Personal Games – Schriftsteller:innen spielen Videospiele

von Jan Behrs

In Tonio Schachingers Roman Echtzeitalter, der letztes Jahr den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, geht es um den Wiener Gymnasiasten Till, der viel Zeit mit dem Spielen von Computerspielen verbringt. Bei seinem Versuch, uns zum Kauf des (durchaus kaufenswerten) Romans zu verleiten, konstruiert der Klappentext einen Kontrast zwischen dem alltäglichen Erlebnis, eine Schule zu besuchen, und der Existenz eines halbprofessionellen Gamers: „Echtzeitalter führt von Erfahrungen, die fast alle teilen, an Orte, zu denen die meisten von uns keinen Zugang haben“. Dass dieser Satz etwas altbacken wirkt, liegt daran, dass er die Präsenz von Videospielen wohl unterschätzt: „[D]ie meisten von uns“ sind zwar in der Tat keine Age of Empires 2-Profis, dürften aber trotzdem in irgendeiner Form Gaming-Erfahrungen gemacht haben, die uns vielleicht mehr mit Till verbinden als dessen Internatsleben.

Andererseits hat der Verlag zumindest insofern einen Punkt, dass uns die (Hoch-)Literatur bisher relativ wenige Zugänge zu Videospielen ermöglicht – Romane beschäftigen sich mit allem Möglichen, aber Spielende findet man in ihnen eher selten. Schachinger macht daraus eine nette Pointe, wenn Till einem anderen Pionierroman aus jüngerer Zeit, Juan S. Guses Miami Punk, begegnet, aber auf die Lektüre verzichtet – wenn Schriftsteller*innen schon einmal über Gaming schreiben, werden sie von den Gamer*innen nicht gelesen, und die gewichtigen Romane bleiben liegen „wie eine eingeschweißte Packung gemahlener Kaffee“.

Einen im Vergleich dazu entspanntes Bild der Beziehungen von Literatur und Videospielen entwirft die Essaysammlung Critical Hits. Writers Playing Video Games, die von Robert J. Lennon und Carmen Maria Machado ebenfalls 2023 herausgegeben wurde. Wie der Untertitel schon verrät, geht es hier scheinbar bescheiden nur um die spielerische Praxis – die Beiträger*innen halten sich mit dem Theoretisieren zurück, liefern keine Manifeste und behaupten auch keine besondere analytische Kompetenz, die sich allein aus ihrem Dasein als Schreibende ergäbe. Und obwohl man bei den meisten Texten schon den Eindruck bekommt, dass ihre Autor*innen das Spielen ernst nehmen, fehlt dem Band das Breitbeinig-Gatekeeperische, das man in Gaming-Publikationen aus der Innenperspektive oft findet.

Die gespielten Spiele sind auf der nach oben offenen Angeber-Skala eher im Mittelfeld angesiedelt – Disco Elysium, klar, aber wenig Dark Souls oder Elden Ring und auch keine obskuren Arcade- oder Famicom-Spiele aus den guten alten Zeiten. Einer der charmantesten Beiträge stammt von Octavia Bright, die davon berichtet, wie sie als Kind mit wechselndem Erfolg versuchte, Zugang zu dem schmierigen Softporn-Adventure Leisure Suit Larry zu bekommen – uncooler geht es kaum, aber genau deswegen wird ihr Beitrag zu einer ernsthaften und berührenden Coming-of-Age-Story, die gerade das Scheitern ins Zentrum stellt: „Ultimately, though, the game was a puzzle I could never crack“.

Wie der Text von Bright gehören die meisten Beiträge zum Genre des Personal Essay – eine in der Gegenwartskultur fest etablierte Textsorte. Die Beiträger*innen verfügen über ein gut eingespieltes Format, um das eigene Erleben essayistisch darzustellen, und das merkt man dem Band im Positiven wie im Negativen an. Einerseits gibt die Verankerung in dieser Tradition den Essays eine angenehme und meistens gut lesbare Gestalt: Die Texte können unverkrampft vom höchst Individuellen berichten, ohne unbedingt auf eine Verallgemeinerbarkeit zu schielen. Anders als in thematisch ähnlich angelegten Bänden wie Mathias Mertens’ und Tobias O. Meißners Wir waren Space Invaders (2002) fehlt hier deswegen auch das penetrante „Wir“. Es wird keine kumpelhafte In-Group hergestellt, und jeder Text kann mit seinem persönlichen Zugriff für sich stehen.

Andererseits stellt sich nach der Lektüre von 19 solcher Aufsätze auch eine gewisse Ermüdung ein. Der Personal Essay, der in den USA auch für die Zulassung an Universitäten von großer Bedeutung ist, erscheint ideal für Geschichten vom Typ „So wurde ich trotz aller Widerstände zu der Person, die ich bin“, die sich auch hier häufen. Dass Videospiele selbst oft ähnlich funktionieren – „Forge Your Own Path“, wie es in einem im Buch zitierten Werbeclip für Hollow Knight heißt –, hilft dem Buch, indem es eine solche Struktur plausibel erscheinen lässt. Aber obwohl die hier versammelten Autor*innen, von denen etliche an einer Schreibschule lehren oder gelernt haben, schlicht zu gut schreiben, um ihre Gamingerfahrungen allzu simpel auf eine solche Erfolgsgeschichte herunterzubrechen, wird die Abfolge der Texte auf die Dauer etwas eintönig.

Trotzdem sind die geschilderten Lebenssituationen zu vielfältig und interessant, um ernsthaft Langeweile aufkommen zu lassen. Darüber hinaus ist es einfach schon spannend, wer was aus welchen Gründen spielt oder gespielt hat. Anders als bei literarischen, filmischen oder musikalischen Vorlieben gehört es zumindest bisher nicht zum guten bildungsbürgerlichen Ton, sich zu seinen Lieblingsspielen zu äußern, und der Kanon scheint fragmentierter, komplizierter und weniger klar kommuniziert als bei anderen Kunstformen.

Die Kombination von Autor*Innennamen und Spieletitel allein erzeugt auf diese Weise schon Faszination, wenn etwa Hanif Abdurraqib über Red Dead Redemption 2 schreibt. Nicht alle Texte handeln nur von einem Spiel. Die Mitherausgeberin Machado liefert in ihrer Einleitung gleich eine umfangreiche Liste von 50+ von ihr gespielten Spielen (was dann allerdings doch etwas angeberisch wirkt), und auch in den anderen Beiträgen werden Ansätze von individuellen Spielbiografien sichtbar, die insgesamt einen guten Teil dessen abdecken, was Spielen heute bedeuten kann.

Einige Essays springen besonders ins Auge. „Cathartic Warfare“ von Jamil Jan Kochai kommt mit nur sechs Seiten aus, um eine ebenso alltägliche wie erschütternde Gaming-Szene zu beschreiben: Ein afghanisch-amerikanischer Junge spielt Call of Duty: Modern Warfare 2. Wie schmerzhaft das ist, schildert er mit nüchternen Worten: “While playing the campaign mode of one of the most popular video games in the country, I was tasked with participating in the cathartic fantasies of white men destroying/mutilating Afghan men, and thus was also tasked with the civic duty of cathartically destroying/mutilating myself. […] I fell into some ruptured space between the first-person shooter and the third-person corpse.”

Nicht immer ist der Zugriff so direkt. Keith Wilson benutzt in „Mule Milk“, seiner Erkundung von Herkunft, Rasse und Identität, eine lockerere Struktur, die vom Maultier, seiner vermeintlichen Unnatürlichkeit und seiner (im Wort „Mulatte“ erkennbaren) Verbindung zur Geschichte der Sklaverei ausgeht. Dieser idiosynkratische Essay würde im Prinzip auch ohne Erwähnung von Final Fantasy VI funktionieren, aber davon abgesehen, dass die Figur Terra aus diesem Spiel dem mixed-race-Motiv eine weitere Facette hinzufügt, tritt die Spielbarkeit von Differenz in den Blick: Nicht nur kann sich Wilson von Terras Hybridität repräsentiert fühlen, sondern er kann selbst diese Figur werden und (am Ende des Spiels) Erstaunliches tun: „In the last moments of her living in that hybrid body […], Terra races beside the zeppelin that carries the rest of your party. She is flying. To think that this is a thing she could have done at any moment and chose not to. That to protect herself, she hid her true nature. That this choice, too, is labor.” (53)

Die Erfahrung, im Videospiel Dinge erleben und vor allem tun zu können, die uns außerhalb davon verwehrt bleiben müsste, taucht wiederholt im Band auf, besonders in den Beiträgen, die sich mit queeren Identitäten beschäftigen. Zum Teil werden die Spiele dabei einfach als queerer Text verstanden, in dem transgressive Charaktere oder Plot-Elemente vorkommen. Interessanter wird es aber, wenn es um die Spielmechanik selbst geht, teilweise (wie hier bei Max Delsohns Text über Hollow Knight) gerade bei gleichzeitig bekundetem Desinteresse am Plot: „So, why do I enjoy playing it so much, despite my lack of investment in its story? Because a good story can’t substitute for an embodied sense of wonder. Stories can point to what’s possible, but they can’t get inside your hands and show you how to move.”  

Auf diese Weise stellen etliche Beiträge das alte Vorurteil vom lebensfernen, eskapistischen Gaming vom Kopf auf die Füße. Für ihre Autor*innen ergibt sich (oft nach einem langwierigen Reflexionsprozess, der wegen der allgemeinen Geringschätzung des Mediums notwendig wird) eine ganz direkte Verbindung zur eigenen Identität. Alexander Chee berichtet beispielsweise in seinem Text über seine Erfahrungen mit Ninja Gaiden Black und hat keine Schwierigkeiten, die vermeintliche Kluft zwischen Spiel und Realität zu überbrücken: „I was used to the idea that I was playing a game with hidden rules – publishing, academia, being queer, being Korean American and biracial. Here at least was one that literally had a guidebook you could buy in a store.“ Oft passiert dieser Brückenschlag gerade in den Lücken, die die Spiele lassen. Ninja Gaiden Black ist ein japanisches Spiel mit japanischen, aber irritierend westlich aussehenden Charakteren und damit nicht zwingend ein naheliegendes Identifikationsangebot für einen koreanischen Amerikaner wie Chee, aber genau das ermöglicht seine Reflexion über Authentizität und Repräsentation.

Die technischen Begrenzungen von frühen Spielen der Halo-Reihe führen zu einer absichtlich gesichtslosen, von Kopf bis Fuß gepanzerten Hauptfigur, und genau das wird für die junge nat steele interessant: „For a child like me, the idea that no one needed to know who you were inside was an escape“, und das Spiel wird so unbeabsichtigt zu „a trans woman’s childhood in allegory“. Larissa Pham findet erst spät zum Spielen, stellt dann aber fest, dass sie ihre Depression im Gamerjargon beschreiben und analysieren kann: „Nothing describes the way depression feels quite like a poison debuff.“

Dass der Band trotz vieler solcher Aha-Erlebnisse einige Lücken aufweist, ergibt sich aus derselben Konstellation, die ihn interessant macht: Alle Beiträger*innen, die hier ihre persönlichen Spielebiografien entwickeln, stammen aus dem Bereich, den man – für den amerikanischen Kontext etwas schief – als Hochkultur bezeichnen könnte, und kunstsoziologisch könnte man das Buch deswegen als die Erkundung einer aufstrebenden Kunstform (Games) durch eine gesellschaftlich höher bewertete Kunstform (Literatur) beschreiben. Was unter den Tisch fällt, sind literarisch-spielerische Interaktionen, die außerhalb dieses High-Brow-Bereichs stattfinden. Dass Fan Fiction zum Beispiel im Buch kaum eine Rolle spielt, ist eine große Enttäuschung.

Andere Beschränkungen ergeben sich aus der Forge-Your-Own-Path-Logik der Beiträge. Gaming wird – selbst bei Online- und Multiplayer-Spielen, die durchaus vorkommen – als individuelle Erfahrung beschrieben und nicht als Medium des sozialen Austauschs. Als die Regel bestätigende Ausnahme fungiert dabei der auch sonst großartige Text von Stephen Sexton über eine vermutlich ausgestorbene Spielweise: das Spielen eines Single-Player-Games (in diesem Fall Metal Gear Solid) durch mehrere sich abwechselnde Spieler. Was sich aus dieser Spielsituation seiner Kindheit ergibt, die für ihn „a time of the most extraordinary intimacy“ darstellt, beschreibt Sexton ebenso präzise wie liebevoll: „What was important […] was not only seeing oneself as someone else – Solid Snake or whoever. What’s important was that there was someone else there to witness it. That’s what separates playing the game alone and playing it in company: someone else participates in your imaginative adventures, reifies them.” Eine solche Aufmerksamkeit für soziale Prozesse, die über die Selbstverwirklichung im stillen Kämmerlein hinausgehen, hätte man sich auch von den anderen Beiträgen gewünscht. Es ist sicherlich auch kein Zufall, dass Sextons Text der einzige ist, der die Streaming-Plattform Twitch erwähnt, die in der Gegenwart in anderer Weise die Grenze zwischen individuellem und kollektivem Spielen verkompliziert.

Spiele werden nicht nur gelegentlich kollektiv gespielt, sondern fast ausnahmslos kollektiv hergestellt, und dies ist eine weitere Ebene, über die man im Buch eher wenig erfährt. Der Blickwinkel der Essays ist fast immer der von (mehr oder weniger mündigen) Konsument*innen, und Gaming als Industrie kommt kaum vor. Das kann man dem Buch, das ja schließlich Writers Playing Video Games heißt und keine Branchen-Einsichten verspricht, allerdings nur bedingt vorwerfen, und außerdem gibt es eine besonders schöne Ausnahme: MariNaomis Essay „Video Game Boss“, der von den Erfahrungen der Autorin als Producerin in einem fiesen Game-Startup berichtet und (als einziges Kapitel des Buchs) in Comicform umgesetzt ist. Zumindest eine Ahnung von der Warenförmigkeit der Spielwelt gibt Anders Monsons etwas konfuser Text „The Cocoon“, der in seinem Mittelteil nicht weniger als 50 Spiele auflistet und rezensiert, die entweder auf dem Alien– oder auf dem Predator-Franchise (oder auf beiden) beruhen – ein eigenartiges und unterhaltsames Listicle, das daran erinnert, dass man mit unserer spielerischen Selbstverwirklichung Geld verdienen will.

Dass Till, der junge Gamer aus Schachingers Echtzeitalter, keinen Roman über Videospiele lesen will, liegt übrigens nicht daran, dass er grundsätzlich nicht liest: das tut er durchaus, aber seine Zeit ist begrenzt, und in der Medienkonkurrenz von Spiel und Literatur ist im Zweifelsfall das erstere im Vorteil. Bei Critical Hits ist das ähnlich. Während der Lektüre steigt der Drang, das eine oder andere in den Essays erwähnte Spiel wieder einmal zur Hand zu nehmen oder eines der vielen bisher unbekannten Spiele auszuprobieren. Das spricht natürlich nicht gegen das Buch, sondern bestätigt seine Grundprämisse: Viele von uns spielen, für viele ist das mehr als ein beliebiger Zeitvertreib, und ein Austausch darüber, der von Macker- und Auskennergesten weitgehend frei ist und den Blick auf die persönlichen Zugänge von anderen zulässt, ist deswegen hochwillkommen.

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Foto von Boukaih auf Unsplash

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