von Simon Sahner
Ende des Jahres 2006 berichtete der Spiegel unter dem Titel Das Ich-ich-ich-Magazin über eine ungewöhnlich umfangreiche (fast 400 Seiten) Sonderausgabe des Magazins Tempo, das es zu diesem Zeitpunkt seit bereits zehn Jahren nicht mehr gab. Auf dem Cover dieser Sonderausgabe prangte ein Porträt von Kate Moss, auf dem sie mit laszivem Blick über die nackte Schulter in die Kamera schaut, eine Zigarette hängt zwischen den Lippen. Die langen Haare sind zerzaust. Der Titel kündigt an: “Endlich! Die Wahrheit”. Ich erinnere mich sehr genau an dieses Cover, zudem an eine kontrastreiche Fotostrecke von einem oberkörperfreien Lukas Podolski; außerdem an ein Bild, das über hunderttausend Zigaretten zeigte, die Helmut Schmidt in den letzten Jahren geraucht haben soll, und an eine aufsehenerregende Aktion, die zahlreiche Prominente hinters Licht führte.
Mit 17 Jahren fand ich das damals alles sehr spannend, es entsprach mehr oder weniger dem, was mich interessierte. Keine Ahnung hatte ich allerdings davon, dass es sich bei dem Heft um eine verspätete Sonderausgabe einer der legendärsten Zeitschriften der vergangenen Jahrzehnte handelte: Tempo, das Magazin, das von 1986 an für zehn Jahre den Zeitgeist der Bundesrepublik journalistisch nicht nur prägen, sondern bestimmen wollte. Es war das Magazin, bei dem nicht wenige heute bekannte Medienmacher*innen ihre Karriere begannen und bei dem Autor*innen, die heute für einen Teil der Gegenwartsliteratur prägend sind, ihre ersten Schritte machten: Christian Kracht, Sibylle Berg, Moritz von Uslar, Eckhart Nickel, Maxim Biller und Tom Kummer.
Die inhaltliche und stilistische Schlagrichtung des selbsterklärten Zeitgeist-Magazins Tempo lässt sich gut in den Worten des damals 27 Jahre alten ersten Chefredakteurs Markus Peichl erklären, der 1985 die Notwendigkeit einer Publikation wie Tempo zu begründen versuchte:
Weil der Wiener so schön war, aber nicht schön genug, Weil der Spiegel beeindruckend viel Gehirn hat, aber beängstigend wenig Gefühl. Weil der Stern mal toll war, es aber anscheinend nicht mehr sein will. Weil Cosmopolitan viel Sex hat, aber nicht genug Erotik.
Damit ist auch die Ausrichtung des Magazins grob benannt. Die Menschen, die diese Zeitschrift vorwiegend machten, und diejenigen, die sie lasen, dürften ungefähr der gleichen sozialen Gruppe angehört haben: junge Männer, meist ledig, mit gutem Schulabschluss und überdurchschnittlichem Einkommen, urban und viel auf Reisen, politisch eher nicht engagiert und vor allem auf den eigenen materiellen und sozialen Erfolg bedacht. Ihre Interessen lassen sich zusammenfassen mit: „private Zufriedenheit, beruflichen Erfolg, Freizeit, Fitness, soziales Umfeld und Konsum.“
So umreißt Kristin Steenbock die Tempo-Redaktion und ihr Publikum in ihrem Buch Zeitgeistjournalismus, das sich der Vorgeschichte deutscher Popliteratur widmet und insbesondere das Magazin Tempo, seine Leser*innenschaft und seinen Anspruch, eine Generation abzubilden, näher betrachtet. Das entscheidende Attribut lautet dabei postheroisch. Während der Popkultur der 60er/70er Jahre ein heroischer Selbstanspruch im Sinne eines Widerstands attestiert werden kann, zeichneten sich Tempo und die Popliteratur der 90er Jahre durch eine postheroische Haltung aus, die durch einen zunehmenden Bedeutungsverlust von Subkulturen und eine Verbindung von Popkultur und Konsum entstanden war. Dabei kam es zu einer „Lösung des Popdiskurses vom linksalternativen Deutungsmonopol“ und zu einer Ablehnung des linken ebenso wie des konservativen Kulturverständnisses. Daraus entstand ein Generationsgefühl, das nicht mehr durch das gemeinsame Erleben politischer Ereignisse erzeugt wurde, sondern durch kollektive Konsum- und Freizeiterfahrungen. Anhand der Kategorien Generation, Gender, Nation und Konsum zeigt Steenbock auf, wie Tempo durch Stil, Themensetzung und Darstellungsweise vor allem in Bezug zu den vier Bereichen einen Zeitgeist affirmierte und gleichzeitig erzeugte.
Nähert man sich diesem Zeitgeist über diese vier Kategorien, dringt man in ein Umfeld vor, das aus der Perspektive aktueller Diskurse anmutet wie der dunstig unangenehme Locker Room des Journalismus. Hier findet auch Steenbock das Kernproblem des verallgemeinernden Begriffs Zeitgeist mit Blick auf Magazine wie Tempo, die zwar für sich in Anspruch nehmen, die Grundhaltung einer Generation zu repräsentieren, und dabei auch vorgeben, wie man zu leben habe, aber eben in Wahrheit nur einen kleinen Teil dieser Generation repräsentieren können und vor allem auch wollen. Die Autorin stellt fest: „[D]as Zeitgeistkonzept dient dazu, kulturelle Ausdrucksweisen eines Teils der westdeutschen Jugend als generationsspezifisch zu inszenieren.“
Dass die grundlegende Haltung, die durch Tempo vermittelt wurde, in der zweite Hälfte der 80er Jahre eben nicht repräsentativ für die Generation der damals 20- bis 40-jährigen war, machte 1989 Willi Winkler in der Zeit deutlich, der selbst nach Alter und Bildungsstand genau das Umfeld vertrat, über das Tempo eine Deutungshoheit beanspruchte:
Nichts kann so kompliziert sein, als daß es sich nicht im feinen Layout abbilden ließe, nichts zu kostbar, als daß man es nicht sofort zum letzten Schrei ausrufen konnte. Tempozeigt, wie lustig es ist, jung und dumm zu sein.
Winklers Kritik ist nicht zuletzt auch eine Abgrenzung von dem Generationsgefühl, das Tempo konstruieren wollte. Und das ist durchaus verständlich. Was nämlich angesichts der Kategorien Generation, Gender, Nation und Konsum sehr schnell deutlich wird, sind die Sicherheit und das unerschütterliche Selbstverständnis als Diskursbeherrscher, mit denen eine Gruppe junger Redakteur*innen hier eine äußerst privilegierte Lebensweise bewusst in Textform und Ästhetik gegossen hatte. Dabei steht eine perspektivische Norm im Mittelpunkt, die davon ausgeht, dass der Leser, der die Generation repräsentieren soll, männlich, heterosexuell, normschön und von der eigenen Intelligenz überzeugt ist. Das Andere, das die Ausnahme bilden soll, offenbart sich in den Titelzeilen, die auch Steenbock zitiert: „»Leben Schwule besser?« (August 1994), »Ficken Dumme besser?« (Juli 1986), »Warum Mädchen schlauer sind« (Juni 1995), »Dicke sind schärfer« (Oktober 1986).“ Was eine wissenschaftliche Arbeit nicht so deutlich sagen kann, lässt sich in Steenbocks Buch zwischen den Zeilen lesen: In diesen Formulierungen drücken sich nicht einfach eine andere Zeit und Gesellschaft aus, sondern vor allem ein grundsätzliches Überlegenheitsgefühl des weißen, gut situierten, heterosexuellen Mannes. Die meisten anderen Perspektiven werden vernachlässigt. Noch 2006 stellte Reinhard Mohr angesichts der Jubiläumsausgabe im Spiegel fest, das Team aus 63 Personen (davon 8 Frauen) hinter der Sondernummer wirke wie ein „einziger großer Männnerfreundeskreis.“ Es verwundert daher auch wenig, dass man über Journalismuskreise hinaus außer Sibylle Berg kaum eine Autorin des Magazins heute noch beim Namen kennt.
Kein Bock auf Konsequenzen
Diese Sicherheit über die eigene Diskursmacht lässt sich an die postheroische Haltung, die Steenbock in diesem Generationsverständnis ausmacht, zurückbinden. Der entscheidende Faktor dieser Haltung ist vor allem eine grundlegende Abkehr von allem, was sich die 68er-Bewegung auf die Fahnen geschrieben hatte. Das Resultat dieser Entwicklung zeigte sich schließlich in Florian Illies’ Generation Golf, seinem retrospektiven Manifest der 80er/90er Jahre: „Es wirkte befreiend, dass man endlich den gesamten Bestand an Werten und Worten der 68er-Generation, den man immer als albern befand, auch öffentlich albern nennen konnte.” Dabei ging es tatsächlich weniger darum, dass man die Ziele der vorangegangenen Student*innenbewegung prinzipiell abgelehnt hätte, sondern darum, dass man, salopp gesagt, keinen Bock mehr auf die damit verbundenen Konsequenzen hatte. Ein gutes Beispiel, um das zu illustrieren, ist die Haltung zum Feminismus, die sich nicht nur in der 1994 von Johanna Adorján, Rebecca Casati, Christian Kracht und Eckhart Nickel verantworteten Liste der „97 nettesten Mädchen Deutschlands” und Ratschlägen „wie man sie (vielleicht) kriegt”, ausdrückt.
Vor allem in einem Persönlichkeitstest in der Tempo-Ausgabe vom Mai 1987, den Steenbock mit Blick auf das darin vermittelte Frauenbild analysiert, offenbart sich eine problematische Perspektive auf Fragen der Geschlechtergerechtigkeit. Unter der Ausgangsfrage „Müssen Sie Ihr Leben ändern?“ kommen die nicht genannten Testentwickler*innen zu dem Schluss, dass alle Frauen, die sich weniger Softies wünschen, Pornographie toll finden, sich in erotischer Unterwäsche nicht lächerlich finden und Kinder wollen, ihr Leben möglichst nicht ändern sollten. Den anderen hingegen wird gesagt: „Der Feminismus ist ein Durchlauferhitzer. Wer ihn wirklich verstanden hat, braucht ihn nicht mehr.“ Der perfide Twist dieser Erkenntnis steckt in dem impliziten Vorwurf an Frauen, den Feminismus nicht verstanden zu haben, wenn sie der Ansicht sind, die Gleichberechtigung sei noch nicht erreicht. Die Haltung, die hier Ausdruck findet, ist also kein offener Antifeminismus, sondern vielmehr eine implizit antifeministische Unlust, die eigenen Privilegien infrage zu stellen, was unter anderem hieße, von einem bestimmten Frauenbild Abschied zu nehmen. Deswegen erklärt man die feministischen Ziele kurzerhand für erreicht.
In diesem vorauseilend erklärten Postfeminismus spiegelt sich auch die grundsätzliche Problematik einer postheroischen Haltung, die Steenbocks Arbeit leider nicht ganz auf den Punkt bringt, obgleich diese Erkenntnis durchaus erkennbar wird. Wenn man generell davon ausgeht, dass gesellschaftliche und politische Probleme überwunden sind, muss man sich auch nicht mehr damit aufhalten, die eigenen Privilegien kritisch zu betrachten und Konsequenzen daraus zu ziehen. Der Postheroismus führte in Tempo zu einem Grundtenor, in dem man grundsätzlich mit jedem Thema Spaß haben oder, wie Steenbock es in ihrem Fazit ausdrückt, alle Verbindlichkeiten vermeiden kann.
Das ist auch genau das Problem des New Journalism in der Ausformung, auf die sich auch große Teile der Tempo-Redaktion beriefen und die Bernhard Pörksen wie folgt beschreibt: „radikale Subjektivität, notfalls unter Verzicht auf thematische Relevanz, ein Aktualitätsbegriff, der sich nicht allein über die Zeitdimension definiert, die dominante Präsenz des Autors, des journalistischen Ichs.“ (Pörksen, 308) Der New Journalism hat nun durchaus die journalistische Landschaft bereichert, allerdings legitimiert er auch eine Schreibweise, die sich vor allem aus Privilegien speist und Effekthascherei erzeugt. Gerade in der Tempo konnte man feststellen, wie schnell diese journalistische Vorgehensweise in Selbststilisierung kippen kann und dem meist männlichen Reporter vor allem die Möglichkeit bietet, eigene Devianz und Wagemut zur Schau zu stellen.
Überstolze Selbstauskünfte – New Journalism in der Tempo
So auch in der Tempo-Reportage Ballern wie blöd von Christian Kracht, für die er 1995 ins afghanisch-pakistanische Grenzland reist, dort in einer Waffenfabrik verschiedene Schusswaffen und Granaten ausprobiert und schließlich zu dem Fazit kommt, Schießen sei wie Kartoffelchips essen, man bekomme nicht genug davon (Dezember-Ausgabe 1995). Nicht allein der Titel des Textes offenbart, dass es hierbei weniger um eine informative Reportage aus einem volatilen Umfeld geht, sondern vor allem darum zu zeigen, wie mutig und spektakulär der Reporter des Magazins ist. Dafür spricht auch die Bildunterschrift, die stolz verkündet: „Der TEMPO-Reporter bläst alles weg.“ Eine ähnliche Fremdscham erzeugt die Begeisterung des Tempo-Reporters Helge Timmerberg für den Gonzo-Journalismus und dessen berühmtesten Vertreter Hunter S. Thompson (der zeitweise selbst für Tempo schrieb). Ein Gonzo-Journalist, schreibt Timmerberg 1987 in der Tempo, zeichne sich dadurch aus, dass er es ablehne so „zu tun […], als habe er noch nie ‘ne Nutte gefickt, wenn Prostitution sein Thema ist, als habe er noch nie seiner kleinen Schwester die Schokolade weggenommen, wenn er über Gewalt gegen Frauen berichtet.“ In seiner Autobiographie Die rote Olivetti (2016) berichtet Timmerberg dann unter anderem davon, dass er in den 90er Jahren von der Bunten 30.000 Mark für Reportagen bekam, die er unter Drogeneinfluss schrieb, und irgendwann wie sein Vorbild Thompson in Havannah im Hotel wohnte und dort weiter für die Bunte arbeitete. Neben einem ethisch auf mehreren Ebenen problematischen Verständnis von Journalismus, offenbart sich in diesen Beispielen auch das unangenehme Pathos, das mit einem Teil des New Journalism einhergeht. Dabei wird weniger einer subjektiv-teilnehmenden Beobachtung Ausdruck verliehen, sondern der Reporter ergeht sich vor allem in der Inszenierung eines bestimmten Männlichkeitskitsches.
Man könnte angesichts dieser Reportagen und überstolzen Selbstauskünfte auch sagen, dass junge, privilegierte Männer viel Geld dafür bekamen, dass sie unter dem Deckmantel des Journalismus über den eigenen Drogenkonsum und verantwortungsloses Verhalten schrieben und dafür auch noch zu Helden verklärt wurden. Dieser Eindruck verfestigt sich auch bei den Schilderungen der ehemaligen Tempo-Reporterin Bettina Röhl, die rückblickend berichtet, wie junge Reporter und Redakteure extra nach Hamburg eingeflogen und wie „kleine Stars“ behandelt wurden. Unter ihnen befand sich unter anderem Maxim Biller, dem man in Tempo regelmäßig Platz für 100 Zeilen Hass gewährte. Über Hunter S. Thompsons Arbeit für Tempo weiß Röhl zudem zu erzählen, dass manchmal Redakteurinnen in die USA fliegen mussten, um dem vermeintlich genialen Journalisten im Kokainrausch die Hand zu halten, damit er seine Kolumne schreiben konnte.
Der Weg von Tempo zu Popliteratur
All das findet in Kristin Steenbocks Arbeit höchstens am Rand oder zwischen den Zeilen Erwähnung, was angesichts der erklärten Perspektive und vor allem aufgrund der Standards einer wissenschaftlichen Arbeit auch kaum verwunderlich und per se kein Manko ist. Dennoch wünscht man sich, dass auf diverse Fragen, die sich bei der Lektüre ergeben, detaillierter eingegangen würde. Unter anderem irritiert die mehrfache, unkommentierte Erwähnung, dass die Tempo-Redaktion der Partei Die Grünen nahegestanden habe, was angesichts der dargelegten Inhalte und Haltungen mindestens verwunderlich ist. Auch ein ausführlicher Exkurs dazu, wie sich die Mitarbeiterinnen der Zeitschrift zu dem sexistischen Frauenbild verhielten, wäre angesichts des Fokus auf den Bereich Gender interessant gewesen. Hier wären an manchen Stellen ein paar kurze Abzweigungen vom eng gefassten Kernthema der Studie hilfreich, um diese Bereiche zusätzlich zu erhellen.
Steenbock legt ihren Schwerpunkt vor allem darauf herauszuarbeiten, wie aus der Verquickung von literarischem Journalismus, New Journalism, Pop(musik)journalismus und Boulevardpresse in der Tempo die Grundlagen für das entstanden, was in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zur deutschen Popliteratur erklärt wurde. Und das gelingt sehr gut. Sie macht diese Bezüge unter anderem an zwei literaturkritischen Texten von Christian Kracht fest, in denen er Andreas Neumeisters Roman Ausdeutschen (1994) und Uwe Timms Kopfjäger (1986) rezensiert. An beiden Texten zeigt Steenbock, wie Kracht die üblichen Grenzen einer Rezension überschreitet und stattdessen beinahe selbst literarisch die Bücher, ihre Autoren und sich selbst in Szene setzt, wodurch bereits Anklänge an seine späteren Romane erkennbar sind. In ihrem Fazit kommt sie zu dem Schluss, dass die Popliteratur, die häufig „von der transatlantischen Übertragung der Beatliteratur im Deutschland der späten 1960er Jahre her rekonstruiert“ wird, zusätzlich noch aus einer anderen Quelle gespeist wurde: dem New Journalism in Zeitgeistmagazinen wie vor allem Tempo. Damit rekonstruiert sie in dieser informativen und gut recherchierten Studie einen wichtigen Bereich, der bisher in der Betrachtung der deutschen Popliteratur um 2000 häufig vernachlässigt wurde. Wie elementar die Geschichte des deutschen Zeitgeist-Journalismus der 80er/90er Jahre und insbesondere der Tempo für Teile der deutschen Gegenwartsliteratur ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass etliche der Mitarbeiter*innen bis heute heute bei renommierten Verlagen veröffentlichen.
Zeitgeistjournalismus heute
Fragt man sich über Steenbocks Studie hinaus, wie Zeitgeistjournalismus im Jahr 2020, fast ein Vierteljahrhundert später, aussieht und wo man vielleicht Einflusslinien von Tempo findet, stößt man fast automatisch auf den Lifestyle-Journalismus der deutschen Ausgabe des Magazins Vice, die für sich mit dem Slogan Unbequemer Journalismus wirbt. Gerade mit Blick auf Vice fällt auf, wie sich hier die thematischen Schwerpunkte und die Haltung dazu gegenüber Tempo verlagert haben, nicht aber der stilistische Grundtenor der Berichterstattung. Sexuelle Diversität, Drogenkonsum und linkspolitische Themen machen bei Vice das Gros der Texte aus, wodurch gesellschaftlich relevanten Themen Aufmerksamkeit zukommt. Damit einhergehend fällt auch bei Vice eine starke Tendenz zum Spektakulären und Reißerischen auf; eine Tendenz, die sich aber, wie im Falle der Undercover-Reportage bei “Kollegahs Alpha Armee”, zuletzt durchaus auch mit journalistisch hochwertigen und dennoch zeitgeistrelevanten Reportagen verbindet, vielleicht eine Tendenz vom Postheroischen zurück zum Heroischen. Allerdings stehen New-Journalism-Reportagen wie der Selbsterfahrungsbericht einer Vice-Reporterin, die 24 Stunden allein auf einer Berghütte verbrachte, dem Friseur-Besuch von Eckhart Nickel in der Tempo-Ausgabe vom Februar 1996 an überaufgeregter Erkenntnislosigkeit in Nichts nach.
Eine andere Schiene des Einflusses ist vielleicht weniger offensichtlich, aber dahingehend aussagekräftiger, wie sich Zeitgeist heute in den Medien zeigt. Dieser Weg führt über die Late-Night-Show von Harald Schmidt und seinem Autor*innenteam zu dem Satire-Journalismus mit Aufklärungsanspruch eines Jan Böhmermann. Der schrieb, genau wie Pop-Autor Benjamin von Stuckrad-Barre (der für ein Tempo-Engagement zu jung war, 2006 aber an der Sonderausgabe mitarbeitete) einst als Gag-Autor für die Harald-Schmidt-Show und arbeitete außerdem lange Jahre mit der Autorin aus dem Tempo-Umfeld Sibylle Berg zusammen. (Es sei am Rande erwähnt, dass sich eine weitere Gemeinsamkeit darin zeigt, dass Böhmermann wie auch die meisten ehemaligen Tempo-Autor*innen beim Verlag Kiepenheuer & Witsch beheimatet ist.) Im Neo Magazin Royale zeigte sich über die letzten Jahre, wie journalistische Arbeit am Zeitgeist in der Tradition der Tempo heute aussehen kann. Ebenso wie das Neo Magazin (Royale) zwischen 2013 und 2019 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, brachte die Tempo einen strukturellen und thematischen Aufbruch in ein altes System und versuchte sich auch an satirischen Coups, die denen ähnelten, die Böhmermanns Sendung teilweise über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt machten. 1987 schlug die Tempo-Redaktion Bürgermeistern Arbeitslager für HIV-Infizierte anhand von Bauplänen des KZ-Sachsenhausens vor und in der Sonderausgabe 2006 bot man mehreren Prominenten und Politiker*innen eine Ehrendoktorwürde für eine Nationalakademie an, in deren Statuten sich Zitate aus Hitlers Mein Kampf und dem Wahlprogramm der NPD befanden.
Während Diedrich Diederichsen für die 80er/90er Jahre einen postheorischen Zeitgeist ausmachte, liegt es nahe in den letzten Jahren wieder eine Verschiebung zum Heroischen zu erkennen: Die Popularität klarer Bekenntnisse gegen Rassismus, Sexismus und generell gegen jegliche Form der Diskriminierung und die Aufmerksamkeit für diese Themen sind nicht nur positive Entwicklungen, sondern sie entsprechen auch einem Zeitgeist, der politische und gesellschaftliche Haltung innerhalb eines bestimmten sozialen Milieus wieder aufs Tapet gebracht hat. Eine Sendung wie das Neo Magazin Royale war dabei unter heroischen Vorzeichen, strukturell aber ähnlich wie Tempo vor etwa 30 Jahren, sowohl Profiteur als auch Katalysator dieser gesellschaftlichen Stimmung in einem urbanen und formal gut gebildeten Teil der 20- bis 40-jährigen Bevölkerungsschicht. Gleichzeitig zeigte sich aber auch im Umfeld der Show von ZDF-Neo, dass es sich in erster Linie um ein Abstecken des Zeitgeistes von vorrangig jungen, privilegierten, weißen Männern handelte. Man kann daher vielleicht von Glück sagen, dass sich der Zeitgeist der sozialen Schicht, die Tempo machte und las, in den 2010er Jahren in eine positive Richtung entwickelt hat, sodass diese Art der Arbeit am Zeitgeist beim Neo Magazin Royale wenigstens eine anti-diskriminatorische Richtung eingeschlagen hat.
Vor 14 Jahren hingegen traten Teile der alten Tempo-Redaktion zusammen mit Gesinnungsgenossen wie Benjamin von Stuckrad-Barre und Ulf Poschardt selbst noch einmal an, um den Zeitgeistjournalismus à la Tempo ins 21. Jahrhundert zu wuchten. Das zumindest war das erklärte Ziel des fast 400 Seiten starken Magazins, das ich 2006 in die Hände bekam oder das, wie es im Spiegel hieß, den Leser*innen auf den Schreibtisch „krachte”. Was an dem Heft im Nachhinein vor allem auffällt, ist die konsequente Selbstzentriertheit, von der aus hier auch eine erweiterte Tempo-Redaktion auf die Welt blickte: „33 Wahrheiten” will man verkünden und auf 13 Seiten wird mit dem Prinzip Top oder Flop über zahllose Menschen von Jassir Arafat über Claus Peymann, Thomas Bernhard und Lady Di bis hin zu Westbam in jeweils zwei Sätzen ein Urteil gefällt. Sogar Maxim Biller durfte nochmal mit 100 Zeilen Hass ran. Außerdem listete man auf, was in den zehn Jahren seit 1996 passiert war und was in den kommenden zehn Jahren bitte passieren sollte, ganz so als sei Tempo tatsächlich der Mittelpunkt des bundesrepublikanischen Denkens, für den man sich seit 1986 hielt – selbsterklärte zeitgeistige Diskursmacht eben. Angesichts des personell langen Arms von Tempo in die Gegenwart, wünscht man sich da, dass der Tempo-Gründer Peichl mit seiner Aussage im Editorial der Sondernummer recht behält, dass es etwas wie Tempo „so nicht mehr gibt und gar nicht mehr geben kann.”