Rattenfängerin

eine Erzählung von Sonja Lewandowski 

 

Den Maulwurf fand ich im Hof. Alle Viere von sich gestreckt, lag er auf dem Beton, kein Erdhügel in Sicht, aus dem er gestiegen sein konnte. Ich steckte ihn in die Brusttasche meiner Latzhose und ließ die noch feuchte Steckdosennase herausschauen, sie sahen ja alle nichts. Mit geschwollener Brust ging ich an diesem Morgen in die Schule. Dort bahrte ich ihn in einem Schuhkarton auf, aus dem ich die gestern gebastelte Vierzimmerwohnung riss, stellte mich neben die Toiletten auf dem Schulhof und nahm in den Pausen Eintritt für einen Blick.

Der schwarze Wurf lag auf dem Bauch, darunter ein Hügel aus Wundwatte, die hatte ich aus dem Spiegelschrank meiner Mutter genommen. Die weißen Fasern quollen unter seinem Körper hervor und verfingen sich in den nach außen gedrehten Grabschaufeln. Nahm man ihn heraus, hingen ihm Wattefäden an den erdigen Krallen. Der kräftige Horn war mir vertraut. Wenn ich meiner Mutter die Schuhe und Strümpfe von den Beinen zog, griffen ihre gebogenen Fußnägel noch einmal nach mir. Lange hatte ich die häutigen Schaufeln des Tieres gehalten und mit dem Zeigefinger über die hellen Innenflächen gestrichen, die meinen so ähnlich waren. Die furchige Haut eine Karte, mit der man den Weg durch die Tunnel fand. Über die Schnauze stellte ich ein Teelicht. Eine Schachtel Streichhölzer ließ ich unangetastet in meiner Brusttasche.

Die geschlossene Kiste an den Unterleib gedrückt, lehnte ich an der Kachelwand der Mädchentoilette und wartete, bis die andern fragten, was drin sei. Auf den Deckel hatte ich ein griechisches Kreuz gemalt. Teresa kam zu mir geschlendert und fragte, warum da ein Pluszeichen draufstehe. Ich sagte, dass sie lieber fragen solle, was drin sei. 20 Pfennig. Dann hob ich den Deckel, klemmte ihn mir unter das Kinn, schob das zu Boden gerutschte Teelicht wieder zur Nasenspitze, nahm das Geld und steckte es zu den Streichhölzern in die Brusttasche. Für 50 Pfennig konnte man den Wurf in die Hand nehmen. Dann bot ich ihn an wie einen zweiten Schuh, den man jetzt noch anprobieren müsse, um herauszufinden, ob es sich gut geht, dass man auch vorne nicht anstößt, dass man weit damit laufen kann.

„Eine Mark, wenn du ihn mit auf Klo nehmen willst.“

„Warum soll ich den blöden toten Maulwurf mit auf Klo nehmen?“

„Du kannst ihn dir unten reinstecken, das bringt Glück.“

„Der ist viel zu groß. Was für ein Glück denn überhaupt?“

„Mit der Schnauze kurz, das bringt Glück, hat meine Mutter gesagt. Dann wird man schön.“

Teresa rollte das schlaffe Knäuel von der rechten in die linke Hand, den Blick starr auf den bärtigen Unterbiss.

„Ist ja eh blind, kann gar nichts sehen bei dir da unten.“

„Der ist ja auch tot. Na gut, aber fünfzig Pfennig hab ich schon.“ Teresa drückte mir das zweite Geldstück in die Hand und ging in den Vorraum der Toilette.

„Und steck ihn nicht zu tief rein, das macht dich wieder hässlich.“, gab ich ihr noch mit auf den Weg. Über die niedrigen Spiegel des Vorraums sah ich, wie sich Teresas in den Hals fliehender Unterkiefer kurz öffnete.

 

+

 

Seit 2004 saß sie vor dem Fernseher und kreuzigte sich. Vom Flur aus sah ich wie ihre Schulterblätter schlugen, wenn die Akropolis durchs Wohnzimmer leuchtete. Nur stieg sie nie aus den Polstern auf. Sie stemmte die Handgelenke nah an ihr Becken, und raffte sich auf. Der Zug würde bald beginnen.Wir standen aufgereiht wie unsere Portraits auf der Kommode im Flur. Sie fiel aus dem Wohnzimmer und fuhr mit ihren faulen Händen kurz über die Köpfe meiner Brüder, drei staubige Rahmen, und zog mir die breite Krempe hart in den Nacken. Der Filzhut hing mir jetzt bis in die albtraumgekämmten Augenbrauen.

„Schön bayerisch.“, fand sie. Dabei nahm sie das e gleich noch mit. Bayern war für meine Mutter das gelobte Land und warum sie sich gleich nach Weihnachten hinsetzte und an unseren Kostümen nähte, anstatt meinen Vater zu verlassen, uns im Rhein zu ertränken und endlich wegzugehen, wir wussten es nicht. Wir wussten es nicht und darum zogen wir uns jedes Jahr still die von ihr genähten Verkleidungen über, liefen durch die Kölner Straßen, sammelten so viele Süßigkeiten wie wir tragen konnten und brachten die Kamellebeutel in ihre Nähstube.

In Bayern lag Otto, aus Bayern kam Otto. Meine Mutter sprach häufig von Otto, der irgendwann Deutschland verließ, um König von Griechenland zu werden. König Otto hat viel für uns getan. Dass er viel für uns getan habe, sagte sie, als wir den Eurovision Song Contest gewannen, fast, und das in Istanbul. Als das Olympische Feuer wieder in Athen ankam. Als wir die Europameisterschaft gewannen, und ich fürchtete, dass sie bald auch noch ein Foto von Otto Rehhagel auf die Kommode stellen würde. Ich würde dann weiter nach hinten rücken.

Ich nahm die Flöte aus dem Mund, um sprechen zu können. „Ich will keinen Hut, ich will die Perücke, die blonde. Die Blonden kriegen immer mehr.“ Sie nahm die Mantelschnur und zog mir einen Doppelknoten an den Hals. Den roten Radmantel hatte sie zwischen zwei zu kürzenden Hosen genäht. Sie hängte ihn mir um, als würde sie mich gleich an den Karneval verheiraten, und der wäre schließlich ein guter Fang. Dann steckte sie mir die geschwisterzernagte Blockflöte in den Mund. An der Flöte hing eine mit Paketschnur an das letzte Loch gebundene Maus aus Hartgummi.

Meine Brüder klemmten in ihren Mauskostümen fest, in denen sie den Hausflur heruntergezogen wurden. Ich zog die Flöte wieder aus dem Mund. „Das sind keine Mäuse, die ich fange.“, beschwerte ich mich über ihre Verkleidung. „Ich fange Ratten.“ Meine Mutter hielt an, schaute ihre drei Kostüme an, ließ den Blick kurz auf mich fallen. Dann trat sie aus dem Hausflur auf die grölende Straße.

„Aber das Märchen –“, begann ich noch, doch sie griff schon nach meiner Jacke und zog mir den Reißverschluss feste ins Kinn. „Dann ändern wir das Märchen eben.“

Die Flöte wieder zwischen den Zähnen schob sie mich vor ihre Füße, nahm meine drei Brüder wieder an die Hände und befahl uns loszulaufen und nicht loszulassen.

Wir drückten uns über den Chlodwigplatz, dann durch eine Seitenstraße, ich kannte den Weg. Eine graue Maus an der rechten, eine weiße und eine braune Maus an der linken Hand riss sie ihre Söhne durch eine Reihe Blauer Funken, dann eine Gruppe betrunkener Marienkäfer, die so fett waren, dass sie sofort sterben mussten, würden sie auf den Rücken fallen. Ich wünschte es mir. So stolperten ich und meine Brüder unter ihrer Achsel über den Kirchplatz. Die Trommelschläge im Nacken beeilten wir uns.

Wir stellten uns an den Streckenabschnitt auf dem Severinskirchplatz, hinter uns das bronzene Schokoladenmädchen mit ihrer geöffneten Pralinenschachtel und vielleicht würde sie bald einmal fort sein und durch die Welt laufen. Vor uns die Kameras. Da wo der WDR filmte, war die Ausbeute groß. Als wir ankamen, waren die Reihen schon geschlossen. Die Menge eine dicht geknüpfte Ellbogenkette, die sich die Stadt umgelegt hatte.

Sie riss mir den Reißverschluss wieder aus dem Kinn, nahm mir die Jacke ab, damit man meinen Radmantel gut sah und schob mich mit einem leeren Beutel in die vorderste Reihe. Meine Brüder stellte sie links und rechts von mir auf. Wir würden lange hier stehen. Ich fror und blickte mich nach ihr um, aber sie ließ sich von den bunten Uniformen wieder in den Hintergrund schieben. Sie war ja ganz unverkleidet, die falsche Märchenerzählerin, und die Männer zwischen uns meinten es ernst mit ihrem Karneval.

Amüsiert begann ein ununterscheidbares Lappenclownpaar hinter mir an meinem Kostüm zu ziehen. „Dürfen wir da mal naschen?“, lachte der Rechte. An meinem Radmantel hingen mindestens dreißig weiße Schaumzuckermäuse, die sie mit rotem Garn festgenäht hatte. Die beiden angetrunkenen Clowns begannen mir die Mäuse vom Körper zu zupfen, um sie mit Kölsch verdünnt runterzuschlucken.

Mit dem ersten Kreischen der Piccoloflöten und Xylophone ließen sie von mir ab, der rechte Lappenclown spannte einen regenbogenfarbenen Schirm auf, drehte ihn um und hielt ihn über unsere Köpfe. Ich schaute nach oben in den verkehrten Schirm und hörte bald den süßen Regen prasseln. Der Februar fuhr an mir vorbei und ich sah meinen Brüdern dabei zu, wie sie die billigsten Süßigkeiten  aus den Furchen der Pflastersteine kratzten. Manche Kaubonbons hatten schon ihr Papier verloren. Sie steckten trotzdem alles zuversichtlich in ihre Beutel und ich war ein bisschen gerührt. Fleißige kleine Gastarbeiterkinder.

Zitternd drehte ich mich um, suchte nach dem Mantel auf dem Arm meiner Mutter. Ich fand sie nicht in dem Kostümwald, der mit schunkelnden Kronen in den Kamellehimmel griff. Bis zum Hals stand ich in oberschenkelhohen Stiefeln und sammelte nun selbst plattgestampfte Kaubonbons aus den Schatten der Ellbogenäste, die im Takt der Trommeln um sich stießen. Die Xylophone klirrten, die Piccoloflöten schrien, dass ich meine Zähne fest aufeinanderpressen musste, als könnte ich so mein Trommelfell verschließen. Die zwei Lappenclowns schoben sich ein wenig nach rechts. Der Linke schlug unermüdlich seine pinken Plastikkastagnetten in die Hände und als ich mich wieder bückte, um nach einem Topfschwamm zu greifen, die dutzendfach über die Menge geflogen kamen, sah ich meine Jacke an der Bordsteinkante kleben. 

Der rechte Clown stampfte zum Paukenschlag auf ihr herum. Statt nach dem Schwamm griff ich nach seiner fetzigen Haut und riss die erste stoffene Schuppe von seinem Knie, dann eine weitere und noch eine. Ich riss und riss bis der mit schwitzendem Weiß umrahmte Mund zu fluchen begann und mich mit dem freigezupften Knie noch vorne stieß. Rücklings fiel ich in den mausenen Körper meines Bruders und er war wohl gleich tot als das erste Rad über ihn fuhr.

Feivel, der Mauswanderer.

Die Stiefel stoben auseinander, die Ellbogenkette riss, die beiden Lappenclowns waren verschwunden, ihr buntes Sammelinstrument lag noch da. Ich griff in die schirmgefangenen Kamellen und stopfte so viele ich konnte in meinen Beutel. Dann zog ich meine Jacke aus der Bordsteinkante und begann sie mit einem der geworfenen Topfschwämme von den Tritten zu befreien.

 

+

 

Ich träumte immer wieder von den beiden Lappenclowns, wie sie an mir hingen und mir die Schaummäuse vom Körper fraßen. Aber es war nicht ihre verlaufene Schminke, die mich aufwachen ließ, nicht das Schmatzen, wenn sie einen Bissen von meinem Kostüm rissen und zerkauten, nicht das enervierende Kastagnettengeklapper. Bei all dem starrte ich sie unentwegt an und versuchte zu erkennen, ob sie Männer oder Frauen waren. Aber ihre Kostümköpfe, ihre ganzkörperne, unförmige Verkleidung verriet sie nicht. Und so schüttelte ich sie, bis alle Lumpenquadrate von ihnen gefallen waren und das bunte Stofflaub mir weich um die Beine lag. Ich sank immer tiefer in die sumpfende Kleidung ein und sah noch, dass da, wo ihr Geschlecht sein sollte, ein Topfschwamm hing, ein nie benutzter gelber Topfschwamm. Dann ertrank ich und trat mich wach.

 

+

 

Bis zum Ende der zweiten Pause hatte ich neunzehn Mädchen die Schönheit geschenkt. Die Latzhose zog mir an den Schultern, schwer von den Taschengeldern, die die Mädchen mir hastig in die Hand drückten, bevor sie den Maulwurf aus seinem Wattebett hoben.

Von dem Gewicht meiner Tat nun selbst überzeugt, nahm ich gerade das Tier in die Hand, um den Brauch zu erfüllen, da stürmten zwei Jungen aus der Vierten auf mich zu, drückten mich zu Boden, dass ich in den kartonen Sarg fiel, rissen mir das Tier aus der Hand und hielten es sich abwechselnd vor die dünnen Becken. So standen sie über mich gebeugt. Ich presste meine Hände auf die Tasche meiner Latzhose. Ich fühlte meinen Atem durch die Pfennigstücke im Brustkorb gestaut. Ich starrte in die Becken der beiden und wartete bis die Freude der Jungen erschlaffte und sie das Säugetier mit einem Wurf gegen die Kacheln der Toilettenwand schleuderten. Dann griff ich nach der Schaufel, fühlte die winzige Tunnelkarte an meinen Fingern und zog das schwarze Knäuel zu mir. Mit der linken Hand griff ich nach der pfennigverbeulten Streichholzschachtel. Dann legte ich den Maulwurf zurück auf seinen Watteberg, die Wände des Kartons waren zur Seite weggebrochen. Mit zitternden Händen schob ich die Schublade auf, griff in die oberste Reihe und stieß den Zündkopf wieder und wieder gegen die schmale Reibefläche der Schachtel.

Ein roter Fleck klebte noch Wochen dort an den Kacheln und die Jungen rotzten ihre milchigsten Schleimklumpen auf den Boden davor. Die Mädchen aber gingen ehrfürchtig an dem Mahnmal vorbei, bevor sie sich über die niedrigen Becken beugten und so lange in die Spiegel schauten, bis ihnen die angelehnten Hüftknochen schmerzten und die dünne Haut dazwischen zu frieren begann.

 

 

Sonja Lewandowski lebt und arbeitet in Köln.

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