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Barbiecore und der Kampf gegen das Patriarchat: Trägt die neue feministische Welle pink?

von Katharina Walser

“Wie Barbie zur feministischen Ikone wurde”, erklärt ein Artikel im Icon. Dass der Barbie Film in der Mode noch “Spuren hinterlassen” werde, mahnt ein Artikel in der Annabelle an, und “Warum Barbie und Pink jetzt als Feminismus-Symbole gefeiert werden” will das Emotion-Magazin erklären. So oder so ähnlich stand es in den vergangenen Monaten in zahllosen Artikeln in Lifestyle-Magazinen, Feuilletons und Newslettern. Die oft wiederholten Kernaussagen all dieser Texte wirken erst einmal simpel, aber einiges daran lohnt einen zweiten Blick. Am vordergründigsten die folgenden zwei Behauptungen: (1.) die zeitliche Chronologie und logische Kausalität “Barbie-Film führt zu Mode-Trend” und (2.) Greta Gerwigs kinematografischer Ausflug in Barbies Traumland ebenso wie der Modetrend selbst seien feministisch. 

Schauen wir uns das Ganze genauer an: Was war zuerst da? Die Barbiecore-Henne oder das Barbie-Film-Ei? Und was genau ist an beiden potenziell “feministisch”? Und zuallererst: Was um alles in der Welt ist eigentlich Barbiecore?

Wurzeln des Barbiecore im “Dopamin Dressing” und Y2K Revival

Wer den Begriff “Barbiecore” als Hashtag bei TikTok eingibt, stellt fest, dass es zu dem Schlagwort die absurde Zahl von über 500 Millionen Aufrufe gibt. Schnell erfasst man die große Palette an Produkten, die sich hinter dem Mode-Trend verbirgt: von knallpinken Kleidern über durchsichtige Plastik-Accessoires, Glitzer-Schuhen im Mules Stil (das sind die Peep-Toe-Pumps, die hinten wie ein Flip-Flop offen sind) bis hin zu allen anderen Kleidungsstücken, die geradewegs aus der Garderobe der ikonischen Plastik-Puppe stammen könnten. Aber man findet auch Beauty Trends wie den “Barbie Girl Blush” (eine sanft-pinke Rouge-Tönung) oder die “Barbie Nails”, die mal mit aufgesetzten Perlen-Details, mal mit aufgeklebten Barbie “B’s” vor allem dem Motto folgen: make it pink and make it bright! 

@namvoglow

Please @Fenty Beauty bring back this beautidul barbie pink cream blush! #barbiemakeupchallenge @Yada Villaret #barbiepink #namvoglow #dewydumplings #pinkcreamblush

♬ Puff – Hany Beats

Aber ist der Trend, der so augenscheinlich die Ästhetik der Barbie-Puppe imitiert, wirklich eine direkte Folge auf Greta Gerwigs Barbie-Film, in dem wir Margot Robbie, Ryan Gosling und Co. durch eine detailreich inszenierte Spielzeuglandschaft wandeln sehen – unbiegsame Plastikwellen und abgehobene Fersen inklusive?

Ganz so einfach ist es mit keinem Modetrend. Denn Trends werden nicht einfach so geboren, sie sind lang gewachsene und kompliziert verwobene Netze des Zeitgeistes. Natürlich stimmt es, dass die Ankündigung des Barbie-Filmes im Juni 2022 wie ein Brennglas auf alles pinke und glitzernde funktionierte. Das schweizerische Lifestylemagazin Annabelle berichtete etwa, dass nach der Veröffentlichung des ersten Trailers laut der Shopping-App Lyst die Suchanfragen nach Mules, um 115 Prozent und die Anfragen nach pinker Mode um 80 Prozent höher waren als noch am Vortag. Die Google-Suche zu Haar-Blondierungen habe sich außerdem über Nacht verdreifacht. Und trotzdem – kein Trend der Welt kann so schnell durch eine Filmankündigung hochkochen, wenn er nicht schon vorher vor sich hin gebrodelt hatte.

Und es brodelte auch vor Trailer-Release stark im Barbie-Dreamland – sowohl bei Content-Creator:innen in den sozialen Medien als bei den Houte-Couture-Schauen einiger Luxus-Labels, die ihre Frühjahrs-/Sommer-Kollektionen 2022 der pinken Renaissance widmeten. Wohl mit am eindrucksvollsten ist die Valentino “Pink PP Collection”, für die ein individueller Pink-Ton entwickelt wurde, den es so nur bei Valentino geben sollte. Wer High-Fashion-Fashion-Schauen eher weniger verfolgt, erinnert sich vielleicht trotzdem an Florence Pugh, die bei der Vorstellung der Kollektion in Rom in einem transparenten pinken Tüll-Traum auftauchte (und daraufhin in den sozialen Medien für ihre Freizügigkeit angegangen wurde). 

Ähnliche Entwürfe sah man auch bei Chanel, Marine Serre, Versace, Moschino oder Pucci und die pinken Designs hatten schnell weitere prominente Schirmherrschaft, mit Sängerin Lizzo, die das Valentino Pink auf Instagram bewarb, oder Kim Kardashian, die sich (zugegebenermaßen pünktlich zum Trailer-Release) im Juni 2022 in einem pinken Ganzkörper-Anzug auf rosafarbener Satin-Bettwäsche räkelte. Sängerin Dua Lipa – die dem Soundtrack zum Barbie-Film ihre Stimme leiht und auch einen Cameo Auftritt im Film selbst hat – hat mit Donatella Versace im Rahmen ihrer “La Vacanza” Kollektion einen Bikini entworfen, der Barbie neidisch machen würde, und Hailey Bieber ist quasi seit einem Jahr eine wandelnde pinke Werbetafel. 

Da man die Barbie-Ästhetik nun so häufig sieht, vergisst man auch schnell, dass sie absolut kein neues Phänomen ist. Schließlich hat Moschino bereits 2015 den Barbie-Style im Rahmen der Frühjahr/Sommerschauen neu zum Leben erweckt und prominente Frauen wie Britney Spears oder Paris Hilton haben aus dem Barbie-Image schon in den 2000er Jahren Ruhm und finanzielle Imperien aufgebaut. Allerdings wurden sie dabei entweder abschätzig belächelt oder als nicht ernstzunehmende, kurzweilige popkulturelle Referenz abgetan (wie bei Moschino). Woher kommt nun also das Überschwappen vom Laufsteg zu TikTok, Instagram und den High-Street-Retailern der Welt? Denn der Barbiecore-Trend gewinnt dieses Jahr auch deshalb so richtig an Fahrt, weil die pinken Glitzerteile längst nicht mehr nur bei Valentino und anderen Luxusmarken zu kriegen sind, sondern auch bei H&M, Asos, Zara und Co. 

Der endgültige Durchbruch des Barbiecore-Trends ist, wie eigentlich alle Trends, dem richtigen Timing geschuldet. In diesem Fall spielen auch Post-Pandemie-Trends – Stichwort “Dopamin Dressing” – und das Y2K-Revival der Gen Z eine elementare Rolle. Aber auch die über Jahre erstarkte feministische Debatte um stereotypisierte Weiblichkeit.

“Dopamin Dressing” ist schnell erklärt: Nach den extrem auf Reduktion ausgerichteten Mode-Bewegungen während der Pandemie – wir erinnern uns an einen Einheitsbrei von farblich zusammenpassenden Loungewear-Twinsets in Beigetönen und farblose Trends wie die monochrome “Vanilla Girl Ästhetik” inklusive Nude-Make-up und “natürlich” gesträhnten Blondtönen, die 2021/2022 überall zu sehen war – folgte nach der Pandemie, wie es einige Modeexpert:innen bereits prophezeit hatten, die Rückkehr auf die Laufstege und das Street-Style-Leben mit einem Knall: sowohl farblich als auch, was die ausladenden, asymmetrischen Schnitte und hypertransparenten Stoffe anging. 

Beinahe gleichzeitig entdeckte die Gen Z die Mode der Nullerjahre wieder für sich: enge Croptops zu Baggy Jeans kamen zurück, genauso wie Hüftketten, Strassverzierungen und lange Baguette-Taschen. Also eigentlich alles, was Carrie Bradshaw in den ersten drei Staffeln “Sex and the City” getragen hatte.

Und, was Spears und Hilton um die Jahrtausendwende auf dem roten Teppich zeigten. Barbiecore ist quasi die unausweichliche Folge aus beiden Trendbewegungen. Und wie bei jedem Revival kommt es zu einer Umdeutung einiger Bestandteile des ursprünglichen Trends. Im Falle des Barbiecore ist es die Dekonstruktion seiner vermeintlichen Banalität und angeblich fehlenden Authentizität.

Die feministische Rückeroberung des Glamours

Wie funktioniert das feministische Rebranding des Barbiecore Trends, von dem TikTok- Creator:innen und Modeketten sprechen? Antworten findet man bei unserer lokalen Schirmherrin des Barbiecore – quasi bei unserer “Spitzenreiterin” (so auch der Titel ihres Romans) des pinken Trends: bei Autorin Jovana Reisinger. 

Nicht nur das Cover ihres aktuellen Buches “Enjoy Schatz”, eine kluge Verwebung der Themen Lust, Kapitalismus und Patriarchat, leuchtet strahlend pink,  auch im semi-privaten Raum auf Instagram und bei Lesungen lebt die Autorin den “Tussi-Lifestyle”, wie sie selbst sagt. Dass Tussi und Barbie nur zwei Begriffsseiten derselben Medaille sind, zeigt Reisinger schon durch die synonyme Verwendung des Begriffs in ihrem Text “Die subversive Kraft der Tussi, oder: In Barbiecore gegen das Patriarchat” für Vogue Germany. Darin erklärt sie, worin die empowernde Kraft eines Lifestyles zwischen gemachten Nägeln, blondierten Haaren und Glitzer-Tops liegen kann. Nämlich in der Rückeroberung eines misogyn gelabelten, “hyperfemininen” Looks. Es ist höchste Zeit, denn Reisinger zeigt in ihrem Text, wie unhaltbar und verheerend die Vorstellung ist, jemand, der:die dem klassischen “Tussi-Bild”entspreche, könne nicht clever, weltgewandt und interessant sein und zeigt deutlich, dass sich hinter dieser Parallelisierung in den letzten Jahrzehnten eine große antifeministische Agenda versteckte.

Aber sie zeigt ebenso auf, dass ein großes Potenzial darin liegen kann, auf diese Weise unterschätzt zu werden und zitiert am Ende ihres Essays eine befreundete Schriftstellerin, die ihr gesagt habe, “harmlos eingeschätzt zu werden, hat auch seine Vorteile – die wissen gar nicht, wie ihnen geschieht, wenn wir sie zerlegen.” Die, das sind diejenigen, die Profit daraus schlagen, Ästhetiken, die als “typisch weiblich” gelabelt werden,  abzuwerten. Die moderne Barbie zelebriert also den Glamour neu, den das Patriarchat ewig als “unauthentisch”, “hohl” und “fake” gelabelt hat – vielleicht nicht als Rache, aber doch als Abrechnung mit diesem unterkomplexen Stereotyp. Fun Fact Nummer 1: Glamour ist ursprünglich ein Begriff, mit dem unredliche Zauber oder Hexereien bezeichnet wurden, und ist somit geradezu prädestiniert misogyn besetzt zu werden. Fun Fact Nummer 2: 1993 vertauschten US-amerikanische feministische Aktivist:innen in verschiedenen Spielzeugläden die Stimmen der Barbie-Puppe mit der im Inneren der Militär-Action-Figur G.I. Joe, woraufhin Barbie auf Knopfdruck ​“vengeance is mine” rief. 

Barbie als Antitypus des Pick-Me-Girls

Barbiecore ist, wenn man ihn denkt wie Reisinger, auch die ultimative Versöhnung mit allen Britneys und Parises, die nicht nur von Männern im Patriarchat abgewertet wurden, sondern auch von Frauen, die zu lange versucht haben, dem Male Gaze gefällig zu sein. Hier kommt die dritte Säule ins Spiel, die der Rückkehr des Barbiecore mit seiner neuen politischen Schlagkraft die Bühne bereitet hat. Nämlich die Debatte um eine der größten Antagonistinnen der vierten feministische Welle: das Pick-Me-Girl. 

In feministischen Kreisen, die sich aktiv den Schnittstellen von Kapitalismuskritik und Patriarchatskritik widmen, steht das Pick-Me-Girl synonym für eine Ellenbogen-Kultur mancher Frauen, die sie anwenden, um innerhalb eines patriarchalen Systems nach oben zu kommen, statt dieses selbst zu unterwandern. Typische Sätze des Pick-Me-Girls sind: “Ich bin nicht wie andere Frauen”, “Ich kann viel besser mit Männern, die machen weniger Drama” oder auch: “Eine Frauenquote finde ich unnötig – wer sich anstrengt kann alles schaffen”. Das Pick-Me-Girl ist der Antityp zu solidarischen Bewegungen und die (weibliche) Galionsfigur der Hustle Culture. 

Barbiecore entfaltet also feministisches Potenzial, indem die Träger:innen mal ernsthaft, mal spielerisch in alle Klischees eintauchen, die das Pick-Me-Girl ablehnt – inklusive pinker Stilettos und Gespräche über das beste Maniküre-Studio.

Der Barbiefilm als kapitalistische Vermarktungsmaschine

Und wenn wir schon bei Kapitalismuskritik in Verschränkung mit Feminismus sind, sind wir auch schon bei Greta Gerwigs Barbie-Blockbuster, beziehungsweise bei der nicht so leicht zu beantwortenden Frage, inwieweit in ihm feministisches Potenzial steckt. Vorneweg: ein Film ist niemals feministisch. Er kann feministische Figuren inszenieren, er kann sicherlich auch im Plot feministische Fragen verhandeln und implizit feministische Aussagen über das Schicksal seiner Figuren treffen – aber der Film selbt, insbesondere einer in der Größe wie Gerwigs “Barbie”, ist in erster Linie eine Vermarktungsmaschine. In diesem speziellen Fall vielleicht eine der besten Film-Vermarktungsmaschinen aller Zeiten. Inklusive Barbie-Filtern, mit dem jede:r Instagram-User:in eine individuelle Selfie-Version der Film-Poster erstellen kann, einem pinkes Dreamhouse, das Airbnb-Gäste ein paar Wochen vor Film-Release plötzlich in den Inseraten in Malibu entdeckten und legendären Press-Tour-Looks von Margot Robbie, deren Stylist für jede Premierenfeier ein anderes Outfit rekreierte, das die echte Barbie-Puppe in der Vergangenheit trug. 

Diese extreme Anstrengung, ein signifikantes popkulturelles Erlebnis zu schaffen, das über den Film hinausweisen soll, ist kein Wunder, bedenkt man, dass Mattel – der Spielzeughersteller der Barbie-Puppe – nicht nur Rechte für den Film freigegeben hat, sondern diesen initiiert und gesponsert hat. Mattel verfolgt mit dem Barbie-Film ein zeitgemäßes Rebranding seiner Puppen mit ökonomischem Kalkül. Ein Fakt, der spätestens nach einem Artikel des Time Magazine klar wird, das von Mattels Plänen berichtete, nach Barbie auch Polly Pocket, He Man und andere Plastik-Figuren aus dem Spielzeughaus ihren Weg auf die Leinwand finden.

Die Anstrengungen, Barbie wieder populär zu machen, leistet der Hersteller bereits seit 2014. Zuvor hatte das Unternehmen Rekord-Tiefs in seinen Umsatzzahlen verzeichnet – nicht zuletzt aufgrund von umfassender Kritik an dem problematischen Body/Diversitäts-Image, das die weiße, normschöne, dünne, cis-Puppe verkörpere.   Es folgten Schwarze Puppen, behinderte Puppen, Plus-Size Puppen, und jetzt eben ein Film, der von vornherein wusste, was er zu tun hatte, um als zeitgemäß zu gelten. 

Allen voran Greta Gerwig als Regisseurin einzusetzen, denn schon lange bevor der Trailer zum Film erschien, waren sich Content-Creator:innen in den sozialen Medien und Greta-Fans einig: der Film würde eine feministische Botschaft haben. Schließlich sei die Frau am Werk, die mit dem emanzipatorischen Coming-of-Age Film Lady Bird und der Neuerzählung des Historiendramas Little Women als Erfolgsgeschichte einer jungen Autorin, bekannt wurde. 

Auch die Plakate der Barbie-Film sprächen für eine feministische Botschaft, hieß es von allen Seiten. Diese zeigten nämlich nicht nur die verschiedenen Body-diversen Schauspieler:innen, die unterschiedliche Barbie und Ken-Versionen verkörpern sollten, von einer Schwarzen Schauspielerin zu einer trans Frau – sondern konzentrierten sich auch auf die Bewerbung des wohl feministischen Attributs der originalen Barbie-Puppe. Ihre Karriere. So waren die Protagonist:innen auf den Postern alle von ihrer (sehr angesehen) Berufsbezeichnung begleitet. “This Barbie is a doctor” (Hari Nef), “This Barbie has a Nobel Prize” (Emma Mackey), “This Barbie is a diplomat” (Nicola Coughlan). Die Ken Poster hingegen waren begleitet von den Phrasen “He is just Ken”, “He is also Ken”, “He is ken, too”. Es sei der ultimative Kommentar darauf, dass Ken schon immer bestenfalls ein menschliches Accessoire für Barbie war, während diese in ihrem langen Puppenleben schon in über 200 Karrieren brillierte. Als Astronauten-Barbie von 1986, als Piloten-Barbie 1991 oder als Sportlerin bei den olympischen Spielen 2001. 

Eines hat das Marketing in jedem Fall geschafft: Einen Hype kreiert – ob es darum ging, dass Personen in den sozialen Medien teilten, welches ihre erste Barbie war, oder Kolleg:innen in der Kaffeeküche davon sprachen, was sie zur Premiere tragen würden. Ein Hype der durch die Oppenheimer/Barbie-Memefication zu Barbenheimer (beide Filme wurden auf den 20.07. geplant) nur noch größer wurde. 

Aber kann eine Verfilmung, die bereits im Vorfeld so viel Erwartungen entfacht hat, das Versprechen des Barbiecores einlösen, wenn sie die Barbie bereits auf den Plakaten ausgerechnet als Girl Boss (übrigens die Schwester des Pick-me-Girls) und Ken als bloßes Beiwerk inszeniert, wo doch das neue Pink – zumindest im echten Leben – nicht nur eine Befreiung von veralteten Bildern zu Weiblichkeit sein soll (niemand muss mehr Anwältin, Mutter und Model zugleich sein), sondern darüber hinaus alle Formen von binären Genderstereotypen unterlaufen soll. Auch, und vielleicht sogar allen voran, die Vorstellung von Maskulinität. Denn das ist es schließlich, was die Idee des Pick-me-Girls aufrechterhält. Barbiecore ist Teil dieser unterlaufenen altmodischen Männlichkeit, ob in Harry Styles plüschiger Bühnenästhetik oder als Daniel Craig, der zur letzten Bondpremiere in einem fuchsiafarbenen Samtanzug erschien. Nicht zuletzt deshalb ist die Gleichsetzung des Barbiecores mit der Hyperfeminität, die man nun in zahlreichen Rezensionen liest, unzureichend.

Ab hier Spoiler-Warnung zum Film.

Ken muss also mindestens mit der Inszenierung seiner reinen Männlichkeit hadern, wenn Greta Gerwigs Film zeitgemäßen Feminismus porträtieren will. Und der Film muss clever mit dem Übertritt in die “echte Welt” arbeiten, den Barbie vollziehen muss, nachdem sich ihre Fersen absenken und sie plötzlich – statt wie sonst elegant schwebend – plump von ihrer Veranda neben ihr Cabrio zu Boden fällt. So verkündet es ihr zumindest die “weird Barbie”, die die Rolle eines Orakels einnimmt. Barbie müsse nun wählen, heißt es, zwischen ihrem alten, sorglosen Leben im Barbie-Matriachat (sie hält symbolisch einen pinkfarbenen Stiletto in die Höhe) und der Rettung des Mädchens, das im echten Leben (symbolisiert durch eine dunkelbraune Birkenstock-Latsche)  mit ihr spiele. Denn die seltsamen Vorkommnisse samt flacher Fersen, seien ein unweigerliches Indiz, dass es besagtem Mädchen im echten Leben nicht gut ginge. 

David Pfeifer vermutete bereits im September 2022 in der SZ, was hinter diesem Plot-Kniff stecken könnte: “Barbie muss Barbieland aufgrund ihrer Makel verlassen und stellt in der echten Welt fest, wie wenig äußere Schönheit bringt, wenn es drinnen nicht stimmt.” Das wäre – nicht nur für die Idee des Barbiecores, sondern auch aus feministischer Sicht – mehr als enttäuschend in seinem über simplifizierten Gegensatz von äußerer Ästhetik und inneren Werten. Und zum Glück kommt es im Film auch nicht zu dem vereinfachten Dualismus zwischen echter Welt und Barbieland – ebenso wenig, wie er sich darauf festnageln will, dass Barbie eine feminstische Heldin ist. 

Noch keine drei Minuten des Films sind vergangen, da hört man bereits Helen Mirren als Erzählerin sehr überspitzt formulieren, dass Barbie wirklich jedes Problem gelöst habe, das Frauen in der realen Welt so haben. Und wir gehen mit diesem schmunzelnden Bewusstsein in den Film, dass Barbie vielleicht eine Idee sein kann, aber eben auch nicht mehr als das. Unter diesen Vorzeichen begleiten wir sie dabei, wie sie in der echten Welt auf den CEO von Mattel und Entscheidungsträger über die neuen Barbies trifft, die auf den Markt kommen sollen und der es nicht für nötig erachtet, Frauen in seinem Führungsstab zu haben. Wir sehen, wie Ken in der echten Welt zum ersten Mal den für sich süßen Nektar des Patriarchats schmeckt – und ihn direkt mit ins Barbieland nimmt, um mit allen anderen Kens eine cowboyeske Parallelgesellschaft zu erschaffen. Und wir sehen, wie Barbie Barbieland von den Einflüssen der echten Welt wieder befreien will. 

Ob diese echte Welt gerettet wird, darum ging es nie – ebenso wenig darum, dass Barbie ihren Glamour ablegen muss, um das Patriarchat zu bekämpfen. Vielmehr war es die Rettung von Barbieland und der Idee Barbie, der sich “Stereotypical Barbie” annehmen muss, um dem sehr natürlichen, ernüchternden Prozess des Erwachsenwerdens als Frau entgegenzutreten. Sehr im Modus des Kindes auf der Schwelle zum Jugendalter ist es schließlich der Gedanke an den Tod, der Barbies erste Verbindung mit der echten Welt eröffnet, in der die Männer regieren und die Erfinderin der Barbie, Ruth Handler, nur noch in einem abgeschiedenen Zimmer in der Traumfabrik Mattel an einem kleinen Küchentisch vor sich hin denkt. 

Barbie als feministische Befreierin hat in diesem ernüchternden Prozess keinen Platz mehr, das macht ihr das Mädchen in der echten Welt schnell klar, die schon seit Jahren nicht mehr mit Barbie spiele, ebenso wie die Idee der reinen Männlichkeit, nicht mit Barbieland vereinbar ist, in dem nach der patriarchalen Kenifizierung Präsidentinnen-Barbie, Nobel-Preis-Barbie und Co. nur noch eisgekühlte Getränke servieren. Man ahnt es bereits in den ersten Szenen, lange vor dem finalen Kampf, der eigentlich ein Dance-Battle der Kens ist, dass in der Befreiung der Kens ein zentraler Schlüssel der neuen Barbie-Idee liegen muss, die zu Beginn des Filmes nur dann zusammenkommen, wenn es darum geht, Macht gegeneinander zu markieren. Der andere elementare Bestandteil der Überdauerung der Barbie-Idee kommt, wie sollte es auch sonst sein, von der einzigen Person in der Geschichte, die noch aktiv mit Puppen spielt, ihre Geschichten weiterdenkt und Barbie in ihren Mode-Skizzen neue Kostüme zurechtschneidert. Ihr Vorschlag: die Entwicklung einer “ordinary barbie”, die, so die menschliche Protagonistin des Filmes, einfach nur durch ihren Tag kommen will, vorzugsweise in einem cuten Top – also quasi die Anti-Girl-Boss-Barbie. Das ist alles sehr viel besser als die Vorstellung, dass Barbie in der echten Welt erkennen muss, dass ihre Barbie-Welt nichts als Schaum und Traum ist – und es wäre der natürlichen Bewegung von Kindheitsträumen und dem Identifikationsspiel mit Puppen auch nicht gerecht. 

Wenn der Film allerdings dieselbe Bewegung machen würde, wie der Barbiecore Trend, dann wäre es nicht Barbieland, was gerettet werden müsste, sondern es wäre Barbie, die, mit all ihrer Widersprüchlichkeit und pinkem Glitzer, die echte Welt rettet. Und Barbie würde, wenn sie sich zuletzt entscheidet, lieber in der echten Welt zu leben, auch nichts von ihrem Glitzer oder Make-up einbüßen müssen, wie sie es leider im Film letztlich tut. Über diese Enttäuschung tröstet dann leider auch nicht mehr das verkitschte Gespräch mit Ruth Handler hinweg, die ihr Dea ex Machina nach der Rettung des Barbielands begegnet, um ihr die Absolution zu erteilen, ein ordinäres Leben mit all seinen Höhen und Tiefen in der echten Welt zu leben. Nicht nur wird in dieser Szene ein durch und durch unangenehmer Mutter-Komplex auf den Plan gerufen, das Publikum wird außerdem noch einmal daran erinnert, dass der Film, so viel an ihm in feministischer Hinsicht aufgehen mag, auch zur aktiven Neuschreibung der Firmengeschichte Mattels durch die Inszenierung der Gründerin als sanftmütige Gerechtigkeitskämpferin dienen soll. 

Zumindest rettet “Steretypical Barbie” – im Kollektiv mit den anderen Barbies wohlgemerkt – Barbieland vor den Einflüssen des Patriarchats, das Ken aus der echten Welt miteingeschleppt hat. Die Erkenntnis, die das Kenoversum schließlich zum Bröckeln bringt, besteht darin, dass Ken (oder die Männlichkeit) nicht als Einheitsbrei funktionieren muss, sondern von der Vielzahl der individuellen Kens lebt, die die Kenergy aktiv selbst gestalten können. Und ganz am Ende bekommen die Barbiecore-Feminst:innen doch noch ein kleines metaphorisches Versöhnungsgeschenk-Geschenk in der echten Welt, wenn die ursprüngliche Wahl zwischen pinken Stilettos und Birkenstocks in Margot Robbies letztem Kostüm des Filmes in pinkfarbenen Glitzer-Latschen aufgelöst wird. Ganz so als sollten wir mit der Botschaft den Kinosaal verlassen, die auch Barbiecore mitliefert, nämlich dass wir – die Feminist:innen der Gegenwart – uns nicht entscheiden müssen zwischen einem glamourösen Leben und dem politischen Kampfgeist – beides geht zu gleichen Teilen und miteinander vielleicht sogar noch besser als vorher.

Foto von Avinash Kumar auf Unsplash

High-Low-Wendeschleifen – Mode, Kunst und kulturelle Aneignung

von Annekathrin Kohout

Fashion shows be like

„Drama Baby, Drama!“ ertönt die betörende Stimme von Ex-GNTM-Jurymitglied Bruce Darnell im Hinterkopf, wenn man dem auf den Fiji-Inseln lebenden Comedian Shaheel Shermont Flair (@shermont_22) bei der Inszenierung seiner ganz persönlichen Fashion Show auf TikTok zusieht. Wenn er die Gehhilfe seiner Großmutter über den Schultern, das verrostete Wellblech vom Dach um die Hüften, oder seine kleine Schwester unter dem Arm anmutig, bestimmt und ein wenig lasziv über die Zufahrt zu seinem Wohnhaus trägt, ist man sofort im Catwalk-Mood. Zumal er die Videos musikalisch mit einem Remix des Justin Timberlake-Klassikers „Sexy Back“ unterlegt.

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@shermont22

full part 1 to 10 compilation incase if you missed any 😂

♬ Cumbia Buena – Grupo La Cumbia

Wer nicht in die Codes von Kunst und High Fashion eingeweiht ist, dem dürften manche Outfits als Skurrilität erscheinen. Die Videos von Shaheel Shermont Flairs sind aus dieser Perspektive gedreht und damit eine Parodie auf die Laufstege der internationalen Mode-Elite. Nicht ganz zufällig gingen die Clips parallel zur Haute Couture-Woche in Paris im Juli dieses Jahres auf den Newsfeeds von TikTok und Instagram viral. Innerhalb kürzester Zeit wurden sie millionenfach geliked, geteilt und unter dem Slogan und gleichlautenden Hashtag „Fashion shows be like“ zum Meme. 

Schließlich repostete auch der Kunstkritiker Jerry Saltz eine Kompilation von Shaheels TikToks mit dem Untertitel „Better than most Biennial art. Better than most fashion shows“ auf seinem Profil, was wiederum von Stardesignern wie Marc Jacobs mit „It’s so good better than what’s seen on many runways. for sure.“ kommentiert wurde und bei weiteren Followern den Wunsch auslöste, er solle Flair doch für eine richtige Fashion Show engagieren. Dass das passieren könnte, ist wiederum keinesfalls abwegig. Es würde sich perfekt in die vorherrschenden Mechanismen permanenter gegenseitiger kultureller Aneignungen und Behauptungen einfügen, die – einst aus der Bildenden Kunst bekannt – nun durch die Sozialen Medien so etwas wie eine Alltagspraxis geworden sind.

Shaheel Shermont Flairs Videos führen satirisch bereits die gängigen Aneignungsstrategien vom Ready Made bis zum Zitat in der High Fashion vor Augen. Wie Marcel Duchamp einst den Flaschentrockner ins Museum stellte, so brachten Vetements das DHL-T-Shirt oder Balenciaga die Ikea-Tasche auf den Laufsteg, womit immer auch ein Prestige- und Wertanstieg einhergeht. Etwas vermeintlich kulturell Wertloses wird durch ein Label und eine extreme Preiserhöhung aufgewertet. Das muss nicht immer so explizit sein, wie im mittlerweile historischen Beispiel des DHL-Shirts, sondern kann auch allgemeinere Formen annehmen, man denke nur an Pantoletten, die neben Ugly Sneakers nun von fast allen Luxusbrands vertrieben werden und damit nicht mehr nur 3,50 Euro, sondern – zum Beispiel bei Gucci – 350 Euro kosten und somit nicht mehr nur noch praktischer Alltagsgegenstand sind, sondern von einem ,Je ne sais quoi‘ umweht werden.

Diese Aufwertung betrifft allerdings nur das Produkt – z.B. die Pantolette – nicht diejenigen, aus deren sozialen und kulturellen Kontext das Produkt entnommen wurde. DHL-Mitarbeiter:innen dürften keinen Prestige-Gewinn durch die Adaption ihrer Arbeitsuniform durch Vetements erfahren haben, einige ‚Rich Kids of Instagram‘ hingegen schon. Um das DHL-Shirt überhaupt als künstlerisches Produkt sichtbar werden zu lassen, ist der soziale Kontext wichtig. Ohne den Porsche in der Einfahrt würde man eben doch nur wie der Postbote aussehen.

Shaheels Einfahrt ist hingegen so ganz und gar nicht glamourös, sondern zeugt von tendenziell prekären Lebensumständen. Er ist nicht Teil einer finanziellen oder kulturellen Elite. Sein Fashion-Show-Zitat entzieht sich dem erwarteten demütigen Verhältnis gegenüber einem genialen (Mode-)Schöpfer, offenbart Banales im sonst als bedeutungsvoll Angesehenen. Genau darin besteht die gelungene Parodie. Die Entthronung ist zwar nur ein erfrischendes Augenzwinkern, der Ausdruck von Befremdung gegenüber einer Welt, zu der man keinen Zugang hat – allerdings ist sie auch sehr ernst gemeint.

Und Jerry Saltz? Der nutzt die Videos seinerseits für eine kleine Erfrischung. Indem er die Verwunderung Shaheels teilt, suggeriert er, dass er sich selbst und das Kunst- bzw. High Fashion-Milieu nicht so ernst nimmt. Es dient ihm demnach als Selbstinszenierung. Seine Aneignung ist zudem eine Rückaufwertung. Hat Shaheel die Fashion Show zunächst von High zu Low transferiert, importiert Saltz sie nun wiederum in den hochkulturellen Raum. Auf die anfängliche Entkunstung folgt eine erneute Verkunstung. Denn die Einstellung gegenüber dem Originalvideo verändert sich mit dem neuen Kontext. Nachdem das Video auf dem Account des bekanntesten US-amerikanischen Kunstkritikers veröffentlicht wurde, stellt sich plötzlich die Frage: Ist es vielleicht doch nicht ‚nur‘ ein witziges TikTok-Video, sondern als ‚high culture‘ anzusehen? Sollte Shaheel in der kommenden Saison bei Balanciaga mitlaufen, könnte sich diese Perspektive durchgesetzt haben. Gerechtfertigt wäre es allemal. Oder er könnte für JW Anderson posieren, sollten diese sich erneut entscheiden, Fahrradlenker und Skateboards in ihre Knitwear einzuarbeiten.

Cultural Appropriation

Appropriation ist bekanntermaßen in der Mode gang und gäbe: vom Ready Made übers Zitieren, Variieren und Remixen. Dabei geht es immer um Distinktion, die ständig verfeinert und ersetzt wird. Sie basiert einerseits auf dem Prinzip der „Nachahmung eines gegebenen Musters und genügt damit dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung“, gleichzeitig befriedigt sie aber auch das „Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sich-Abheben“.[1] Wie in der Bildenden Kunst findet dabei immer auch eine Kontextverschiebung statt.

Da mit Mode kulturelle und soziale Hierarchien ausgehandelt werden, sind die meistens mit Kopien verbundenen Kontextverschiebungen im Allgemeinen kein leichtes Unterfangen. Eine etablierte Kritik lautet etwa, dass durch die Aneignung und Vereinnahmung jugend- und subkultureller Codes die ursprünglich provokativen Impulse entwaffnet oder zumindest entschärft werden. Diana Weis hat in diesem Zusammenhang einmal vom „Stil als kultureller Kriegsführung“[2] gesprochen und darauf hingewiesen, dass vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskurse um Identität und soziale Ungleichheit auch Modetrends ethische und politische Fragen aufwerfen, die eine Antwort erforderlich machen.

Das ist insbesondere unter dem Schlagwort „Cultural Appropriation“ bereits vielfach geschehen. Einer ganzen Reihe von Luxuslabels wurde in den letzten Jahren vorgeworfen, sich aus anderen Kulturen zu bedienen, um ihren eigenen Profit und Gewinn zu erzielen, dann aber wenig zurückgegeben. Gucci sah sich etwa nach seiner Herbstshow 2018, bei der weiße Models Turbane trugen, mit dem Vorwurf konfrontiert, damit die nordindische Religionsgemeinde der Sikhs auszubeuten, die ebensolche Kopfbedeckung tragen. Die Anschuldigungen verschärften sich, als die Marke den Turban bei Nordstrom für 790 Dollar zum Verkauf anbot. Während Nordstrom das Produkt wieder aus seinem Shop nahm und sich auf Twitter entschuldigte, bleibt eine Reaktion von Gucci bisher aus.

.@gucci @Nordstrom The Sikh turban is not just a fashion accessory, but it’s also a sacred religious article of faith. We hope more can be done to recognize this critical context. #appropriation https://t.co/p1z3CYq0NT

— Sikh Coalition (@sikh_coalition) May 15, 2019

In der Debatte um Cultural Appropriation ging es immer wieder um die Frage, wann es sich um eine Würdigung der kulturellen Herkunft handelt und damit um eine Wertsteigerung (denn davon geht man offenbar immer aus: dass mit dem Transport in einen hochkulturellen Bereich zwangsläufig eine Aufwertung verbunden ist), und wann um Diebstahl oder die Unsichtbarmachung der ursprünglichen Produzent:innen und ihrer Arbeit. Besonders kritisch ging man mit der Bezugnahme auf afrikanische Mode ins Gericht. Zahlreiche Designer wie Jean Paul Gaultier, Donna Karan und Dolce & Gabbana hatten sich hier bedient. Doch während deren Kollektionen weltweit Beachtung fanden, wurde afrikanischen Designer:innen nicht das gleiche Rampenlicht zuteil. Sie müssen zuschauen, wie etablierte westliche Luxuslabels ihre Stoffe, Schnitte und Muster verwenden.

Dass sich Gucci nicht zu den Vorwürfen geäußert hatte, ist vor diesem Hintergrund signifikant, denn die Designer würden wahrscheinlich beide Perspektiven ablehnen. Viel zu stark sind Kreativdirektoren wie Alessandro Michele einem westlichen Kunstbegriff verhaftet und sehen sich und ihre Methoden in der Tradition von Ready Made, Pop Art und Appropriation Art. Dieser basiert auf einer Freistellung vom ursprünglichen Kontext und ist oft verbunden mit der Zurschaustellung des Kopierakts selbst. Appropriation Art wird als Reflexion über künstlerische Strategien und künstlerisches Schaffen, die Dialektik von Original und Kopie, oder als Infragestellung der Kunst an sich angesehen. Das kopierte Objekt selbst spielt dabei eine untergeordnete Rolle.

Allen ‚Filterbubbles‘ zum Trotz findet Mode heute jedoch nicht mehr hinter verschlossenen Türen statt, nicht mehr nur auf den Laufstegen oder in Modemagazinen, sondern wie alles andere auch in den Sozialen Medien. Und die Sozialen Medien sind eben kein Laufsteg, Theater oder Museum. Sie sind kein Ort, an dem sich etwas freistellen und ohne den Herkunftskontext betrachten lässt. Sie sind zudem kein Ort für gezielte Adressierung. Verletzungen können so schwer umgangen werden.

Poverty & Class Appropriation

In den letzten Jahren tauchten auf den Laufstegen zudem immer wieder Anspielungen auf Berufe der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht auf: OP-Oberteile bei Prada, Feuerwehrjacken bei Calvin Klein, eine kastenförmige Off-White-Jacke, die an die Uniform eines Tankwarts denken lässt. Und nicht zu vergessen das gelb-schwarz gestreifte Baustellen-Absperrband, das bevorzugt von Off White und Balenciaga zum Einsatz gebracht wird.

Wenn es auch deutlich seltener thematisiert wird als Cultural Appropriation, wird doch hin und wieder in solchen Fällen von „Class Appropriation“ gesprochen. Auch die Adaption klassenspezifischer Codes wird als Ausbeutung betrachtet. Man denke etwa an das kleine Schwarze von Chanel, das – wie heute nur Wenige wissen – aus den Reihen der Arbeiterklasse stammt: Im späten 19. Jahrhundert wurde das düstere Kleidungsstück zur umstrittenen, aber obligatorischen Uniform für eine neue städtische Klasse von Hausangestellten und Verkäuferinnen. Einige Jahrzehnte später war die Assoziation zwischen dem schwarzen Kleid und arbeitenden Frauen sogar derart gefestigt, dass es schließlich bei Chanel sowohl als vornehm als auch als subversiv angesehen werden konnte. Das kleine Schwarze von Chanel wurde für die Kundinnen zur Rebellion gegen das Korsett, zum Ausdruck von Ermächtigung und Stärke – und zwar indem sie sich als Dienstmädchen verkleideten, die zuvor unter eben diesem Kleidungsstück gelitten hatten.[3]

Hierzulande hatte vor nicht allzu langer Zeit eine Tasche für Aufregung gesorgt, die Lars Eidinger in Kooperation mit dem Designer Philipp Bree entworfen hatte: Sie appropriierten die ikonische ALDI-Tüte im Design von Günter Fruhtrunk, nur in gedeckteren Farben, aus hochwertigem Leder und in limitierter Auflage für jeweils 550 Euro. Selten wurde ein Modeobjekt so einhellig abgelehnt. Nur in ausgesprochen wenigen Fällen wurde honoriert, dass die Tasche in ihrer Dekadenz gerade vor Augen führen könnte, wie in der Großstadt Armut und Reichtum zusammenkommen. In allen anderen Fällen lautete der Vorwurf: „Klassismus“. Da kein anderer Discounter so prominent für „billig“ und „low“ steht, könne man hier tatsächlich sogar von „Poverty Appropriation“ sprechen, eine Formulierung, die 2015 von der Journalistin July Westhale in einem Artikel über luxeriöse Tiny Houses geprägt wurde.[4]

Auch unter modischen Gesichtspunkten war die Eidinger/Bree-Tasche eine eher langweilige Nachahmung jener Label, die sich immer wieder und variantenreich mit der Kopie und dem Kopieren beschäftigen, Pro-Fake-Brands wie Vetements und Balenciaga unter Demna oder Off-White unter dem mittlerweile verstorbenen Virgil Abloh. 2017 hatte Demna die allseits bekannte und beliebte blaue IKEA-Tragetasche appropriiert. Sie wurde für 1400 Euro verkauft. Nun ist IKEA nicht mit Armut assoziiert, aber es überrascht dennoch, dass diese Tasche insgesamt sehr positiv aufgenommen wurde. 

Zum einen von den Fans der Marke und ihrer Community selbst, die sich erfreut über die positiven Erinnerungen zeigte – und zwar unabhängig davon, ob man sie sich leisten kann oder sie nur als eine Art Happening im Social Web rezipiert. Zum anderen aber auch von IKEA, die gewissermaßen auf Augenhöhe reagierten, indem sie eine Werbekampagne in Form eines Memes mit dem Slogan „Hier bekommen sie das Original für 50 Cent!“ zirkulieren ließ. Auch andere Eigenkreationen aus IKEA-Beuteln gingen viral – String-Tanga, Gasmaske, Baseball-Kappe, Turnschuhe. In dieser positiven und humorvollen Reaktion auf die Mode-Appropriation wird deutlich, was solche Interventionen bestenfalls bewirken: Sie sind inspirierend, anregend. Gerade in ihrer Einfachheit, hinter der man wie auch beim Readymade in der Kunst so einiges an Theorie und Selbstreflexion verborgen glaubt, besteht ihr großer Effekt: eine Art intellektuelles ASMR.

Aufsteigerperspektive

Manchmal ist es schon erstaunlich, wie sensibel die Öffentlichkeit für Kontexte sein kann. Dass Fans von Pro-Fake-Brands wie Balenciaga nostalgische Gefühle entwickeln, lässt vermuten, dass unter ihnen viele sind, die eine Aufstiegsbiografie besitzen. Wer als Kind mit den Eltern zu Ikea ging, kann sich nun selbst eine 1,4k-Tasche leisten. Für Demna und auch für Virgil Abloh trifft das jedenfalls zu. Demna floh als Kind mit seiner Familie während des Georgisch-Abchasischen Krieges 1992/93 nach Deutschland. Abloh wanderte mit seiner Familie aus Ghana in die USA aus.

Die Schriftstellerin Taiye Selasi beschreibt in einem Essay in dem Catalogue raisonné  “Artwork’ Virgil Abloh 1980-2019” Ablohs Aufwachsen als Einwanderer in den USA. Für Afro-Amerikaner ist diese Zeit voller Zugangsbeschränkungen: HipHop war zwar erlaubt, ist es doch das, was ohnehin alle von einem Schwarzer Teenager erwarten, doch Skaten – eine „Domäne der Weißen“ – wurde bereits als Akt der Rebellion angesehen. Da er ständig mit dem Druck konfrontiert gewesen sei, einem bestimmten kulturellen Stereotyp entsprechen zu müssen, sei es ihm zu einem intrinsischen Anliegen geworden, selbst wählen zu können, wer man ist, was man konsumiert, welcher Subkultur man angehört. Und auch scheinbar Widersprüchliches zu vereinen. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass sich dieses Empowerment durch Mode und Konsum in seiner Arbeit als Designer widerspiegelte – nicht zuletzt in eben jenen Grenzüberschreitungen zwischen den Milieus.

Was an der ALDI-Tasche von Eidinger und Bree für Widerstand gesorgt hatte, war nicht unbedingt die Tasche selbst, sondern mehr noch die dazugehörige Kampagne, in der sich Eidinger mit Obdachlosen und als Obdachloser inszenierte, obwohl er höchstwahrscheinlich keine eigene Erfahrung mit Armut hat. Denn natürlich macht es einen Unterschied, ob man bestimmte Erlebnisse gemacht hat – oder sie nur aus Erzählungen kennt. So sind die Ikea-Tasche oder das DHL-Shirt nicht entwürdigend, eine ALDI-Tasche, die man mit Obdachlosen bewirbt, denen diese niemals zugute kommen wird, hingegen schon.

Sieht man sich die genannten Pro-Fake-Brands an, wird deutlich, dass die soziale Situation, aus der eine Tasche oder ein Objekt kommt, nicht mitkopiert wird, weil es ihnen um die Grenzüberschreitung selbst geht. Diese gelingt übrigens nicht nur ausschließlich durch ein ‚Kopieren von unten‘. Die damit verbundene Stimulation, gelingt auch, wenn, wie im Fall von Balenciaga, als Referenz Gucci herhält – wie im „Hacker-Projekt“, das Ende letzten Jahres präsentiert wurde. Die Artikel basierten ganz offensichtlich auf den aktuellen Gucci-Totebags, -Handtaschen, -Clutches, -Geldbörsen, -Schals und -Konfektionsartikeln, mit Ausnahme von Schuhen, das Gucci-Doppel-GG wurde durch ein Doppel-BB ersetzt und auf so manch ein Produkt stand im Graffiti-Stil der Schriftzug „This Is Not A Gucci Bag“.

Was Demna aus dem IKEA-Store heraus auf den Laufsteg brachte, hat Abloh übrigens durch seine eigens für IKEA entworfene Kollektion aus der Hochkultur wieder zurück in die Markthalle des Möbelgeschäfts geführt. Zu den berühmtesten Mode-Stücken Off-Whites gehören Taschen, auf denen in großgeschriebenen Helvetica-Buchstaben „Sculpture“ in Anführungszeichen steht. In seiner Neuinterpretation der „Frakta“-Tasche hat Abloh dementsprechend das blaugelbe Kunststoffdesign durch einen papierartigen Stoff mit dem Aufdruck “Sculpture“ ersetzt. Sie hat dann zwar nicht mehr 50 Cent, aber trotzdem nur 10 Euro gekostet. Dass es darum ging, hier nun umgekehrt Kunst in die Alltagskultur zu bringen, wurde an der Inszenierung der Kollektion im Eingangsbereich von IKEA sichtbar: Dort wurden die einzelnen Objekte installativ angehäuft – ganz ähnlich, wie sie Abloh auch in seiner Ausstellung „Figures of Speech“ im Brooklyn Museum in New York präsentierte.

„The rich are openly mocking us“

Fast schon wie eine Reaktion auf die Fashion-Show-Parodie von Shaheel Shermont Flair wirkte die entschiedene Absage an den Laufsteg von Yeezy x GAP (dem Label von Kanye West), bei deren Release mit ihrer Balenciaga-Kooperation Ende Juli das sog. „Dumpster Diving“ alias Containern mal eben zum Lifestyle-Event erklärt wurde. Ein Hoodie kostet um die 300 Euro. Dass dort Menschen waren, die wirklich Containern gehen oder dies sogar müssen, ist demnach nicht nur unwahrscheinlich, sondern ausgeschlossen.

@highsnobiety

We went dumpster diving at #yeezy @gap’s LA activation. What do you think of this concept? via @auntviv (IG) for Highsnobiety #snobtok #kanye #losangeles

♬ original sound – Highsnobiety

Ist Kanye hier zu weit gegangen? Zumindest in den Sozialen Medien zeigen sich bereits ausgesprochen zwiegespaltene Reaktionen: „The rich are openly mocking us and y’all happily participate“ oder „Support the poor little people instead.“ oder „Humiliating. The worst example of appropriation and glamorisation of poorness. Gross.“, lauteten Kommentare auf den Einblick von Highsnobiety auf TikTok. 

Insgesamt war ein großes Unbehagen spürbar, angesichts der Fetischisierung von Armut durch den gutbürgerlichen, umstrittenen und superreichen Megastar Kanye West. Sie entsteht vor allem, wie auch schon bei der Obdachlosen-Inszenierung von Eidinger und Bree, durch das Kopieren einer sozialen Realität, deren Anblicke auch jene Menschen triggern wird, die wirklich einmal Containern mussten oder müssen, da sie sich kein Essen leisten können. Hier lässt sich nun wirklich von Poverty Appropriation sprechen.


[1] Simmel, Georg: Die Mode, in: Bovenschen, Silvia (Hg.): Die Listen der Mode, Frankfurt am Main 1986, S. 179 – 207, hier S. 181.

[2] Weis, Diana: In bester Parallelgesellschaft, in: Blumhardt, Olga/Drinkuth, Antje (Hg.): Traces. Fashion & Migration, Berlin 2017 – oder hierhin verlinken: http://dianaweis.com/publikationen/mode-migration-jugendkulturen/

[3] Shelley Puhak: The Underclass Origins of the Little Black Dress, in: https://www.theatlantic.com/technology/archive/2017/10/the-underclass-origins-of-the-little-black-dress/542910/

[4] https://medium.com/the-establishment/the-troubling-trendiness-of-poverty-appropriation-4d3681406320

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