirtschaftsbrille, offenes Kulturwirtschaftshemd).
Der Rückentext von Jan Brandt sagt, es gehe um vom Kapital Entmündigte. Nicht wirklich. Der Klappentext des Verlags spricht von Verlust von Heimat. Auch das erscheint mir ein bisschen unglücklich formuliert. Es geht um Jugend. Zwei Brüder wachsen in der Lausitz auf. Sie werden groß, gehen zur Schule, machen Ausbildungen, und am Ende zündet einer von ihnen eine Flüchtlingsunterkunft an. Heimat ist kaum zu sehen. Von Anfang an ist die Umgebung lieblos, abwertend.
Männlichkeit ist ein großes Thema. Kleine Jungs, die Angst vor Berührungen haben. Autoritäre und wortkarge Familien machen autoritäre und wortkarge Kinder. Es gibt kein Vokabular für Zukunftsträume, allerhöchstens hofft man, Großvaters silbernen Opel zu erben. Dörfer sind eben so. Und beim jährlichen Volksfest wird der Autoscooter auch von Jahr zu Jahr immer teurer.
– Im Umland von Görlitz gab es erstaunlich viele Firmen, die irgendwelche Drohnendienstleistungen anboten. Mittagessen auf der polnischen Seite. Inzwischen erheblicher Zeitverzug. Die Medienleute hielten das Personal mehrfach davon ab, gebrauchte Teller und Gläser mitzunehmen. Staffage für das Fotomotiv »Als letzter am Tisch verbliebener Schriftsteller, gedankenschwer blickend«. Der eigentlich geplante Stadtrundgang musste aus Zeitgründen entfallen.
Der Umschlag des Buchs ist als großes blaues Andreaskreuz gestaltet. Zwei Wochen vor dem Erscheinungstermin waren bereits riesige blaue Andreaskreuze an die Buchhandlungen ausgeliefert worden: Schaufensterdekoration. Ich musste daran denken, wie mir ein Sachbuchautor einmal das Marketing großer Verlage erklärte. Rein die Vermarktung reicht relativ sicher für die erste Woche in der Bestsellerliste. Ist das bei Belletristik auch so?
Der Autor baut die alte Synagoge als Literaturhaus auf. Das sagte der Pressetext. Eigentümerehepaar (beide pensioniert): ehemaliger Landeskirchenrat und Religionslehrerin aus Köln. Blogger und Richtigjournalisten waren begeistert von dem Projekt. Obergeschoss als Loftwohnung. Unten Raum für Lesungen jüdischer Literatur. Also nicht nur. Aber vor allem. Ich war beeindruckt. Die Beteiligung des Autors blieb aber bis zuletzt unklar. Zum Schluss gingen wir Kaffee trinken. »Ihr könnt auch richtigen Kaffee bestellen« (damit war gemeint: anderen als Filterkaffee). Auf der Rückfahrt nach Berlin sollte es »Stullenpakete«, Bier und Haselnussschnaps geben. Schade. Ich würde davon leider nichts abbekommen.
In Rietzschels Buch wird wenig erklärt. Man beginnt kleinste Indizien zu beachten. Zwischen gefriergetrockneter Prosa. Es stimmt zwar, dass das Buch nichts über Strukturen der Neonaziszene aussagt. Aber sein Thema ist auch gar nicht der politische Hintergrund für die beschriebene Entwicklung. Eher, wie Aufwachsen Feindseligkeit vermittelt. Die Protagonisten leben in einer Wüste, die unerläutert bleibt. Der Vater, der Polen als »behindert« beschimpft. Ungeschrieben eine Art Verbot von Zartheit, Bildung, Sehnsucht nach Höherem. Aufs Gymnasium gegangene »Christen« und weggezogene Mädchen als Hassgegenstände.
Rietzschel wurde bereits vor Erscheinen Experte. Er ist jetzt der neue Ostdeutschlanderklärer. Dabei hat er natürlich gar kein Sachbuch geschrieben. Warum wird sein Roman uns als Antwort auf die Zeitfragen verkauft? Er hat einen Roman über eine bestimmte Provinz geschrieben. Buchstäblich ein Jugendbuch. Ich musste an Elmar von Salms »Brandstiftung« (1988) denken. Damals auch seiner Zeit leicht voraus.* Rietzschel wird eine beliebte Schullektüre werden. Gar nicht abwertend gemeint! Mit großem Gewinn gelesen. Aufwühlend. Vieles hat bei mir als Dorfkind (strukturschwache Westpfalz) Saiten zum Klingen gebracht.
Aber wie wird das Buch uns präsentiert? Als eine Antwort auf heutige Journalistenfragen danach, warum »diese Leute« so sind, wie sie sind, taugt es nicht. Es beschreibt mitleidlos und nahezu ohne Einordnung, ohne Begründungen. Man soll es lesen und man soll es Kindern (vor allem Söhnen) zu lesen geben. Aber Sozialforschung ersetzt es nicht.
Die Satzlängen dieses Texts entsprechen jenen des Anfangs des besprochenen Romans, die Wörter sind im Mittel allerdings länger und die Absätze anders aufgeteilt.
Simon Sahner hat Rietzschels Buch inzwischen ausführlich für 54books rezensiert und dabei noch einmal präzise herausgearbeitet, wo der Bruch zwischen der allgemeingültigen und aufschlussreichen Provinzbeschreibung und dem (durch das Marketing noch mehr als durch das Buch selbst erhobenen) Anspruch, die Affinität der ostdeutschen Provinz zum Rechtsextremismus erklären zu können, liegt.
*Dem Verlag wurde das Buch kurz nach der Bundestagswahl 2017 angeboten. Die rechten Ausschreitungen in Chemnitz ereigneten sich zwischen der beschriebenen Reise und dem Erscheinungstermin (7.9.2018). Von Salms Buch erschien 1988, im Jahr des ersten großen Brandanschlags auf türkische Einwanderer in Deutschland (Schwandorf, 16./17.12.). Zur Zeit der Pogrome der frühen 1990er war es gängige Schullektüre in Rheinland-Pfalz.
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Ich kenne weder Buch noch Autor, mich stört aber immer die Kategorie „Ostdeutschland“. Ich finde nicht, dass man Deutschland in Ost und West aufteilen kann, sondern dass man da viel differenzierter sein muss. Ich komme aus Bayern und habe eine zeitlang im strukturschwachen Westen von Schleswig-Holstein gelebt und die beiden Regionen haben überhaupt nichts gemein. Ebenso ist es mit den verschiedenen Bundesländern im Osten. Ich kenne persönlich nur Mecklenburg-Vorpommern, weil ich dort auch gelebt habe und ich glaube nicht, dass man es mit Sachsen oder Brandenburg vergleichen kann. Ich würde mir da gerade von den „Wessis“ etwas mehr Differenzierung und auch Neugier wünschen. Warum ist es heute noch so, dass es „die da drüben“ und uns gibt? Kann ich gar nicht verstehen.
Schöne Verschmelzung aus Rezension, Reisebericht und Stakkato-Prosa. Ich bin Warkus-Fan!
Das Buch steht schon auf meiner Wunschliste; ich werde es wohl bald kaufen. Danke für den Verweis auf Salms, noch ein Buch, das ich mir anschauen sollte.
Ich musste an Juli Zehs „UnterLeuten“ denken, das ich im letzten Jahr las – gibt es Ähnlichkeiten?
»Unterleuten« habe ich leider nicht gelesen. Soweit ich es an der Leseprobe beurteilen kann, unterscheidet es sich aber schon allein dadurch, dass in »Unterleuten« bereits auf den ersten paar Seiten mehr über die Gedankenwelt und die Handlungsmotivationen der Akteure steht als in Rietzschels gesamtem Buch.
Ach so: den von Salm kann ich nicht empfehlen, das ist ein Büchlein, so plump geschrieben, dass es mir schon als Sechstklässler aufgefallen ist.
Nun, das Buch von Zeh ist auch umfangreich. Mal sehen, wann ich es schaffe, dies zu lesen.
Danke. Ich hatte vorhin danach gesucht und es schien mir ein wenig flach zu sein – abgesehen davon, dass es keine ebook-Ausgabe gibt und ich hier in Amman keine Papierbücher bestellen kann. Gut zu wissen, dass ich nichts verpasse.