Ein Interview von Katharina Walser mit der Modetheoretikerin und Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken
Was hat Literaturwissenschaft mit Mode zu tun? Liest man die Texte der Romanistin Barbara Vinken, findet man einige Antworten auf diese Frage. In ihrem wohl bekanntesten Buch zur Mode, Angezogen, zeigt sie auf, wie wenig zufällig der Umgang mit Kleidern ist und wie stark er mit kulturellem und geschichtlichem Wandel verwoben ist. Aber auch Vinkens im engsten Sinne akademischen Werke lesen die Gesellschaft oder in diesem Fall die literarischen Figuren über ihre Kleider und zeigen so die Verwandtschaft von Text und Textil.
Die Blüten der Mode beispielsweise, eine von Vinken zusammengestellte und kommentierte Sammlung von epochenübergreifenden Texten zur Mode, zeigen, wie nah sich Theorie, Literatur und Mode immer wieder kommen. Die Zusammenführung der Texte, von Walter Benjamin bis Marcel Proust, führt vor, dass nicht nur die Mode in der Literatur eine wiederkehrende inhaltliche Rolle spielt, sondern die Verwandtschaft zwischen Literatur und Kleidern vor allem darin besteht, dass beide zeichenhafte Illusionen inszenieren.
Sie sind beide kunstfertige und symbolhafte Ordnungen, die durch geschickte Zeichendeutung decodiert und lesbar werden. So haben Erzählungen und die Mode beide mehr preiszugeben als es auf den ersten Blick scheint, über innere Vorgänge von Plot und Figur oder die Zusammenhänge von Kultur und Kleid. Ablesen kann man in beiden, so Vinken in ihrem Vorwort: „Klassen- und Geschlechterhierarchien“, sowie andere historische und kulturelle Systeme. Sie sind beide „Kulturgüter“, weil sie reflexive Orte sind, an denen Identitäten und Ideale ausgestellt und deren Ordnungen verhandelbar werden.
In Zeiten, in denen gesellschaftliche Selbstverständnisse und Ordnungen so prominent zur Disposition gestellt werden wie in pandemischen Zeiten, liegt es also nahe, dass sich dieser Umbruch auch in der Mode zeigt. Zunächst allein schon deshalb, weil die Orte der Öffentlichkeit, in welchen die Mode sichtbar wird, fehlen. Aktuelle Debatten um die politische Ignoranz gegenüber dem Kulturbetrieb arbeiten sich zwar an diesen fehlenden Begegnungsorten wie Cafés und Theatern ab, die Mode scheint in ihnen bislang jedoch kaum Beachtung zu finden.
Barbara Vinken erklärt im Gespräch, was es mit dieser Bagatellisierung der Mode auf sich hat, worin sich gerade in krisenhaften Zeiten die politische Kraft der Mode zeigt, was sie von digitaler Mode hält und wieso sie ‚Loungewear‘ nicht mehr sehen kann.
Frau Vinken, woher kommt die aktuell wieder deutlich sichtbare Besetzung der Mode als entbehrliches, lediglich schmückendes Beiwerk?
BV: Die Reaktionen auf die Pandemie waren ja in den verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich und auch die Presse war zwischen, sagen wir mal Italien, Paris und New York sehr verschieden. In New York sagte man apokalyptisch das Ende der Shows, der Geschäfte voraus, alles online. In Paris war bei der Einsicht in ein notwendiges Einhalten der Maßnahmen die Sehnsucht nach dem Danach groß. Was die Mode als schmückendes Beiwerk, als Orchideenfach, angeht, haben Sie sicher in Bezug auf Deutschland Recht. Hierzulande interessieren an der Mode hauptsächlich zwei Aspekte: 1. People, also Klatsch und Tratsch und der Schauder vor der Verworfenheit dieser Welt, und 2. eine moralische Kritik der Mode als umweltschädliche, als ausbeuterische Industrie. Die Pandemie hat die Art, wie man vorher über Mode gedacht hat, bestätigt oder gar verstärkt. In Deutschland hält man es für Verschwendung, etwas für den perfekten Moment vielleicht gar aus purem caprice zu kaufen. Es muss qualitativ hochwertig sein, vor allem aber muss das Preis-Leistungsverhältnis stimmen. Als Kulturgut, als Lebenskunst schätzt man Mode hier erst langsam.
Ein ganzes Jahr lang waren nicht nur Boutiquen weitgehend geschlossen, auch die Sichtbarkeit des kreativen Prozesses hinter dem fertigen Kleidungsstück litt. Was bedeuten die ausgefallenen Modeschauen für die Zukunft der Modeindustrie?
BV: In Paris, London oder Mailand hat man an der Idee der Modeshows festgehalten, auch wenn man natürlich pandemiebedingt auf digitale Shows umgestiegen ist und dort ausgesprochen kreativ, ja witzig und unglaublich einfallsreich war. Armani hat vor kurzem gesagt, wie unheimlich wichtig diese internationalen Treffen für die Community sind. Nicht nur wegen des Geschäftemachens, sondern wegen des Ideenaustauschens – l’air du temps.
Man sieht die Wichtigkeit dieser Schauen auch daran, wie euphorisch die Rückkehr zu den Präsenzshowen gefeiert worden ist. Die Mode hat dieses Frühjahr die Hoffnung auf ein Ende der Pandemie durch unglaublich üppige Kollektionen gefeiert. Diese Lust auf Mode hat Raf Simons mit der Eruption der Lebenslust in den zwanziger Jahren verglichen. Irgendwie haben alle, vielleicht abgesehen von ein paar Leuten im Silicon Valley, die Nase voll von Digitalem und von Jogginghosen und Sweat Shirts.
Zu Beginn der Pandemie wurde das Gegenteil prophezeit. Man hörte viel von der ewigen Verabschiedung des Einengenden, wie steifen Hosen und anliegenden Taillen und von der Hinwendung zu nachhaltiger Reduktion und Capsule Mode in gedeckten Farbtönen und multifunktionalen Schnitten. Jetzt sehen wir, wie Sie sagen, hingegen eine Renaissance von Jeans, Hüftgürteln, explodierenden Farbspektakeln, Ballonärmeln und Plateau-Boots. Das hat also mit unserem allgemeinen Überdruss zu tun?
BV: Ja, ganz sicher! Beim Drang zur Reduktion wird völlig vergessen, dass die Mode Protest ist gegen die Politik des quadratisch, praktisch, guten und überhaupt gegen den Utilitarismus. Letzten Endes ist sie auch Protest gegen eine Politik des vernünftigen, gesunden Menschenverstandes. Sie ist Aufbäumen gegen ‚form follows function‘, Aufschrei gegen die Zweckrationalität der Moderne. Dieser Zweckrationalität setzt die Mode Ironie, Spielerei aber auch kunstvolle Schönheit und das absolute Jetzt entgegen. Die von Ihnen angesprochenen Plateauboots sind beispielsweise ein Zitat der Zazous, die nach dem zweiten Weltkrieg, wo eine absolute Gummiknappheit herrschte, aus Protest gegen die Rationierung genau in solchen, irre hohen Gummisohlen herumliefen. Mode rebelliert oft völlig dysfunktional, aber eben hinreißend – das kommt jetzt wieder gut raus – die modische Rebellion gegen die praktische Vernunft der Nützlichkeit.
Nach dem Einbruch der Verkaufszahlen zu Beginn der Pandemie florierten schnell vor allem zwei Zweige des Online-Handels wieder: alles rund um Heim und Garten und der Bereich des Bekleidungsgeschäfts, welcher eine optimistische Umdeutung von Schlabberlook zu ‚Loungewear‘ erfahren hat. Werden wir in dieser Verbannung in den heimischen Raum alle ein bisschen zu Emma Bovary, die ihre ländliche und eheliche Öde mit neuem Interieur und den feinsten Kleidern füllt?
BV: (lacht) Ja, das kann man sich auch überlegen! Also ich habe noch nie so viele Duftkerzen und Parfums gekauft, so viele Blumen und bauschende Stoffe. Es ist schon wahr, dass wir in dieser Zeit versuchen, den Innenraum erträglicher zu machen. Gegen die düsteren Bedrohungen, die draußen lauern, erschaffen wir uns eine exotische, eine heitere Gegeninsel. Und so manche Reise haben wir wohl auch durch Kleider unternommen.
Diese Einkäufe sind also ein letzter verzweifelter Versuch ein bisschen Glamour zurück ins Leben zu holen.
BV: Genau! Ein Hauch von Glamour…(seufzt). Es gab ja ganz verschiedene Strategien mit dem Grau in Grau des Alltags umzugehen. Manche Leute haben sich auch zu jedem Abendessen extra umgezogen, nur um ein wenig Abwechslung in den Tag zu bringen.
Das Umziehen ist etwas, das seine Notwendigkeit gänzlich verloren zu haben scheint. Damit verschwindet auch diese zeremonielle Markierung im gleichförmigen Alltag. Genießen wir es vielleicht deshalb so sehr in Bildern des aristokratischen Treibens zu versinken, wie in der unfassbar erfolgreichen Netflix-Produktion Bridgerton?
BV: Bestimmt gibt es da einen Zusammenhang. In aristokratischen und auch noch in großbürgerlichen Gesellschaften brauchte man jeden Tag Stunden, sich An- und Umzuziehen. Am zeremoniellen lever du roi etwa war der ganze Hof beteiligt; so ein lever schuf Ordnung. Jedes Ereignis hatte seine passende Robe und so zog man sich drei bis fünfmal am Tag um. Und: der jeweils ranghöchste durfte das Kleidungsstück anreichen. Man machte sich im Anziehen zum Schmuckstück, zur Zierde des Kosmos. Mit der Schönheit wurde nicht etwa Verschwendung oder Eitelkeit ausgedrückt, sondern die Harmonie der Welt vorgeführt. Wie man auch im Singen oder Gebet lobpreisen kann, kann man das Wohlgeordnetsein der Welt auch im Anziehen loben: König und Königin, die Aristokratie und der Klerus im schönen Glanz als Krone der Schöpfung. Später hat man darin den falschen schönen Schein geargwöhnt und lediglich Klunkergeschmack, billige Rumprotzerei gesehen. Das Ereignis, das auf Umziehen Lust macht, fehlt im Moment. Aber für den modernen Menschen war Mode ja sowieso schon länger Stigma; er hatte sich durch Leistung, nicht durch Kleider hervorzutun.
Es gibt mittlerweile sogar Hersteller, die mit dem Nicht-Anziehen Geschäfte machen. Manche behaupten uns stünde ein epochaler Wandel durch das Phänomen der ‚Digital Fashion‘ bevor. Also mit Bildern, die man je nach Hersteller bei virtuellen Plattformen als Filter anwenden oder auch über ein Foto von sich applizieren. Sie könnten dann zum Beispiel ihr Pyjamaoberteil tragen, sich einen Blusenfilter zulegen und diesen virtuell tragen.
BV: Das verkauft sich?
Ja, es verkauft sich. Das Label ‚the Fabricant‘ beispielsweise verkaufte schon im Jahr 2019 den Prototyp eines virtuellen Gehrocks aus schillernden Pixeln, für 9.500 Dollar.
BV: (lacht) Wirklich interessant. Was soll ich dazu sagen – ich verstehe ja kaum, dass man richtige Kleider übers Netz kauft. Ich glaube, dass Kleider etwas mit einem machen. Sie streicheln, sie fallen auf eine bestimmte Weise, sie geben ihren Bewegungen Schwung, kurz, sie schaffen Körper im Raum. Sie mögen Sie auch einengen und damit zu einer anderen Haltung bringen. In meiner Erfahrung sind Kleider deshalb etwas sehr Sinnlich-Körperliches. Ich glaube auch, dass man in einem gut geschnittenen Jackett anders schreibt und anders redet als in einem Pyjamaoberteil. Insofern finde ich den Verzicht auf diese sinnliche Erfahrung nicht wirklich reizvoll. Ich würde sagen das Begehren nach diesen Filtern, also nach diesen Kleidern für das Bild, hängt davon ab, was es heißt: sich anzuziehen. Für die Augen der andern? Zu meinem Vergnügen? Man darf nicht vergessen, dass viele Leute das Anziehen als Last empfinden, als Druck, als Stress. Und dann ist es natürlich super, wenn Sie sich jetzt nicht groß darum kümmern müssen, wie etwas sitzt, wie es fällt, sondern schnell so einen Glitterrock als Maske überziehen können.
Man konnte auch beobachten, dass sich sehr viele Leute große Gedanken um ihre Wirkung im verbleibenden digitalen Raum machen. Also über das ‚Self Fashioning‘ auf Zoom. Zumindest in den Geisteswissenschaften inszeniert man sich beispielsweise sehr gerne vor Bücherregalen.
BV: (lacht) Das ist mir auch aufgefallen und das nachdem doch das Buchregal als Statussymbol endgültig verabschiedet schien. Das ist schon sehr lustig, aber ich muss sagen, ich habe mich wirklich gefreut, dass es Leute gibt, die noch so schöne Bücherwände haben. So sind wir wenigstens mit den Autoren vereint oder zumindest verbinden wir uns bildlich über eine geteilte Welt, die sich in den Büchern materialisiert – das fand ich im Angesicht der Kacheln, auf die die Welt schrumpfte, tröstlich. Da hat man dann wenigstens noch die Idee von einem sinnlichen Moment, von einem Objekt, das riecht, das duftet, das man anfassen kann.
Man sehnt sich überall danach wieder zusammenkommen zu können. Das Jahr 2021 scheint wegen dieses Sehnens zum Jahr der Versprechungen geworden zu sein, für diesen ungreifbaren Zukunftsraum nach der Pandemie. Was danach kommt ist für das öffentliche Leben wie auch für die Mode noch ungewiss. Chanel inszeniert für die Herbstkollektion 21 diese Ungewissheit auf dem Laufsteg und präsentiert Jogginghose neben engen Stiftröcken, Paillettenkleid neben Latzhosen. Welche Versprechung würden Sie gerne an die Modewelt nach Corona machen?
BV: Manchmal habe ich das Gefühl, dass man zögert, ins wirkliche Leben zurückzukehren und sich in der spendid isolation komfortabel und auf Dauer eingerichtet hat. Diese Zögerlichkeit finde ich unerklärlich. Alle reden über die verlorene Wirtschaftskraft, die durch Corona bedrohten Existenzen. Das ist natürlich auch am Schlimmsten. Aber die verlorenen Jahre des Glücks, der Lebensfreude, Theater, Oper, Kino, Tanzen, diskutieren im Seminar, Essen gehen mit Freunden? All die Tage, an denen wir uns nicht angezogen haben? Ich hoffe, dass wir durch die Krise begreifen, wie schön das Leben ist – ohne Pandemie. Das gilt auch für das Kleider tragen, für die Mode. Dass wir die Straße, das Café, den Hörsaal als Bühne, dass wir all diese Öffentlichkeiten und den Blick der anderen, als Reichtum genießen. Das Glück schätzen, uns in verschiedenen Räumen bewegen zu dürfen. Dass uns bewusst bleibt, wie kostbar, aber auch wie zerbrechlich all das ist. Und wir auch bereit sind, uns für den Erhalt dieser Dinge und Räume, für die Lebenskunst und das Glück, deren Teil die Mode ist, zu engagieren.
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